Wer ist hier «Krisengewinner»? – Auswirkungen von neoliberalem Staatsumbau und politischem Rechtsruck auf das Leben von Frauen in Deutschland

Von Alex Wischnewski

Deutschland gilt weitläufig als «Krisengewinner». Das liegt daran, dass es in Deutschland – im Gegensatz zu fast allen anderen EU-Mitgliedsstaaten – seit dem Krisenbeginn 2009 keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit gab, das Wachstum und die Exporte nach dem Krisenjahr 2009 erneut so erhöht werden konnten, dass deutsche Unternehmen Gewinne auf Rekordniveau erwirtschafteten und die 2009 explodierte Staatsverschuldung bereits ab 2011 wieder zurückgeführt wurde. Diese positive Entwicklung honorierten die Kapitalmärkte mit guten Ratings und niedrigen Zinsen, wodurch Deutschland seine Zinslasten zwischen 2010 und 2015 um über 280 Milliarden Euro senken konnte. Deutschland scheint daher tatsächlich sogar gestärkt durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen zu sein. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist jedoch nicht nur eine wachsende soziale Ungleichheit mit einer deutlich geschlechtsspezifischen Dimension, wie im Folgenden dargelegt wird.

Die Kehrseite dieser Entwicklung ist jedoch nicht nur eine wachsende soziale Ungleichheit mit einer deutlich geschlechtsspezifischen Dimension, wie im Folgenden dargelegt wird, sondern ebenso deren potenzielle Ausweitung auf ganz Europa durch einen unvollständigen Transfer des deutschen «Erfolgsmodells».1 Denn das deutsche Wachstum verdankte sich einem Exportüberschuss, der zwei sehr spezifische Gründe hatte. Zum einen hatten die Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen der Agenda 2010, die bereits Anfang der 2000er eingeleitet worden waren, zu einer starken Zurückhaltung bei der Lohnentwicklung in Deutschland geführt.2 Dadurch sanken die Binnennachfrage und die Importe, wohingegen die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte stieg. Zum anderen akzeptierten andere Länder, die höhere Löhne und somit auch eine höhere Binnennachfrage aufwiesen, das eigene Leistungsbilanzdefizit, das durch Importe zu ihren Ungunsten entstanden war. Es war also erst die Nachfrage anderer Länder, die das Versprechen der deutschen Wettbewerbsfähigkeit tatsächlich einlöste. Sie wirkte «wie ein mehrjähriges massives Konjunkturprogramm in Höhe von über vier Prozent des BIP».3 Im Umkehrschluss kann der Lohnsenkungs- und Austeritätskurs in anderen Ländern – der nicht zuletzt auf den Druck der deutschen Regierung zurückgeht – auch nur dann funktionieren, wenn Gläubiger wie Deutschland nun die Nachfragerolle übernähmen. Das war und ist jedoch nicht der Fall. Was folgte, sind Rezession und soziale Spaltung in vielen europäischen Nachbarländern.

1. Langfristiger Umbau statt Schocktherapie

Trotz der insgesamt positiven Leistungsbilanz, mit der Deutschland durch die Krise kam, explodierten die Staatsschulden infolge kurzfristig aufgelegter Konjunkturprogramme, was mit rigiden Sparvorgaben beantwortet wurde. Die ab 2010 umgesetzte Austeritätspolitik der deutschen Regierung erklärt jedoch nur einen Teil der sozialen Entwicklungen, die der Emanzipation von Frauen derzeit entgegenstehen. Bedeutend ist zudem der bereits in den 1980er Jahren unter einer konservativ-liberalen Regierung begonnene Um- und Abbau des Sozialstaates, der mit den sogenannten Agenda-Reformen der rot-grünen Regierungskoalition in den Jahren 2002 bis 2005 einen vorläufigen Höhepunkt fand. Nach Diana Auth spricht vieles «sogar dafür, dass der Wohlfahrtsstaat maßgeblich dazu beigetragen hat, die Wirtschaftskrise in Deutschland im Jahr 2009 zu verkraften».1 Um die aktuelle Situation von Frauen in Deutschland besser zu verstehen und darauf aufbauend Strategien für eine bessere soziale Gleichstellung der Geschlechter zu entwickeln, müssen daher jene Strukturen betrachtet werden, für die die Agenda 2010 sinnbildlich steht.

Die ersten zentralen Reformelemente waren Ende 2002 die Liberalisierung von Leiharbeit und die Ausweitung von geringfügiger Beschäftigung (sogenannte Minijobs), was den Ausbau atypischer Beschäftigung in den Folgejahren stark vorantrieb. Unterstützt wurde dies zudem von sozialstaatlichen Einschnitten. So wurde der Bezug des Arbeitslosengeldes, das vom vorhergehenden Einkommen abhängig und somit prinzipiell lebensstandardsichernd angelegt war, begrenzt und im Anschluss durch das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ersetzt.

Hartz IV wird jedoch nur gewährt, wenn kein Vermögen besteht und das Einkommen in dem neu geschaffenen Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft2 nicht zu hoch ist. Das ist insbesondere für viele Frauen ein Problem, die nun vom Verdienst des Partners oder Ehemannes abhängig sind.

Hartz IV bedeutet damit für die allermeisten einen klaren sozialen Abstieg. Seine Einführung hatte deshalb nicht nur Auswirkungen auf den erwerbslosen Teil der Bevölkerung, sondern wirkte und wirkt als Bedrohungsszenario tendenziell disziplinierend auf alle Erwerbstätigen. Zudem besagen neu eingeführte Zumutbarkeitsregelungen, dass nur noch sittenwidrige Beschäftigungen abgelehnt werden dürfen. Sonst drohen finanzielle Sanktionen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die formale Qualifikation einer oder eines Arbeitslosen wesentlich höher liegt als die für die Stelle notwendige oder ob die angebotene Stelle einen existenzsichernden Lohn garantiert.

Im Ergebnis setzte sich die Ideologie «Jeder Job ist besser als keiner» durch und sorgte dafür, dass zwar die Beschäftigung wuchs, jedoch die Reallöhne in Deutschland im Durchschnitt stagnierten. Auch der wirtschaftliche Aufschwung ab 2004 änderte daran nichts. Es entstand dauerhaft ein großer Niedriglohnsektor, in dem bis heute hauptsächlich Frauen vertreten sind. So bezogen 2014 insgesamt rund 27 aller weiblichen Beschäftigten einen Niedriglohn gegenüber 16 Prozent aller männlichen Beschäftigten.3

Als die Weltwirtschaftskrise Deutschland erreichte und die Wirtschaftsleistung Ende 2008 einbrach, sprang der Staat mit kurzfristigen Maßnahmen ein. Mit Bankenrettung, Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld ersetzte er die ausgefallene private Nachfrage durch Staatsnachfrage, um die Krise abzumildern.4

Obwohl Deutschland dafür Kredite aufnehmen musste und so die Schuldenquote anhob, gelang es auf diese Weise, eine eruptive Krisendynamik wie in anderen europäischen Ländern zu vermeiden. Das Ergebnis: Schon ab 2010 ging es mit der Wirtschaftsleistung wieder aufwärts. Birgit Sauer argumentiert, dass diese Krisenbewältigungsmaßnahmen von Beginn an eine «männliche Schlagseite» hatten.5 So arbeiten gerade in jenen Branchen, die aufgrund ihrer «Systemrelevanz» unterstützt wurden, überproportional viele Männer. Frauenarbeitsplätze im Dienstleistungs- oder Pflegebereich wurden hingegen nicht als systemwichtig eingestuft und für keiner oder nur weit geringerer staatlicher Subventionen würdig befunden. Es seien zudem «tradierte Geschlechterbilder, die nach wie vor Männer als Familienernährer und Frauen als Zuarbeiterinnen phantasieren und deshalb staatliche Unterstützungsleistungen eher in Männerbranchen fließen lassen».6

Trotz der von Beginn an relativ glimpflich verlaufenden Krise in Deutschland beschloss die deutsche Regierung rigide Sparvorgaben für Bund, Land und Kommunen. Das weitreichendste Element ist dabei die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse (Art. 109, 116, 143d GG). Sie besagt, dass der Bund ab 2016 neue Schulden höchstens in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes machen darf und für die Bundesländer ab 2020 eine Neuverschuldung gänzlich ausgeschlossen ist. Finanzminister Wolfgang Schäuble sorgte aber bereits im Jahr 2014 für eine «schwarze Null» im Bundeshaushalt (das heißt, es wurde keine neuen Schulden aufgenommen) und damit für eine Übererfüllung der Anforderungen der Schuldenbremse. Dies hatte zwei Effekte: Viele notwendige Investitionen in die öffentliche und soziale Infrastruktur werden seither nicht getätigt. Dort, wo weiterhin investiert wird, geschieht dies meist durch die Einbeziehung privater Unternehmen, da auf diese Weise die Schuldenregelungen für die öffentliche Hand umgangen werden können. Das hat weitreichende Folgen für den Zugang zu bezahlbaren Leistungen der Daseinsvorsorge, was zwangsläufig sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen stärker trifft. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nicht so sehr um einen radikalen Kurswechsel, sondern um eine Zuspitzung und Zementierung eines bereits lange Jahre anhaltenden neoliberalen Umbaus der sozialen Daseinsvorsorge.7

Mitte 2010 verabschiedete der Bundestag zusätzlich ein «Sparpaket», das Kürzungen in Höhe von über 80 Milliarden Euro bis 2014 vorsah, insbesondere im öffentlichen Dienst und bei den sozialstaatlichen Leistungen. Sowohl Rentenbeitrag als auch Elterngeld wurden für Empfänger_innen von Arbeitslosengeld II gänzlich gestrichen. Insgesamt waren davon rund 100.000 Familien betroffen. Vor allem für Alleinerziehende, von denen über 90 Prozent Frauen sind, stellt dies ein großes Problem dar. Rund 40 Prozent von ihnen sind auf Hartz IV angewiesen.8 Auch bei mittleren Einkommen wurde das Elterngeld geringfügig gekürzt. Statt 67 Prozent beträgt es nun nur noch 65 Prozent des bisherigen Einkommens. Die Obergrenze für das zu berücksichtigende Einkommen von 1.800 Euro blieb jedoch bestehen, sodass gutverdienende Eltern nicht von den Sparmaßnahmen betroffen waren.

Die austeritätspolitischen Antworten auf die Weltwirtschaftskrise stellen in Deutschland daher alles andere als einen strukturellen Richtungswechsel dar. Vielmehr führen sie die Neoliberalisierung des (Sozial-)Staates, die erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Infrastruktur hat, weiter. Die sich dadurch verfestigende soziale Ungleichheit geht überwiegend auf Kosten von Frauen. Das soll an den Themenbereichen Erwerbsarbeit und Einkommen sowie Sorgearbeit und Zeitverfügung exemplarisch deutlich gemacht werden. Für eine feministische Veränderungsperspektive ist zudem die Frage der politischen Partizipation von Frauen relevant.

1.1  Prekarität hat ein weibliches Gesicht

Der sogenannte Gender Pay Gap, also der Unterschied zwischen den durchschnittlichen Bruttostundenlöhnen aller erwerbstätigen Frauen und Männern, wird häufig als Indikator für die Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt gelesen. Er beträgt in Deutschland rund 21 Prozent, was das Land im EU-Vergleich schlecht dastehen lässt. Immerhin liegt der EU-Durchschnitt bei 16 Prozent und nur Estland (25 Prozent) und Tschechien (22 Prozent) liegen noch hinter Deutschland.9 Dass der Gender Pay Gap über die letzten 15 Jahre relativ konstant geblieben ist,10 sagt jedoch nichts über die Möglichkeiten der eigenständigen Existenzsicherung aus. Für die Beurteilung der ökonomischen Situation von Frauen müssen daher noch weitere Aspekte einbezogen werden.

Einer der wichtigsten Gründe für die Entgeltlücke zwischen den Geschlechtern ist der Unterschied in den Branchen und Berufen, in denen Männer und Frauen tätig sind. In sogenannten frauentypischen Berufen, das heißt Berufen mit einem Frauenanteil von über 70 Prozent wie den Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsdiensten, wurden im Jahr 2014 durchschnittlich 12 Euro pro Stunde verdient, in typischen Männerberufen 20 Euro. Die Differenz beträgt damit fast 40 Prozent.11 Ein weiterer zentraler Grund für den Gender Pay Gap ist, dass Frauen häufiger in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind, also in sogenannten Minijobs.12 Zunächst ist die Erwerbstätigenquote von Frauen, das heißt der Anteil der erwerbstätigen Frauen an der Gesamtzahl der Frauen, von 65,0 Prozent im Jahr 2006 auf 74,5 Prozent im Jahr 2016 stark gestiegen.13 Die Wirtschaftskrise hatte diesen Trend zwar vorübergehend ausgebremst, jedoch nicht wesentlich beeinträchtigt. Trotz dieses Anstiegs, der gegenüber des Anstiegs der Männerquote sehr viel höher ausfiel, sind Frauen weiterhin deutlich seltener erwerbstätig als Männer. So lag die Erwerbstätigenquote der Männer 2016 bei 82,7 Prozent. Diese Zahlen sagen jedoch weder etwas über die tatsächliche Verteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern noch über ihre Qualität aus. Denn nur ein Drittel aller Vollzeitstellen wird von Frauen besetzt, während sie bei den Teilzeitstellen 80 Prozent stellen und zwei Drittel der ausschließlich im Minijob Beschäftigten. Die durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Zuge der Krisenbearbeitung vorangetriebene Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, geringfügige und befristete Beschäftigung sowie Leiharbeit) ist folglich zu großen Teilen das Problem von Frauen. Da der durchschnittliche Bruttostundenlohn einer Teilzeitbeschäftigten um einiges unter dem eines Vollzeitbeschäftigten liegt (2014 betrug der Abstand 18 Prozent14), schlägt sich der hohe Frauenanteil auch im Gender Pay Gap nieder. Noch deutlicher ist dies jedoch für den Bruttojahresverdienst der Fall, der nicht mehr die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden in Betracht zieht: Hier erhöht sich der durchschnittliche Verdienstunterschied zwischen den Geschlechtern auf 37 Prozent.15

Die besondere Prekarität von Frauen verstärkt sich über den Lebensverlauf hinweg. So begründen Frauen ihre Teilzeitbeschäftigung hauptsächlich mit familiären Verpflichtungen (z.  B. Betreuung von Kindern oder Pflege von Angehörigen). Jede zweite Frau erklärt so ihre Teilzeitarbeit, aber nur jeder zehnte Mann. Hingegen geben 19 Prozent der Männer an, wegen einer Aus- und Fortbildung weniger zu arbeiten, wohingegen das nur für vier Prozent der Frauen gilt.16 Diese Angaben legen nahe, dass viele Männer durch eine vorübergehende Reduzierung ihrer Arbeitszeit ihre Beschäftigungs- und Karrierechancen noch erhöhen, für die meisten Frauen gilt das hingegen nicht. Viele Frauen bleiben dadurch in der sogenannten Teilzeitfalle stecken, da sie im Anschluss an familienbedingte Arbeitszeitreduzierungen keine Vollzeitbeschäftigung mehr finden.

Da das deutsche Rentensystem überwiegend an Erwerbseinkommen ausgerichtet ist, spitzt sich dieser Gender Pay Gap noch zu und führt zu einem Gender Pension Gap in Höhe von 42 Prozent in Westdeutschland und 23 Prozent in Ostdeutschland.1 Frauen beziehen sehr viel häufiger als Männer Grundsicherung im Alter. Im Jahr 2016 standen bundesweit 308.726 Frauen mit Bezug dieser Sozialleistung nur 216.869 Männern gegenüber, wobei sowohl bei Männern als auch bei Frauen die Zahl der Leistungsbeziehenden zwischen 2005 und 2015 kontinuierlich zugenommen hat.

In Folge sind 21,2 Prozent der Frauen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, gegenüber 18,1 Prozent der Männer. Mit Blick auf die letzten zehn Jahre ist dies ein Rückgang, der allerdings an der Kluft zwischen den Geschlechtern nichts geändert hat. 2006 lebten noch 21,6 Prozent Frauen und 18,5 Prozent Männer in Armut.

1.2  Krise der sozialen Reproduktion

Wie die Teilzeitquote von Frauen bereits aufgezeigt hat, ist ihre prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt eng mit ihrer unbezahlten Arbeit in Haushalt und Familie verknüpft. Das liegt auch daran, dass die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit neben der Erhöhung der Geburtenrate – beides im Sinne des Wirtschaftswachstums – zwar spätestens seit Beginn der 2000er Jahre erklärtes Ziel der deutschen Familienpolitik ist,3 Vereinbarkeit von Familie und Beruf im neoliberalen (Sozial-)Staat aber nicht gewährleistet werden kann. Denn während einige familienpolitische Leistungen ausgebaut werden, die die Erwerbsbeteiligung von Frauen fördern sollen, geraten andere Institutionen der sozialen Daseinsvorsorge zunehmend unter das Primat der Kostensenkung und werden abgebaut, was von den Familien und Privathaushalten kompensiert werden muss.

Besondere staatliche Unterstützung erfährt seit einer Vereinbarung aus dem Jahr 2007 der Ausbau der Kindertagesbetreuung. Seit 2013 gibt es für ein- bis unter dreijährige Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, was den Ausbau der Infrastruktur weiter vorangetrieben hat. Die Betreuungsquote, das heißt der Anteil aller Kinder in Kindertagesbetreuung bezogen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe, stieg auf diese Weise von 15,5 Prozent im Jahr 2007 auf 33,1 Prozent im Jahr 2017.4 Gleichzeitig fehlen in vielen Regionen noch passende Angebote und auch die Kostenfrage ist damit noch nicht geklärt. Während in einigen Kommunen (z. B. Berlin und Düsseldorf) die Kinderbetreuung kostenlos ist, erheben andere Städte (z. B. Nürnberg) bereits Gebühren von 115 Euro monatlich für ein Kind. Viele Kommunen berücksichtigen zwar das Haushaltseinkommen der Eltern, doch bleibt es dabei, dass sich viele einkommensschwache Familien einen Kitaplatz gar nicht oder nur mit großen Anstrengungen leisten können.

Auch die neuen Regelungen zu Elterngeld und Elternzeit sind sozial ungerecht. Bis 2007 erhielt jedes Elternteil, das ein Kind vorwiegend erzog und nicht mehr als 30 Wochenstunden arbeitete, über zwei Jahre ein monatliches Erziehungsgeld von 300 Euro. Dies wurde vom Elterngeld abgelöst, das jedoch eine Lohnersatzzahlung darstellt. Gutverdienende Eltern können seither bis zu 1.800 Euro pro Monat beziehen, während Eltern ohne Einkommen (Erwerbslose, Studierende, Hausfrauen und -männer) nur ein Mindestelterngeld von 300 Euro erhalten. Mit dem «Sparpaket» 2010 wurde dieser Anspruch für Menschen, die Hartz IV beziehen, sogar gänzlich gestrichen (s.o.). Das Elterngeld kann bis zu 14 Monate gezahlt werden, wobei die letzten beiden Monate nur dann gewährt werden, wenn beide Elternteile – abwechselnd oder auch gemeinsam – die Erwerbsarbeit unterbrechen oder auf maximal 30 Wochenstunden reduzieren. Alleinerziehende bekommen 14 Monate lang Elterngeld – allerdings sind von ihnen aber fast 40 Prozent im Transferleistungsbezug. Auch mit dem Elterngeld PLUS ab 2015 wurde dieser Weg fortgesetzt. Eltern können sich nun dafür entscheiden, monatlich nur halb so viel Elterngeld zu beziehen, dafür aber mit 24 Monaten doppelt so lang. Arbeiten beide Elternteile zwischen 25 und 30 Stunden in der Woche, gibt es noch einen Partnerschaftsbonus von vier Monaten. Auch Alleinerziehende können den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen.

Gleichzeitig haben lohnabhängige Eltern prinzipiell das Recht, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs ihres Kindes die Erwerbsarbeit zu unterbrechen oder ihre Arbeitszeit zu verkürzen. Die Rückkehr zur ursprünglichen Arbeitszeit ist jedoch nur bis zum Ende der Elternzeit möglich. Da Kinder auch über diese Zeit hinaus und immer wieder verstärkt Sorgearbeit benötigen, löst die Elternzeit das Problem der Teilzeitfalle nicht.

Das Geschlechterverhältnis beim Bezug von Elterngeld ändert sich zwar langsam, ist aber immer noch äußerst unausgeglichen. Im Jahr 2016 waren von den Bezieherinnen von Elterngeld 77,8 Prozent Frauen und 22,2 Prozent Männer (2009 waren es 81,4 Prozent Frauen und 18,6 Prozent Männer).5 Während jede fünfte Mutter (20,1 Prozent) dabei die Möglichkeit von Elterngeld PLUS wahrnahm, also den schnelleren Einstieg in eine Teilzeit, traf das auf weniger als jeden zehnten Vater zu (8,2 Prozent). Eine gerechtere Verteilung wird sicherlich auch dadurch verhindert, dass Frauen häufig ein geringeres Einkommen haben. Das gemeinsame Haushaltseinkommen ist dann größer, wenn die Frau Elterngeld bezieht. Für viele Familien ist es dann entweder ein Luxus oder nicht möglich, dass auch der Vater in Elternzeit geht.

So übernehmen Frauen noch immer den weit größeren Anteil der unbezahlten Arbeit im häuslichen Bereich. Einer Zeitverwendungsstudie von 2012/13 zufolge leisten Frauen pro Woche 16:9 Stunden Erwerbsarbeit und 29:29 Stunden unbezahlte Arbeit.6 Männer hingegen leisten pro Woche 25:13 Stunden Erwerbsarbeit und nur 19:21 Stunden unbezahlte Arbeit – also über zehn Stunden weniger als Frauen. Das ist nur eine geringe Veränderung im Vergleich zu den Ergebnissen der vorangegangenen Zeitverwendungsstudie von 2001/02. Damals leisteten Männer 20:41 Stunden unbezahlte Arbeit und Frauen 32:56 Stunden, also rund zwölf Stunden mehr.

Insgesamt arbeiten Frauen aktuell also mit 45:38 Stunden jede Woche eine Stunde länger als Männer mit 44:34 Stunden, erhalten dafür jedoch sehr viel weniger Lohn und Rente. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 und der Einführung der sogenannten Mütterrente 2014 werden zwar für Kinder, die ab 1992 geboren wurden, drei Entgeltpunkte, und für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, zwei Entgeltpunkte in der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet. Ein Entgeltpunkt entspricht dem Rentenanspruch, den Erwerbstätige im Durchschnitt pro Jahr erwerben. Das kann die sich über den Lebenslauf erstreckenden Lohnausfälle für Frauen jedoch nicht ausgleichen.

Parallel zu diesem Ausbau familienpolitischer Leistungen steigt der Druck andernorts infolge des neoliberalen Umbaus des (Sozial)- Staates. So hat Deutschland etwa bereits Anfang der 2000er Jahre mit einem neuen Abrechnungssystem, den diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) in den Krankenhäusern, ein marktwirtschaftliches Instrument in die soziale Daseinsvorsorge eingeführt hat, das vor allem die Reduzierung von Kosten zum Ziel hat. Durch die Umstellung der Finanzierung von Krankenhausleistungen von Tagessätzen auf Fallpauschalen können seitdem Überschüsse nur noch dadurch erwirtschaftet werden, dass die Selbstkosten der Krankenhäuser die Pauschalvergütungen unterschreiten. Das geschieht über eine Verkürzung der Verweildauer, eine Reduzierung der Bettenzahl sowie über personelle und organisatorische Rationalisierungsmaßnahmen.7

Die Folge dieser Umstellung für die Beschäftigten ist unter anderem eine enorme Arbeitsverdichtung durch Personalabbau bei gleichzeitiger Erhöhung der Fallzahlen.8 Außerdem kommt es immer wieder zu verfrühten Entlassungen von Patient_innen, wodurch die Nachsorge nicht selten auf die Angehörigen abgewälzt wird.9 Von dieser Umstellung sind Frauen doppelt betroffen: Zum einen sind in den Sorgeberufen vor allem Frauen beschäftigt (in der Pflege sind es etwa 85 Prozent10), zum anderen übernehmen noch immer Frauen den größten Teil der privat zu leistenden Pflegearbeit.

Das gilt auch für die langfristige Pflege meist älterer Menschen. In der Pflegeversicherung, die 1995/96 in Kraft trat, gilt das Teilkasko-Prinzip. Sie richtet sich also nicht nach dem tatsächlichen Bedarf der zu pflegenden Person, sondern bestimmt Pauschalbeträge, die nicht überschritten werden können. Um die Kosten möglichst gering zu halten, wird die Pflegearbeit der Angehörigen miteinberechnet. Für entstehende Kostendifferenzen müssen die Pflegepersonen selbst aufkommen. Viele können sich eine stationäre oder ambulante Pflege jedoch nicht leisten. Das ist eine Erklärung dafür, dass im Jahr 2015 rund drei Viertel (73 Prozent) der Pflegebedürftigen Zuhause versorgt wurden. Davon wurden rund 67 Prozent ausschließlich durch Angehörige gepflegt. Dieser Trend hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt.11

Fast zwei Drittel (64,9 Prozent) der pflegenden Angehörigen sind Frauen, ein Drittel (35,1 Prozent) Männer. Die Zuhause gepflegte Person erhält ein Pflegegeld, mit dem sie einen Teil der Kosten einer Pflegekraft decken kann. Sie kann es auch an die pflegenden Angehörigen auszahlen. Es beträgt je nach Ausmaß der notwendigen Pflege zwischen 316 und 901 Euro und ist damit nicht ausreichend für die Sicherung des Lebensunterhalts.12 Gleichzeitig müssen viele der Pflegenden ihre Berufstätigkeit reduzieren oder geben sie auf und beziehen Hartz IV. Für sie ist die häusliche Pflege mit einem Armutsrisiko verbunden, genaue Daten hierzu fehlen jedoch.13

Teils werden das Pflegegeld und zusätzliche finanzielle Mittel für die Beschäftigung meist migrantischer, fast ausschließlich weiblicher Hausarbeiterinnen genutzt. Da dieser neue Markt quasi nicht vom Staat kontrolliert wird, gibt es weder verlässliche Zahlen dazu noch belastbare Rechte und gute Arbeitsbedingungen für die hier beschäftigten Frauen. Schätzungen gehen davon aus, dass allein bis zu 300.000 Osteuropäerinnen als sogenannte Pendelmigrantinnen für jeweils mehrere Monate nach Deutschland kommen, um hier in privaten Haushalten in einem Live-in-Arrangement fast rund um die Uhr zu arbeiten. Das bringt eine besondere Abhängigkeit mit sich. Die Gefahr extremer Ausbeutung ist ebenso hoch wie der Missbrauch einer emotionalen Beziehung. Das staatliche Interesse, diese Beschäftigungsverhältnisse stärker zu regulieren, ist jedoch gering, da sie Druck aus dem deutschen Pflegesystem nehmen.

Das Bestreben, die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen, geht also mit Kostensenkungen und der Rückverlagerung von Sorgetätigkeiten in die Familie – größtenteils zulasten von Frauen – Hand in Hand und führt zu widersprüchlichen Erscheinungen. Die soziale Schieflage mit ihrer geschlechtlichen Prägung bleibt dabei jedoch eindeutig. Gutverdienende werden stärker entlastet, während Menschen mit geringerem Einkommen die privatisierten Dienste nicht in gleichem Maße wie Besserverdienende in Anspruch nehmen können. Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, in ausreichender Qualität für sich und andere zu sorgen, spricht Gabriele Winker von einer «Krise der sozialen Reproduktion».14 Sie analysiert sie als einen Moment einer seit den 1970er Jahren andauernden Überakkumulationskrise, auf die auch die Weltwirtschaftskrise zurückzuführen sei.

1.3  Gesellschaftlicher und politischer Rechtsruck

Eine Bearbeitung dieser Probleme ist in Anbetracht der politischen Verschiebungen in Deutschland und Europa derzeit nicht zu erwarten. Wie so oft sind die größten Nutznießer von Finanzkrisen rechtsextreme Parteien, denn Vertrauensverlust in die Eliten und Rezession fördert den Erfolg rechter Stimmungsmache.15 Mit Verzögerung zu anderen europäischen Ländern hat sich während der Euro-Krise auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei (Alternative für Deutschland/AfD) etabliert und einen allgemeinen Rechtsruck in Gesellschaft und im Parteiensystem vorangetrieben.

Das hat unter anderem zur Folge, dass die politische Repräsentation von Frauen wieder stark zurückgegangen ist. Aktuell (Juni 2018) beträgt der Frauenanteil im Parlament nur noch 30,7 Prozent und ist damit so niedrig wie zuletzt vor rund 20 Jahren. Die AfD mit einem Frauenanteil von lediglich 10,6 Prozent hat einen entsprechenden Anteil an dieser Situation. Abgesehen von der gleichstellungspolitischen Frage nach den Mechanismen, die Frauen bei der Besetzung von Ämtern benachteiligen, sind damit die Chancen einer angemessenen Vertretung ihrer Interessen sicherlich nicht gestiegen. Auch die Anfang 2018 erneut aufgelegte Koalition aus Konservativen und den immer schwächer werdenden Sozialdemokraten spricht die sozialen Verwerfungen und ihren geschlechtlichen Einschlag nicht an oder treibt sie noch weiter voran.

Doch nicht nur die sozialen Probleme von Frauen bleiben ungelöst, auch gegen Gewalt gegen Frauen wird nicht in angemessener Weise vorgegangen. Die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt ist sehr dünn. Umfassende Studien sind Mangelware und nur schwer miteinander zu vergleichen.16 Einen Ansatzpunkt für die Beurteilung bieten lediglich die Zahlen des Bundeskriminalamts zu Gewalt von aktuellen und ehemaligen Partnern, die in dieser Form erst seit jüngster Zeit zusammengestellt werden. Demnach sind die erfassten Gewalttaten in Partnerschaften von 120.758 im Jahr 2012 auf 133.080 im Jahr 2016 angestiegen.17 2016 waren von den Opfern 81,9 Prozent weiblich. Inwiefern eine sich verschärfende soziale Lage – sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern – diesen Anstieg mitverursacht hat, kann nur vermutet werden. Dass die Möglichkeit einer eigenständigen Existenzsicherung es erleichtern kann, sich aus einer gewalttätigen Beziehung zu lösen, liegt auf der Hand. Fakt ist, dass die Maßnahmen der Regierung für einen bedarfsgerechten Ausbau des Hilfesystems und seine finanzielle Absicherung sowie die Aufwendungen für die notwendige Präventionsarbeit nicht ausreichen.

Eine von Feminist_innen schon seit langer Zeit geforderte und zur Erfüllung der von Deutschland unterzeichneten Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) erforderlich gewordene Reform des Sexualstrafrechts fand erst nach den Vorfällen in der Silvesternacht 2015/16 die notwendigen Mehrheiten im Parlament. Damals hatten in Köln und anderen deutschen Städten massenweise sexualisierte Übergriffe stattgefunden, die eine Debatte über den kulturellen Hintergrund der Täter und die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung nach sich zogen. Die im Juli 2016 verabschiedete Reform, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen prinzipiell stärkte, wurde in diesem Sinne mit einer erleichterten Ausweisung von Asylbewerbern verknüpft. Der Schutz geflüchteter Frauen vor Gewalt, insbesondere in Massenunterkünften, bleibt gleichzeitig völlig unterbelichtet.

Ein weiterer Aspekt des gesellschaftlichen Rechtsrucks sind Mobilisierungen, die unter dem Stichwort «Anti-Genderismus» verhandelt werden und von einer beispiellosen Allianz von konservativen Katholiken, Evangelikalen, Maskulinisten, Neo-Nazis und rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen getragen werden.18 Ursprünglich durch den Vatikan im Jahr 2000 als «Gender-Ideologie» verurteilt, verbreitete sich die Debatte in Deutschland insbesondere über die rechtsextreme Zeitung Junge Freiheit ab 2006. Inzwischen sind viele der Argumente jedoch in den allgemeinen Diskurs der Mitte vorgedrungen und über die AfD und Teile der Konservativen in die Parlamente getragen worden. Im Zentrum steht die verschwörungstheoretische Auffassung, staatliche Institutionen wollten mit Vorgaben wie dem Gender-Mainstreaming jegliche Differenzen zwischen den Geschlechtern nivellieren und die zum Schutzraum erklärte Kleinfamilie abschaffen. Geschlechterforschung, Gleichstellungspolitiken oder progressive Programme zur Sexualaufklärung werden als falsch verstandene Political Correctness und als antidemokratisch angegriffen und bekämpft. Christine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Teschlade analysieren den Anti-Genderismus-Diskurs als einen Versuch, mit den Erfahrungen von Prekarität zurechtzukommen. Sie lesen ihn als Reaktionen «auf vielschichtige Verunsicherungen, angefangen bei der Ausweitung atypischer Beschäftigung, die zunehmend auch vormals gesicherte Beschäftigte erleben, der aktivierenden Sozialstaatsmaxime der Eigenverantwortung sowie dem Unsicherwerden von Gewissheiten, angestoßen durch emanzipatorische Bewegungen und eng mit ihnen verbunden Teilen der Geschlechterforschung».19 Statt die soziale Frage aufzuwerfen, werden jedoch zuvorderst die Gleichstellungspolitiken für den empfundenen Kontroll- und Sicherheitsverlust verantwortlich gemacht. Die Soziologinnen werben deshalb dafür, auch progressive Antworten auf den Anti-Genderismus in einem breiteren Kontext zu erarbeiten.

Natürlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass im Juni 2017 im Bundestag endlich die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare beschlossen wurde. Schon seit 2001 war es homosexuellen Paaren in Deutschland möglich gewesen, eine «eingetragene Lebenspartnerschaft» einzugehen, die einige der Rechte einer Ehe vorsieht. Dazu zählt etwa die Möglichkeit des Ehegattensplittings, einer unter bestimmten Umständen sehr hohen Steuererleichterung für Eheleute unabhängig von Kindern. Diskriminierungen bestanden jedoch vor allem im Adoptionsrecht weiter. Konstante Bewegung und Lobbyarbeit führten schließlich dazu, dass 2017 das Thema im Wahlkampf eine besondere Relevanz erhielt. Die Entscheidung, die Haltung dazu zur Gewissensfrage zu erklären und jede und jeden Abgeordneten unabhängig von Fraktionen und Koalitionen darüber im Plenum abstimmen zu lassen, kann als geschickter Schachzug der Kanzlerin interpretiert werden, um die Angelegenheit frühzeitig zu befrieden.

Vor dem Hintergrund einer angestrebten Retraditionalisierung der Geschlechter- und Familienverhältnisse traut sich auch die lange Zeit als aussterbendes Phänomen betrachtete «Lebensschutz»-Bewegung, wieder in die Offensive zu gehen. Ihr Ziel ist es insbesondere, Schwangerschaftsabbrüche weitmöglichst zu verhindern. Elke Sanders, Kirsten Achtelik und Ulli Jentsch stellen eine Zunahme ihrer Aktivitäten in den letzten zehn Jahren fest. Dazu zählen immer größer werdende jährliche Demonstrationen in Berlin, vermehrte örtliche und juristische Konfrontationen zwischen «Lebensschützer_innen» und Beratungsstellen und Ärzt_innen sowie Versuche, moralischen Druck auf medizinisches Personal auszuüben, sich aus Gewissensgründen der Teilnahme an Abtreibungen zu verweigern.20 Die bestehende Rechtslage kann dies nicht verhindern. Die 1995 als großer Kompromiss zwischen widersprüchlichen Positionen verhandelten Paragrafen erlauben zwar unter ganz bestimmten Bedingungen einen Abbruch in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft, behandeln einen solchen aber weiterhin prinzipiell als rechtswidrig, weshalb sie weiterhin Teil des Strafgesetzbuches sind. Paradoxe Regelungen wie das Verbot für Ärzt_innen, offen über die Möglichkeit von Abbrüchen in ihrer Praxis zu informieren, obwohl sie sie legal anbieten dürfen, bieten Einfallstore für «Lebensschützer_innen», die sie immer häufiger nutzen. Feministische Reaktionen haben nun jedoch dazu geführt, dass zumindest dieses Verbot der offenen Information im Parlament besprochen wird. Allerdings stößt die Forderung nach einer Abschaffung dieses Verbots weiterhin auf mächtige Gegenwehr in der regierenden konservativen Partei, was den Ausgang dieser Debatte unsicher macht.

2. Linke Akteure  in der Krise

Angesichts der hier aufgezeigten Folgen, die der langfristige neoliberale Umbau des Arbeitsmarktes wie des Sozialstaates für Frauen hat, und des damit zusammenhängenden rechtskonservativen Aufwinds ist die im letzten Jahr in der gesellschaftlichen Linken geführte Debatte über ein Übermaß an «Identitätspolitik» nicht nachzuvollziehen. Der prominente Vorwurf darin lautet, die Linke habe sich zu sehr an elitären Projekten wie Feminismus und Randgruppen wie Migrant_innen und Queers ausgerichtet und dabei die zentralen sozialen Anliegen, die die Arbeiterklasse umtreiben, vernachlässigt. Geschaut wird dabei meist auf einen bürgerlichen Feminismus, der sich tatsächlich vielerorts in die staatliche Agenda hat einbinden lassen und dabei soziale Fragen häufig ausspart. So wichtig es ist, die «gläserne Decken» in der Arbeitswelt zu durchbrechen: Die Auseinandersetzung um eine Frauenquote in den Aufsichtsräten weniger Unternehmen hat viele andere Themen in der öffentlichen Wahrnehmung überschattet – nicht weil es das wichtigste Projekt des Feminismus ist, sondern eben weil sie noch am ehesten ins neoliberale Projekt passt. Was das Programm und die Arbeit der Partei DIE LINKE angeht, kann aber nicht ernsthaft von einer solchen Überfülle an Identitätspolitik gesprochen werden. Es gibt innerhalb der Partei und Bundestagsfraktion das feministische Anliegen, Frauenpolitik konsequent mit Fragen von Arbeitsverhältnissen, Umverteilung und sozialstaatlichem Umbau zu verknüpfen. Dieses ist allerdings noch nicht in alle Bereiche der Partei vorgedrungen. Dabei gibt es hierfür aktuell gute Ansatzpunkte. Das zeigt sich vor allem in den Arbeitskämpfen in der Krankenhauspflege. Die Arbeitsverdichtung durch Personalabbau (s.o.) hat dazu geführt, dass immer mehr Beschäftigte nun eine feste Personalbemessung auf den Stationen fordern und dies auch mit Streiks bekräftigen. In den Sorgeberufen, in denen die Beschäftigten wissen, dass Menschen direkt von ihnen abhängig sind, ist das eine Seltenheit. DIE LINKE hat es hier geschafft, glaubwürdige und verlässliche Partnerin zu sein, die das Thema immer wieder ins Parlament einbringt. Gestärkt werden sollte hier aber sowohl eine geschlechtersensible Ansprache als auch insgesamt eine feministische Erzählung der Auseinandersetzung: nicht nur um die Realität abzubilden, sondern ebenso um die grundsätzlichen Verwerfungen aufzuzeigen und über den einzelnen Konflikt hinausgehende Perspektiven. Denn in den Streiks der Pflegekräfte in den Krankenhäusern geht es nicht nur um bessere Arbeitsbedingungen, sondern es geht auch um die Frage, welchen Stellenwert die hauptsächlich von Frauen vollbrachte Sorgearbeit einnehmen sollte und welche Hindernisse einer Aufwertung dieser Arbeit im Kapitalismus entgegenstehen. Auch weitere Themen bieten sich für eine Vermittlung dieser Verknüpfung an, so etwa die Situation Alleinerziehender, atypische Beschäftigungsverhältnisse und neue Arbeitszeitmodelle.

Auch andere feministische Gruppierungen nehmen die Verbindung von Feminismus und Sozialabbau insbesondere seit Ausbruch der Krise und einem allgemeinen Wiederaufleben linker Theorien verstärkt auf. So etwa das Netzwerk Care Revolution, das auf der Grundlage der Analyse einer «Krise der sozialen Reproduktion» (s.o.) verschiedene Kämpfe im Bereich der Sorgearbeit zusammenbringen will. Die Perspektive ist dabei auf eine Gesellschaft gerichtet, die diese Sorgearbeit ins Zentrum stellt.

Vermutlich gerade weil die Folgen der Weltwirtschaftskrise und Austeritätspolitik in Deutschland nicht mit denen in anderen europäischen Ländern zu vergleichen sind, sind die politischen Bewegungen und Debatten darum inzwischen weitgehend eingeschlafen oder zumindest nicht mehr sichtbar. Es ist zu hoffen, dass im Vorfeld der Europawahlen 2019 das Thema noch einmal in den Vordergrund rücken wird. Auf der nationalen Ebene gibt es eine Reihe von linken Forderungen und Auseinandersetzungen, die noch stärker in den europäischen Kontext gestellt werden könnten und sollten. Die Eindämmung des Niedriglohnsektors und die Erhöhung der Löhne und Renten kämen nicht nur großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland zugute, sondern würden auch die Situation in vielen Krisenländer erleichtern, weil damit deren Wettbewerbsfähigkeit gestärkt würde. Momentan trägt Deutschland immens zur Rezession in anderen Ländern bei mit besonders tief greifenden Auswirkungen auf Frauen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Länderstudien zeichnen dies im Detail nach. Linke und feministische Bewegungen in Deutschland sollten daher diesen Zusammenhang und die sich daraus ergebende Verantwortung in ihren Strategien und Politiken stets berücksichtigen.

 

Angaben zur Autorin

Alex Wischnewski ist Referentin für feministische Politik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. Sie ist aktiv im Netzwerk «Care Revolution» und Ko-Autorin einer monatlichen Kolumne in der Zeitung neues deutschland zu Themen eines marxistischen Feminismus.

 

 

Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung 

Bild:  dgb.de

Anmerkungen:

1  Vgl. DIW Berlin: Gender Pension Gap, DIW Wochenbericht, 1.2.2017, unter: www. diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.551601.de/17-5.pdf, S. 48.

2  Vgl. WSI: Armut. Frauen und Männer mit Bezug von Grundsicherung im Alter 2005-2016, unter: www.boeckler.de/53605.htm.

3  Vgl. Rürup, Bert/Gruescu, Sandra: Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Berlin 2003, unter: www.bmfsfj.de/ blob/93398/99ab881b95ba13503e19c5baa924a839/broschuere-nachhaltige-familienpolitik-ruerup-data.pdf.

4  Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Pressekonferenz vom 6.11.2012 (Statement von Direktor Karl Müller), unter: www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2012/kindertagesbetreuung/statement_mueller_kindertagesbetr_PDF.pdf?__ blob=publicationFile; Statistisches Bundesamt (Destatis): Pressemitteilung vom 27.7.2017, unter: www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/07/PD17_255_225.html.

5  Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Pressemitteilung vom 27.6.2017, unter: www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/06/PD17_213_22922. html; und Statistisches Bundesamt (Destatis): Beendete Leistungsbezüge nach Bundesländern, unter: www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialleistungen/Elterngeld/Tabellen/Tabellen_ElterngeldBeendeteLeistungsbezuegeGeburtenJahr.html.

6  Zur unbezahlten Arbeit zählen neben Tätigkeiten der Haushaltsführung wie Kochen, Waschen, Einkaufen und Gartenarbeit auch die Betreuung und Pflege von Kindern und anderen Haushaltsmitgliedern sowie ehrenamtliches oder freiwilliges Engagement und Unterstützung für Personen, die nicht im Haushalt leben. Zu den Ergebnissen der Studie vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Wie die Zeit vergeht. Ergebnisse zur Zeitverwendung in Deutschland 2012/2013, Wiesbaden 2015, unter: www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2015/zeitverwendung/Pressebroschuere_zeitverwendung.pdf?__blob=publicationFile. 

7  Vgl. hierzu Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai: Die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitswesens. Ursachen, Ziele und Wirkungen wettbewerbsbasierter Kostendämpfungspolitik, in: Böhlke, Nils/Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai/Schmucker, Ralf/ Schulten, Thorsten (Hrsg.): Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten, Hamburg 2009, S. 10–40, hier S. 29.

 8  Vgl. Schulten, Thorsten/Böhlke, Nils: Die Privatisierung von Krankenhäusern in Deutschland und ihre Auswirkungen auf Beschäftigte und Patienten, in: Böhlke, Nils/Gerlinger, Thomas/Mosebach, Kai/Schmucker, Ralf/Schulten, Thorsten (Hrsg.): Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten, Hamburg 2009, S. 97–123, hier S. 100. 

9  Trotz dieser katastrophalen Auswirkungen auf die Versorgungsqualität war das deutsche Gesundheitsministerium ab 2011 maßgeblich daran beteiligt, im Zuge der Sparmaßnahmen das DRG-System auch in Griechenland zu implementieren.

10  Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Gesundheitspersonal, unter: www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Gesundheitspersonal/Tabellen/Einrichtungen.html;jsessionid=5ECEFA6C6FA331BC69E73301073FDCD8.InternetLive1.

11  Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Pflegestatistik 2015. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2017, unter: www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Pflege/PflegeDeutschlandergebnisse5224001159004.pdf?__blob=publicationFile.

12  Vgl. Deutsches Medizinrechenzentrum: Pflegegeld nach Pflegegraden für 2018, unter: www.dmrz.de/pflegegeld-pflegesachleistung-2017-2018-pflegegrad-pflege-neuausrichtungs-gesetz-psg.html.

13  Vgl. Wir pflegen: Zahlen und Fakten zum Thema pflegende Angehörige, unter: www.wir-pflegen.net/wp-content/medien/wir-pflegen-e.V.-Fakten-pflegende-Angeh%C3%B6rige.pdf.

14  Winker, Gabriele: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015.

15  Das ist das Ergebnis einer Studie von drei deutschen Ökonomen, die die politischen Folgen von Finanzkrisen in 20 Staaten seit 1870 untersucht haben.

16  Es gibt zwei Untersuchungen, die immer wieder zitiert werden: 2014 veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte die bis dahin umfangreichste Erhebung über Gewalt gegen Frauen (Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung, 2014). Demnach waren 35 Prozent der Frauen in Deutschland seit ihrem 15. Lebensjahr von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Vorangegangen war ihr 2004 eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, 2004), der zufolge sogar rund 40 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben. Beide Erhebungen machen jedoch keine Aussage zum Verlauf.

17  Erfasst werden Mord und Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung und Stalking. Vgl. Bundeskriminalamt (BKA): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung. Berichtsjahr 2016, 24.11.2017, unter: www.bka.de/ SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Jah

18  Vgl. Redecker, Eva: Anti-Genderismus and right-wing hegemony, in: Radical Philosophy 198, Juli/August 2016, unter: www.radicalphilosophy.com/commentary/anti-genderismus-and-right%e2%80%91wing-hegemony.

19  Wimbauer, Christine/Motakef, Mona/Teschlade, Julia: Prekäre Selbstverständlichkeiten, in: Hark, Sabine/Vila, Paula-Irene (Hrsg.): Anti-Genderismus, Bielefeld 2015,  S. 41–57, hier S. 52.

20  Sanders, Eike/Achtelik, Kirsten/Jentsch, Ulli: Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der «Lebensschutz»-Bewegung, Berlin 2018, S. 6.