Wenn der Staat nicht mehr gestalten kann

Von Susanne Wixforth

Die fehlgeleitete Wettbewerbsdoktrin der EU-Kommission verhindert Infrastrukturprojekte, zerstört Versorgungssysteme und zwingt die öffentliche Hand in oft schlechte Kooperationen mit Privaten. Um den sozialen Charakter, die demokratischen Prinzipien der EU und die europäische Integration zu verteidigen, muss dem Abbau staatlicher Leistungen entgegengewirkt werden.

Carillion war bis zu seiner Insolvenz Anfang des Jahres die zweitgrößte englische Baufirma. Sie beschäftigte weltweit 43.000 Mitarbeiter, 20.000 davon in Großbritannien. Carillion baute aber nicht nur, die Firma verwaltete auch Gebäude wie Gefängnisse und die Abhörzentrale des britischen Außenministeriums GCHQ, war verantwortlich für Krankenhäuser und die tägliche Versorgung zehntausender Schulkinder.

Während für Unternehmen der Privatwirtschaft klar ist, wie bei Zahlungsunfähigkeit vorzugehen ist, sieht das anders aus bei Unternehmen, die Dienste im Interesse der Allgemeinheit anbieten. So sicherte die sonst neoliberal agierende konservative Regierung bei Carillion sofort zu, für die ausstehenden Zahlungen einzuspringen. Dies erinnert an die britische Bankenrettung, die letztlich auch von den SteuerzahlerInnen finanziert wurde.

Der Klassiker des Kapitalismus: Gewinn privatisiert, Verlust sozialisiert

Um das unternehmerische Risiko zu eliminieren, reicht es also, öffentliche Infrastruktur bereitzustellen. So funktioniert es nicht nur in Großbritannien, sondern ebenfalls in Kontinentaleuropa. Im Trend liegen Public Private Partnerships (PPP), bei denen der Gewinn privatisiert, der Verlust aber sozialisiert wird: Dementsprechend funktioniert auch der sogenannte Juncker-Plan mit seinem Europäischen Fonds für strategische Investitionen.

Dieses Modell ist aus ArbeitnehmerInnensicht inakzeptabel. Nicht nur, dass der Faktor Arbeit nach wie vor in der EU am stärksten besteuert ist, Beschäftigte tragen auch die Hauptlast beim Bankrott von Unternehmen, die Dienstleistungen im öffentlichen Interesse erbringen. Die SteuerzahlerInnen sind es auch, die bei jeder Privatisierung von vormals staatlicher Infrastruktur enteignet werden. Lukrative Monopol- und Oligopol-Unternehmen – Autobahnbetreiber, Energiekonzerne, Wasserwerke, Ölraffinerien, Gaspipelines – werden privatisiert, die Dividenden fließen in die Taschen der AktionärInnen und nicht mehr ins Bundesbudget. Bei Problemen jedoch haften die SteuerzahlerInnen, da die Versorgung lebenswichtiger Dienstleistungen nicht ausfallen darf.

Die Politik verliert allmählich die Macht, gesellschaftlich relevante Bereiche der Wirtschaft zu steuern. Je stärker Privatunternehmen Schlüssel- und Versorgungsindustrien dominieren und damit Profit machen wollen, desto weniger sind wirtschaftspolitisch wichtigen Entscheidungen demokratisch legitimiert.

Gleichzeitig werden aber ambitionierte Infrastrukturprojekte der öffentlichen Hand immer mehr erschwert. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Renovierung des Congress Centers Hamburg. Das teilweise unbenutzte, veraltete Kongresszentrum sollte modernisiert und einer modernen Nutzung für kulturelle Veranstaltungen und Messen zugeführt werden. Da sich keine privaten Investoren fanden, die für die Erneuerung der Gebäudestruktur einen Betrag in Höhe von 194 Millionen aufbringen wollten, entschloss sich die Stadt Hamburg, dies mit öffentlichen Geldern zu tun. Diese Investition ist aufgrund einer EU-Regelung nur nach einer beihilfenrechtlichen Genehmigung möglich. Die aus Sicht der Hamburger Bürgerschaft sinnvolle Investition für Kulturveranstaltungen und Abhaltung von Messen musste sich einem vier Jahre andauernden peniblen Beihilfeverfahren unterziehen.

Wettbewerbsrecht zulasten der Mitgliedsstaaten

Während Regierungen von Drittstaaten ihre Entscheidungen zur öffentlichen Infrastruktur frei von beihilferechtlichen Verfahren aus rein wirtschaftspolitisch-strategischen Überlegungen treffen, ist dies innerhalb der EU nicht möglich. Hier prüft die EU-Kommission mit fragwürdiger demokratischer Legitimation, ob sozial- und gesellschaftspolitische Überlegungen die Errichtung, Verbesserung und Restrukturierung öffentlicher Infrastruktur rechtfertigen oder ob eine verbotene Beihilfe vorliegt.

Somit beschränken wettbewerbsrechtliche Instrumente der EU die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten. Dies betrifft nicht nur die Versorgung mit Energie und Wasser, das Angebot an öffentlichem Verkehr, sondern auch Justiz- und Gefängnisverwaltung, Parkraumbewirtschaftung, Flughafenkontrolle und Luftverkehrssicherung. Bis heute ist es nicht gelungen, auf europäischer Ebene eine Ausnahme für „Dienste im allgemeinen (wirtschaftlichen) Interesse“ zu schaffen.

Die EU-Wettbewerbsregeln beschäftigen sich ausschließlich mit der Frage von Wettbewerbsverzerrung und Marktmacht sowie mit den Auswirkungen auf das VerbraucherInnenwohl. Kein Kriterium sind die ökonomischen Folgen einer Fusion für Arbeitsplätze. Staatlich erbrachte Gemeinwohlaufgaben müssen sich der strengen Beihilfenkontrolle unterziehen.

Großbritannien als Vorreiter der Privatisierung vormals typischer Staatsaufgaben ist zum „worst practice“-Fall geworden. Dennoch wird es von vielen anderen Mitgliedstaaten der EU als praktisches Geschäftsmodell gesehen, die „Schuldenbremse zu ziehen2, die sogenannten „Stabilitätskriterien“ einzuhalten und sich damit gleichzeitig aus der politischen Verantwortung für die Qualität von Dienstleistungen im öffentlichen Interesse zu stehlen.

„Politik der Abzockerei-Privatisierung“

Der Fall des Unternehmens Carillion steht nicht nur für einen gescheiterten Konzern, sondern ist Symbol für den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur und als Warnung vor der Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von waghalsigen und unsozialen Geschäftsmodellen. Labour-Oppositionsführer Corbyn fordert zu Recht jetzt: „Die Politik der Abzockerei-Privatisierung muss ein Ende haben.“

Während die neu entstehenden Wirtschaftsmächte mit riesigen Staatsfonds Infrastruktur auf der ganzen Welt kaufen, behindert die fehlgeleitete Wettbewerbsdoktrin der EU-Kommission Infrastrukturprojekte, zerstört funktionierende Versorgungssysteme und zwingt die öffentliche Hand in Kooperationen, die zu ihren Ungunsten ausgestaltet sind, oder zur Privatisierung. Dieser Verlust an Gestaltungskraft wird als Verlust demokratischer Teilhabe der BürgerInnen wahrgenommen. Um den sozialen Charakter, die demokratischen Prinzipien der EU und die europäische Integration zu verteidigen, muss dem systematischen Abbau staatlicher Leistungen entgegengewirkt werden.

Strategisches Eigentum: Energieversorgung

Der DGB hat mit seinem Marshall-Plan für Europa ein Konzept vorgelegt, das geeignet ist, die dringend notwendigen Infrastruktur-Initiativen in Europa einzuleiten. Anders als der Juncker-Plan sieht er aber die Beteiligung von Privatkapital und Unternehmen nicht als Voraussetzung vor – um zu vermeiden, dass die Profite privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. Die Neuausrichtung europäischer Wirtschaftspolitik muss auf der Gründung von strategischem Eigentum statt dem Slogan der „schwarzen Null“ basieren. Nicht die Schuldenbremse muss Verfassungsrang erhalten, sondern strategisches Eigentum wie Wasser und die Energieversorgung.

 

 

 

Quelle: http://gegenblende.dgb.de/

Bild: pixabay cco