Vor dem Hintergrund der – aufgrund hoher Inflation und dramatisch steigender Energiepreise – schlimmsten Krise der Lebenshaltungskosten seit Jahrzehnten in Großbritannien haben hunderte Mitarbeitende eines Amazon-Lagers in Coventry diesen Monat eine Lohnerhöhung gefordert. Sollte ihre Forderung nicht erfüllt werden, wollen sie nach eigenen Angaben im November, kurz vor dem Black Friday und dem Beginn des Weihnachtsgeschäfts, in den Streik treten. Wie im Fall anderer Arbeitskämpfe der letzten Zeit – etwa der amerikanischen Bahnbediensteten und britischer Post-Mitarbeiter – hat der Schritt der Amazon-Beschäftigten eine Debatte darüber ausgelöst, wer für die drohende Betriebsunterbrechung verantwortlich ist: die Elfen in der Werkstatt oder der Weihnachtsmann?
System aus Taylorismus und Fordismus
Amazon verdankt seinen Erfolg einer Reihe von Faktoren wie etwa einem ausgeklügelten datengestützten Ansatz. Die wahre Stärke des Unternehmens liegt jedoch in seinen bahnbrechenden Entwicklungen im Bereich Logistik – darunter Routenoptimierung, Flottenplanung und Metadatenmanagement – die es ihm ermöglichen, die Zeit vom „Klick bis zum Versand” zu minimieren und den Kunden eine beispiellos rasche, zuverlässige und pünktliche Lieferung zu bieten. Flugzeuge und Lastwagen der Marke Amazon Prime transportieren Pakete weltweit kreuz und quer und das funktionierte auch ganz präzise während einer Pandemie, die große Teile der restlichen Wirtschaft lahmlegte.
Das System kombiniert den Taylorismus (die Aufteilung des Produktionsprozesses in kleinste, engmaschig überwachte und genau bemessene repetitive Aufgaben) mit Fordismus (Fließbandmethoden), um ein Warenlagermodell zu schaffen, das in der Lage ist, über eine Million Einheiten pro Tag abzuwickeln. Mit Hilfe von Robotern und lückenloser Überwachung bearbeiten die als „Pickers” und „Stowers” bezeichneten Amazon-Kommissionierer derzeit pro Stunde ein Vielfaches des Auftragsvolumens von früher.
Amazon: Arbeitsbedingungen mit Dickens’sche Züge
Allerdings ist das System mittlerweile dafür berüchtigt, die Grenzen menschlicher Arbeitskraft zu strapazieren. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Großteil der Annehmlichkeiten, die Amazon-Kunden genießen, auf Kosten der am schlechtesten bezahlten Amazon-Bediensteten geht.
So stellte beispielsweise die New York Times letztes Jahr fest, dass die Arbeitsbedingungen im New Yorker „Fullfilment Center“ von Amazon geradezu Dickens’sche Züge aufweisen. Nach dem Passieren der Sicherheitsschleusen, die wie auf einem Flughafen anmuten, müssen die Mitarbeiter nach eigenen Angaben in langen Schichten (10,5-12 Stunden) harte körperliche Arbeit verrichten, die zu einer hohen Zahl an Verletzungen und Unfällen führt (doppelt so viele wie in Warenlagern, die nicht zu Amazon gehören). Verschärft wird die Entwürdigung noch durch die Tatsache, dass alle unter der Kontrolle eines engmaschigen, dystopischen Überwachungssystems stehen, das Verstöße wie Gespräche mit Kollegen oder das Verfehlen von Produktivitätszielen ahndet (in denen verlangt wird, 30 Pakete pro Minute zu bearbeiten oder für die Entnahme aus dem Regal, Verpacken und Versenden eines Artikel insgesamt nicht länger als eine Minute zu brauchen).
Personalabteilung mit kafkaesker Hinhaltetaktik
Die Drohung mit der Entlassung – oder „Freisetzung” wie es das Unternehmen nennt – ist stets präsent und Mitarbeitende, die sich an die Personalabteilung wenden, stoßen auf ein kafkaeskes System, das sich auf Hinhaltetaktik spezialisiert hat, insbesondere, wenn es um Beurlaubung aufgrund von Krankschreibungen oder bezahlten Krankenstand geht. Es gibt Horrorgeschichten von Amazon-Fahrern, die in Plastikflaschen urinieren oder ihre Notdurft in Plastiktaschen verrichten müssen, um den Zeitplan einzuhalten. Es liegen Berichte vor, wonach Mitarbeitende ihre Eheringe verkaufen müssen oder auf Lebensmittelmarken angewiesen sind, um über die Runden zu kommen. Als Reaktion auf diese Meldungen macht das Unternehmen absurde Angebote wie „Meditationsräume”, die eher großen Särgen ähneln.
Kein Wunder also, dass die Bestrebungen nach gewerkschaftlicher Organisierung in den Amazon-Betriebsstätten zunehmen. Trotz der systematischen Bemühungen des Unternehmens diese gewerkschaftliche Organisierung zu unterdrücken, war eine Gewerkschaftskampagne in einem Amazon-Warenlager in Staten Island vor einigen Monaten erfolgreich, nachdem ein ähnlicher Vorstoß in Alabama knapp scheiterte. Im Jahr 2018 legte US-Senator Bernie Sanders einen Gesetzesentwurf unter dem Titel „Stop Bad Employers by Zeroing Out Subsidies“ („Stop BEZOS”) vor, im Rahmen dessen Unternehmen 100 Prozent Steuern auf staatliche Leistungen zahlen sollen, die deren Beschäftigte in Anspruch nehmen. Und nun hat die US-Behörde für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz eine Untersuchung der Arbeitsbedingungen bei Amazon eingeleitet.
Überlastung und Überwachung: Mitarbeiter als Datenpunkte
Diese Scharmützel untergraben das Narrativ, das Big Tech über sich selbst verbreitet, auf fatale Weise. Amazon mag ein Logistik-Pionier sein, aber das Unternehmen ist nicht weniger auf die Ausbeutung seiner Mitarbeitenden angewiesen als die „satanischen Mühlen” der ersten Industriellen Revolution. Laut Amazons Entstehungsgeschichte, begann alles damit, dass Jeff Bezos in seiner Garage Bücher verkaufte und jedes Mal, wenn eine Bestellung einging, eine Glocke läutete. Doch bereits in den Anfängen machte sich eine Kultur der Arbeitsüberlastung (erwartet wurde eine Arbeitszeit von mindestens 60 Wochenstunden), der Beugung von Regeln, gefährlicher Arbeitsbedingungen (unverpackte Messer, die von Förderbändern fallen) und Orwellscher Leistungsüberwachung breit.
Amazon ist heute eines der größten Unternehmen der Welt. Aber, größer heißt nicht immer besser. Während man früher, als das Unternehmen noch sehr viel kleiner war, einige seiner Methoden als innovativ und adaptiv betrachten konnte, werden die Mitarbeitenden heute systematisch auf Datenpunkte reduziert. Bevor Bezos letztes Jahr als CEO zurücktrat, sah er die Mitarbeiterfluktuation im Unternehmen eher als ein Merkmal, denn als Mangel des Amazon-Modells an. Eine tief verwurzelte Stammbelegschaft zu haben, hieße, so Bezos angeblich, in Richtung „Mittelmäßigkeit zu marschieren.” Infolgedessen weist das Unternehmen eine Mitarbeiterfluktuation von ungefähr 150 Prozent pro Jahr aus – das Doppelte des Branchendurchschnitts – und das bedeutet, dass die gesamte Belegschaft alle acht Monate ausgetauscht wird.
Arbeitskräfteangebot bis 2024 ausgeschöpft
Dieses Modell ist nicht nur unethisch und unmenschlich, sondern womöglich auch nicht nachhaltig. Studien zeigen, dass zufriedene Mitarbeitende produktiver sind. Und in einem internen Memo des Unternehmens wurde Anfang des Jahres gewarnt: „Wenn wir weitermachen wie bisher, wird Amazon das im US-Netzwerk verfügbare Arbeitskräfteangebot bis 2024 ausgeschöpft haben.”
Mit einem geschätzten Nettovermögen von rund 140 Milliarden Dollar war Bezos von 2017 bis 2021 der reichste Mann der Welt. Von einer gewöhnlichen Amazon-Arbeitskraft hat er sich ganz klar schon so weit losgelöst, wie es das Ausmaß seines Reichtums vermuten lässt. Eine Mitarbeiterin formulierte es 2020 folgendermaßen: „Ich bin mir sicher, dass Herr Bezos als Undercover Boss keine volle Schicht [im New York City-Warenlager] durchstehen würde.”
Die Belegschaft von Coventry, die einen Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten fordert, würde dem zweifellos zustimmen. Amazons Führungsetage muss sich intensiv mit den menschlichen Kosten dieses Geschäftsmodells auseinandersetzen. Sollte sie dafür einen ruhigen Ort brauchen, kann sie es immer noch mit einem der Meditationssärge versuchen.
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Die Autorin:
Antara Haldar ist Dozentin für Empirische Rechtswissenschaft an der University of Cambridge.
Der Text wurde im Original auf Project Syndicate, 2022, veröffentlicht www.project-syndicate.org und zuletzt auf Gegenblende Debattenmagazin (dgb.de) Bild: verdi.de