Virus trifft autoritären Charakter

Wenn man den Menschen in Aussicht stellt, für eine Zeit lang die Wohnung nicht verlassen zu können ist es normal, dass sie sich Gedanken machen, was für sie in der Zeit der Abgeschiedenheit unentbehrlich ist und entsprechend angesammelt werden muss. Was die Menschen für diese Zeit als wichtig ansehen, ist im Ländervergleich äußerst interessant. Während die Franzosen guten Rotwein „hamstern“, die Holländer nicht auf ihre Kartoffelchips verzichten möchten, legen in Deutschland die Menschen Klopapier auf Vorrat an, so viel, dass diese Ware zeitweise ausverkauft ist und portioniert werden muss.

Im Folgenden soll ein Erklärungsversuch für dieses Phänomen angestellt werden.

Als erstes drängt sich auf, dass es etwas mit der Kindheit der Klopapierkäufer zu tun haben könnte und man muss Sigmund Freud bemühen.

Anale Phase

Nach Sigmund Freud kommt in der psychosexuellen Entwicklung des Kindes im Alter von etwa 2 bis 3 Jahren nach der oralen die anale Phase. Das Kind betrachtet als erogene Zone vor allem die Ausscheidungsorgane, die ihm Lust- und Unlusterfahrungen durch das Hergeben und Zurückhalten der Ausscheidungsprodukte ermöglichen.

Zu Beginn der Phase ergibt sich der Lustgewinn durch das Ausscheiden des Stuhls, dann im weiteren Verlauf erlebt das Kind auch Lust an der Zurückhaltung seiner Ausscheidungsprodukte. Hierbei pendelt es zwischen Loslassen und Zurückhalten, der Prozess kann auch spannungsgeladen sein.

In der analen Phase werden zum ersten Mal seitens der Erziehungsberechtigten und der sozialen Umgebung bei der Reinlichkeitserziehung Forderungen an Sauberkeit und Zurückhaltung an das Kind gestellt und die gesamte Thematik des Gebens und Nehmens behandelt. Das Kind erlebt, dass bestimmte Dinge, die von ihm selbst erzeugt wurden, für andere Personen als wichtig erachtet werden. Im Fall der Ausscheidung kann das Ganze von der Umwelt abgelehnt oder sogar sanktioniert werden. Werden die Ausscheidungsprodukte von den Bezugspersonen des Kindes negativ belegt, so kann das beim Kind zu Schamgefühlen und Ekel vor dem eigenen Körper führen.

Der Zeitpunkt der Darmentleerung wird von den Bezugspersonen des Kindes als „gut“ oder „böse“ klassifiziert, je nachdem, ob die Bedürfnisse gemäß den Vorstellungen der Bezugspersonen oder des Kindes befriedigt wurden. Deshalb wird die anale Phase auch als Ursprung der Konflikte um Macht und Kontrolle angesehen und stellt den Anfang für die Bildung des „eigenen Willens“ dar. Dabei lernt das Kind dann, dass es sowohl seinen eigenen Willen durchsetzen als auch sich einem fremden Willen beugen kann. Das Kind wird sich in der analen Phase zum ersten Mal über die Thematik des Hergebens und Behaltens bewusst.

In der analen Phase und parallel dazu verlaufenden Reinlichkeitserziehung kommt es zu einer ständigen Auseinandersetzung des Kindes mit der äußeren Umgebung. Dabei entwickelt sich das Ich als Vermittler zwischen dem Es, Über-Ich und der äußeren Realität.

Durch die Instanz des Ich verfügt das Kind am Ende der analen Phase etwa nach dem dritten Lebensjahr über erweiterte Gedächtnis- und Sprachfähigkeiten, einer konstanten Persönlichkeit und der Fähigkeit, nach dem Realitätsprinzip handeln zu können. Dem Kind ist es nach der analen Phase möglich, den Triebansprüchen des Es wahlweise nachzugeben oder diese zu unterdrücken.

Soweit der normale Verlauf.

Läuft etwas in der analen Phase nicht richtig ab, wie beispielsweise eine rigide Reinlichkeitserziehung, ist es möglich, dass der Mensch später auf die anale Phase fixiert ist und in kindliche Verhaltensmuster zurückfällt.

Sigmund Freund bezeichnet das als den „analen Charakter“. Er schreibt dieser Persönlichkeit Merkmale zu, wie übertriebene Pünktlichkeit, Ordnung, Sparsamkeit bis zum Geiz, Eigensinn und Genauigkeit und zwangsartige Verhaltenseigenschaften. Also überwiegend Charakterzüge, die sozial anerkannt sind und in Deutschland als preußische Tugenden wie Sauberkeit, Pünktlichkeit und Ordentlichkeit gepaart mit Leistungsbereitschaft und der Bereitschaft zur Pflichterfüllung hoch bewertet werden.

Hier besteht immer die Gefahr einer Deformierung der hier angeführten Charaktereigenschaften, bei der sich Sparsamkeit bis zum Geiz steigern und Eigensinn über Trotz in Wut und Rachsucht übergehen kann.

Bezogen auf die Sauberkeitserziehung entwickeln sich die analen Charakterzüge sowohl aus einer Widerstandshaltung heraus, als auch aus einer Gehorsamshaltung den Erziehungspersonen gegenüber. So wird Sparsamkeit als Fortsetzung analer Verhaltung betrachtet und Ordentlichkeit als Gehorsam gegen Ansprüche der Umwelt gesehen. Sauberkeit, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, sowie Eigentumsbewusstsein stellen eine Verschiebung des Einverständnisses mit den Umweltanforderungen dar.

Störungen in der analen Phase können auch die Ursache von Objektbeziehungsstörungen werden, als Ergebnis der Sauberkeitserziehung, als deren Folge es zu einem Lustverzicht aus Liebe oder aus Angst vor ihnen kommen kann.

Bei der Suche nach einer Erklärung für das Phänomen der Hamsterkäufe von Klopapier in Deutschland in schwierigen Zeiten könnten auch die Studien zum autoritären Charakter weiterhelfen.

Autoritärer Charakter

Ende der 1940er Jahre suchten in den USA Theodor W. Adorno und einige andere Psychologie- und Sozialwissenschaftler nach den Ursachen für die Hinwendung zu Autoritarismus und Antisemitismus.

Den modernen Antisemitismus und Autoritarismus führte Adorno vor allem auf die Struktur des Wirtschaftssystems zurück, die mit ihrer Standardisierung der Warenwelt und auch der Konformismus, der erwartet wird, um sich in der ökonomischen Arbeitswelt behaupten zu können, das Individuum wesentlich prägt. Dies führt dann zu einer Entfremdung der Menschen von der eigenen Arbeit und von den Waren, die sie umgeben.

Der Mensch in der modernen Gesellschaft ist nur noch zum bloßen Anhängsel der Maschine, die er zu bedienen hat, geworden. Der Einzelne lebt in einer Situation der Erfahrungslosigkeit, die kompensiert wird durch die Pseudo-Erfahrungswelt der Waren- oder Dingwelt, in der sie durch Konsum oder leere Vergnügungen einen Genuss einhandeln, der aber letztlich doch ein standardisiert produzierter, ein entfremdeter, ist. Autoritäre und antisemitische Ideologien entwickeln dadurch eine Verführungskraft, da sie einen Ausweg aus dieser Erfahrungslosigkeit anbieten, eine Scheinspontaneität, sie erscheinen als Gegenmittel für die Leiden, die die rationale Zivilisation erzeugt.

Ein wichtiges Arbeitsfeld für die damalige Forschung waren die „Studien zum autoritären Charakter“.

Für die Studien wurde ein Fragebogen entwickelt, der typische Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften der autoritären Persönlichkeit erfassen sollte. Auch sollten allgemeine antidemokratische Tendenzen bestimmt werden, die langfristig auch zur demokratischen Erziehung beitragen würden.

Die ausgewählten Persönlichkeitszüge entsprechen weitgehend den von Erich Fromm aus psychoanalytischer Sicht erläuterten Kennzeichen des autoritären Charakters.

Der Fragebogen der Studie mit der F-Skala (Abkürzung für Faschismus-Skala) enthält neun Bereiche:

  • Konventionalismus. Starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes.
  • Autoritäre Unterwürfigkeit. Unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe.
  • Autoritäre Aggression. Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können.
  • Anti-Intrazeption. Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen.
  • Aberglaube und Stereotypie. Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals, die Disposition in rigiden Kategorien zu denken.
  • Machtdenken und „Kraftmeierei“. Denken in Dimensionen wie Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer-Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit.
  • Destruktivität und Zynismus. Allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen.
  • Projektivität. Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt.
  • Sexualität. Übertriebene Beschäftigung mit sexuellen „Vorgängen“.

 

Auf einer mehrstufigen Skala ist die Zustimmung oder Ablehnung dieser Aussagen anzugeben (Zustimmung: gering, mittel, stark oder Ablehnung: gering, mittel, stark). Die F-Skala soll ein Muster bzw. Syndrom von antidemokratischen Einstellungen und Persönlichkeitseigenschaften diagnostizieren und Hinweise auf das faschistische Potential geben. Eine Zustimmung zu den Aussagen weist auf eine rechtsradikale autoritäre Persönlichkeit hin.

Die Wissenschaftsgruppe führte parallel dazu zahlreiche Erhebungen durch und beschrieb charakteristische Unterschiede zwischen ausgewählten Personengruppen und große Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen der F-Skala und den Skalen Antisemitismus, Ethnozentrismus und Konservatismus. Außerdem bestand eine Beziehung zu dem sozioökonomischen Status und der Schulbildung bzw. Intelligenz der Befragten.

Mit dem Fragebogen der Studie mit der F-Skala gelang es eine Skala zu entwickeln, die Vorurteile misst, ohne diesen Zweck zu zeigen und ohne Minderheitengruppen zu erwähnen. Auch konnte damit ein Instrument geschaffen werden, mit dem die in der Charakterstruktur begründete Anfälligkeit des Individuums für den Faschismus beurteilt werden kann.

Die ursprüngliche F-Skala sollte nicht eine einzige und homogene Dimension erfassen, sondern ein Muster wiedergeben von ähnlichen, häufig zusammen auftretenden Merkmalen. So kann von einer typischen autoritären Persönlichkeit auch dann gesprochen werden, wenn nicht alle Merkmale vorhanden und gleichmäßig ausgebildet sind.

Meist reicht schon ein geringer Anlass der das Erregungspotential vieler Menschen explodieren lässt. Die vielleicht berechtigte kollektive Aufregung kann dann schnell zunehmen, während der Realitätsbezug abnimmt. Aus dem eigenen Wunsch kann Neid entstehen, andere erhalten etwas, was eigentlich mir zusteht, dann kann aus der empfundenen Ungerechtigkeit schnell schein-legitimierter Hass werden. Der Hass ist die „gerechte“ Reaktion auf die ungerechte Aktion bzw. Verhältnisse bei der auch Gewalt angewendet werden darf. Hinzu kommt eine Bereitschaft zur Identifizierung mit den Menschen, die zur eigenen Gruppe z.B. „wir Deutsche“ gehören und gleichzeitig als mächtig angesehen werden.

Virus trifft in Deutschland auf autoritären Charakter

In Europa gibt es über Jahrhunderte eine lange Tradition, Krankheiten und Epidemien politisch zu missbrauchen. Genauso gibt es in der Geschichte Europas immer wieder den Versuch, einzelne Wissenschaftler als Experten einer bestimmten Disziplin vor den Karren zu spannen und den politischen Eliten das geistige Material zu liefern, mit dem sie ihr fragwürdiges Menschen- und Weltbild flächendeckend durchsetzen können. Wenn dann die Medien einsteigen und das Ganze noch pushen, dann findet es schnell Eingang in die Köpfe der autoritären Charaktere.

Es regt sich kein Unmut, von Widerstand ganz zu schweigen, wenn z.B.

  • Grundrechte, die über Jahrhunderte hinweg erkämpft und seit Jahrzehnten hochgehalten wurden, mit einem Streich zumindest zeitweise verschwinden.
  • die zur Krise deklarierte Situation auch für umfangreiche Gesetzesänderungen genutzt wird, die der Bundesregierung weitgehende Freiheiten einräumt, am Bundesrat vorbei und ohne Mitwirkung des Bundestages eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festzustellen und daraufhin Maßnahmen zu ergreifen.
  • viele Freiheiten, die uns das Grundgesetz einräumt, abgeschafft werden und die verbundenen Einschränkungen kaum hinterfragt oder auf ihre Gefahren für die Freiheit hin untersucht werden. Stattdessen wird jeder, der auf seiner Freiheit beharrt, zum unverbesserlichen Egoisten erklärt, der sich unsolidarisch verhält.
  • komplette Teile der Wirtschaft sowie der Sozialkontakte eingestellt werden und das auf einmal normal und sogar unbedingt notwendig sein soll.
  • zu einem umfassenden Versammlungsverbot sowie einer Einschränkung der Freizügigkeit sich die Einschränkung der körperlichen Unversehrtheit gesellt.
  • namhafte Staatsrechtler die bereits ergriffenen Maßnahmen der Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote unter Androhung von Strafen als verfassungswidrig kritisieren.
  • ein Übergewicht der Exekutive entsteht und immer mehr Macht sich an wenigen Stellen konzentriert. Ist Angst und Panik erst einmal geschaffen, sehnen sich die Menschen geradezu nach dieser Ordnung von „oben“.
  • die Rede von Einsätzen der Bundeswehr im Inland ist, die zunächst der Seuchenbekämpfung und logistischen Zwecken dienen soll.
  • eine Verschärfung der Überwachung zur Debatte steht.
  • Gewerkschaften mit Unternehmen um Null-Runden kungeln und Kurzarbeit im Öffentlichen Dienst einführen wollen, ohne die Mitglieder einzubeziehen geschweige denn, sie dazu zu befragen.
  • der unbeliebte, weil schlecht bezahlte Verkäufer- oder Pflegearbeit zum Heldenjob hoch gelobt wird.
  • systemrelevanten Menschen bzw. Berufe benannt werden.
  • „Risikogruppen“ benannt werden, um sie zu schützen muss die ganze Bevölkerung in Isolation gehalten werden.
  • Kinder nicht als „unsere Zukunft“, sondern als todbringende Virenüberträger deklariert werden, deren Aufenthalt in Kindertageseinrichtungen nicht mehr möglich sein darf.
  • die Denunzierung von „Regelverletzern“ zu nimmt, Ordnungskräfte gerufen werden, wenn das Abstandsgebot nicht eingehalten oder mehr als 2 Personen in Kommunikation und Interaktion treten. Selbst mit wenig Selbstwert ausgestattet, können die Denunzianten sich einmal groß fühlen, indem sie andere vorführen und erniedrigen. Auch können sie dem Mechanismus der Projektion folgen, indem sie eigenes, das sie nicht leben dürfen und unterdrücken müssen auf andere projizieren.
  • jemand eingesperrt wird. Die meisten Menschen ordnen sich derzeit gehorsam unter, wenn auch widerwillig. Es entsteht eine Dissonanz, die ein Ventil sucht. Man projiziert das eigene Ungelebte auf andere, bekämpft gewissermaßen sich selbst im Anderen, wenn man die Fehler anderer aufzeigt oder sanktioniert.
  • sich fast alle vor kurzer Zeit noch über die Einführung eines Tempolimits beschwerten, da dies ein zu großer Einschnitt in die Privatsphäre darstelle, so ist die Ausgangsbeschränkung für alle heute fast ein Muss.
  • Virologen zu Kummerkastenonkel werden, deren Zuhörer an ihren Lippen kleben und von ihnen erwartet, dass sie ihnen in jeglichen lebenspraktischen Fragen beistehen und Problemlösungen anbieten.
  • Landesvätern und -müttern in öffentlich-rechtlichen Medien wöchentliche Sprechstunden eingeräumt werden und Regierungsmitglieder pausenlos an die Bevölkerung appellieren, ihr bei Verstößen drohen und Solidarität einfordern

und

die Bundesregierung sich als hart durchgreifende Hand darstellt, die in diesen Zeiten eine starke Führung im unruhigen Fahrwasser der Krise sei und die steigenden Umfragewerte der Regierungsparteien zeigen, dass das Bemühen fruchtet.

 

Nun scheint ein wenig helleres Licht auf das Phänomen zu leuchten, dass in Deutschland die Menschen in Krisenzeiten Klopapier auf Vorrat anlegen und zwar in so einem Umfang, dass diese Ware zeitweise ausverkauft ist und portioniert werden muss.

Während die Franzosen guten Rotwein „hamstern“ und die Holländer nicht auf ihre Kartoffelchips verzichten möchten…

 

 

Quellen: Bücher-„Studien zum autoritären Charakter“, / „Dialektik der Aufklärung“ und weitere Schriften von Sigmund Freud, Erich Fromm, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Klaus Theweleit
Bildbearbeitung: L.N.