Tarifbindung geht weiter zurück

Von Anne-Kathrin Wehrmann

Wenn ein Unternehmen seine Mitarbeiter nach Tarif beschäftigt, ist das für die Angestellten aus vielerlei Gründen positiv. Allerdings hat die Tarifbindung in den vergangenen Jahren stetig abgenommen – und die Entwicklung geht weiter. Fachleute sehen darin sozialen Sprengstoff.

Tarifbindung bedeutet erst einmal Sicherheit“, sagt Annette Düring, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Region Bremen-Elbe-Weser. „Ein Tarifvertrag garantiert Mindestbedingungen, die auf keinen Fall unterschritten werden dürfen – und damit hat er für die Mitarbeiter auch eine wichtige Schutzfunktion.“ Ob es um die Höhe des Arbeitsentgelts geht oder um Regelungen zu Urlaubslänge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld: Arbeitnehmer, deren Beschäftigungsverhältnissen ein Tarifvertrag zugrunde liegt, sind durchgängig besser gestellt als ihre Branchenkollegen ohne Tarifbindung. „Der Tarifvertrag bietet den Schutz, keine schlechteren Bedingungen in Kauf nehmen zu müssen“, erläutert Düring. „Er ist verlässlich und einklagbar.“ Auch die Unternehmen müssten ein Interesse an tariflichen Regelungen haben, an die sich alle zu halten hätten, meint die Gewerkschafterin: „Immerhin würde das zu vergleichbaren und verlässlichen Wettbewerbsbedingungen führen.“

Stattdessen lässt sich jedoch seit Jahren ein deutlicher Trend zur Tarifflucht beobachten. Laut IAB-Betriebspanel, einer jährlichen Arbeitgeberbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, ist die Tarifbindung der Beschäftigten zwischen 1998 und 2016 in den westlichen Bundesländern von 76 auf 59 Prozent gesunken, in den östlichen von 63 auf 47 Prozent. In Bremen unterlagen 2016 24 Prozent der Betriebe und 58 Prozent der Arbeitnehmer tarifvertraglichen Regelungen. „Damit liegen wir etwa im Bundesschnitt“, bilanziert Peer Rosenthal, Referent der Geschäftsführung der Arbeitnehmerkammer Bremen. Für ihn steht fest: Die Erosion der Tarifbindung muss gestoppt werden, denn wo es Tarifverträge gibt, ist die Lohnverteilung nicht so ungleich. „Im Sinne der Bekämpfung sozialer Ungleichheit müsste die Politik die Tarifpolitik stärken“, ist Rosenthal überzeugt.

Halbherzige Reform

Einen Versuch in diese Richtung hatte die alte Bundesregierung mit dem 2014 verabschiedeten „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ unternommen, das unter anderem angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer sicherstellen und die sogenannte Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen erleichtern sollte. Das Instrument der AVE gibt es in Deutschland schon seit 1918, es hatte zuletzt aber an Bedeutung verloren. Es besagt, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer dies gemeinsam beantragen und die AVE „im öffentlichen Interesse geboten erscheint“. In diesem Fall wird der entsprechende Tarifvertrag auch für die bis dahin nicht tarifgebundenen Unternehmen und ihre Mitarbeiter innerhalb der jeweiligen Branche und des räumlichen Geltungsbereichs verbindlich.

„Die Reform ging allerdings nicht weit genug und war in einigen Bereichen auch nicht konsequent“, kritisiert Professor Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „So müssen die Antragsteller nach wie vor die überwiegende Bedeutung ihrer Tarifverträge nachweisen, während die Vertreter im Tarifausschuss die AVE-Anträge blockieren können – wovon vor allem die Arbeitgeber auch rege Gebrauch machen.“ Einer der wesentlichen Gründe für den allgemeinen Rückgang der Tarifbindung seit den 1990er-Jahren ist laut Schulten, dass die Arbeitgeberverbände den Unternehmen seither eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, die „OT-Mitgliedschaft“, anbieten. In der Praxis heißt das, dass mittlerweile in vielen Verbänden die Mehrheit der Mitglieder sich nicht mehr an die ausgehandelten Tarifverträge halten muss. „Die Verbände argumentieren, dass sie andernfalls ihre Mitglieder nicht halten beziehungsweise keine neuen gewinnen könnten“, erläutert der Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa. Auch für ihn handelt es sich um ein politisches Problem, das angegangen werden muss: „Man hört in dem Zusammenhang immer die Schlagworte Globalisierung und Digitalisierung, aber in anderen europäischen Ländern gibt es eine deutlich höhere Tarifbindung. Das zeigt, dass es durchaus politische Handlungsspielräume gibt.“

Beispiel Einzelhandel

In Branchen, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch ist, gibt es tendenziell häufiger tarifvertragliche Regelungen. So können zum Beispiel der öffentliche Dienst, die Automobil- und Chemie-Industrie oder der Maschinenbau gute Werte vorweisen. Besonders düster sieht es hingegen in der Logistik, im Gastgewerbe und im Einzelhandel aus. So hatte der Einzelhandel noch bis zur Jahrtausendwende ein nahezu flächendeckendes Tarifsystem, da dort fast alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt waren. Dann gab es eine Spaltung der zuständigen Arbeitgeberverbände mit anschließender Zulassung der OT-Mitgliedschaft und die Tarifbindung sank dramatisch. 2015 waren in Westdeutschland nur noch 42 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel nach Tarif angestellt (2000: 70 Prozent), in Ostdeutschland lediglich 30 Prozent (2000: 43 Prozent).

Eine Vergleichsrechnung aus der Praxis zeigt: Die Vollzeit-Verkäuferin mit fünfjähriger Berufserfahrung verdient nach Tarif etwa 2.000 Euro brutto. Ihre Kollegin ohne Tarifbindung bringt über das Jahr gerechnet bis zu 30 Prozent weniger Lohn nach Hause. „Der Einzelhandel steht auf der Kippe, vollständig in den Niedriglohnsektor abzurutschen“, befürchtet DGB-Vorsitzende Annette Düring. Wie in anderen Branchen mit geringer Tarifbindung müssten schon jetzt viele Arbeitnehmer ihr Gehalt mit Hartz IV aufstocken und seien von Altersarmut bedroht. Die Gewerkschafterin fordert eine gesellschaftliche Diskussion darüber, was Arbeit wert sei und wie sie entlohnt werden solle. „Die Gesellschaft kann es nicht akzeptieren, wenn sie am Ende die Gesamtkosten tragen muss und die Unternehmen sich eine goldene Nase verdienen. Das ist sozialer Sprengstoff.“

 

 

Quelle:   https://www.arbeitnehmerkammer.de/ Bürgerstr. 1
28195 Bremen

Bild: ver.di 8 hellweg