Angriffe abgewehrt – mageres Ergebnis / Stellungnahme des Koordinierungskreises der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften – VKG“ zum Abschluss der Tarifrunde im öffentlichen Dienst

Vor dem Hintergrund der ökonomischen, ökologischen und gesundheitlichen Krise richteten sich alle Augen auf die diesjährige Tarifrunde im öffentlichen Dienst in Verbindung mit den Verhandlungen um einen bundesweiten Manteltarifvertrag im öffentlichen Personennahverkehr. Vielen war klar, dass der Tarifkampf Beispielcharakter dafür haben würde, wie Gewerkschaften sich aufstellen, um gegen das Abwälzen der Krisenlasten auf die Masse der Beschäftigten zu mobilisieren.

Die gute Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen bei Streik und Aktionen zeigte, dass auch unter einer Pandemie eine kämpferische Tarifrunde durchgeführt werden kann. Leider wurde die gute Dynamik der Aktionen nicht genutzt, um den Kampf auszudehnen und die verschiedenen Bereiche besser zu koordinieren, um damit die Kampfkraft zu erhöhen. Deshalb ist das Ergebnis bescheiden. Damit werden es die Gewerkschaften in anderen Bereichen leider nicht gerade leichter haben.

Bescheidene Erhöhung

Für die meisten Beschäftigten bringt der Tarifabschluss 1,4 % mehr Gehalt zum 1.4.2021 und 1,8 % zum 1.4.2022, bei einer Laufzeit von 28 Monaten. Hinzu kommt die Corona-Sonderzahlung in 2020[1], die sich jedoch nicht auf die Tabellenwerte auswirkt. Bis April stehen erstmal mal sieben Nullmonate an. Lediglich die Erhöhung der Jahressonderzahlung[2] für die unteren Entgeltgruppen kann man noch dazu rechnen. Das war’s dann aber schon für den Durchschnitt der Beschäftigten.

Rechnen wir die tabellenwirksamen Erhöhungen zusammen und beziehen sie auf ein Jahr, dann sind es für die meisten Beschäftigten gerade mal 1,4 %.

Das heißt im Klartext: die „Arbeitgeber“ haben sich von ihrem Angebot bezogen aufs Jahr von 1,2% auf 1,4% bewegt. Sie geben das Gesamtvolumen des Abschlusses mit knapp 5 Milliarden Euro an. Und das Handelsblatt freut sich: „Die Kosten des Abschlusses (…) liegen nur um rund 100 Millionen Euro über der Summe, die die kommunalen Arbeitgeber in ihrem Angebot veranschlagt hatten.“ [3]

Zwischen „respektlosem Angebot“ (Frank Werneke am 16.10.) und „respektablem Ergebnis“ (Frank Werneke am 25.10.) liegen gerade mal 0, 2 % oder 100 Millionen Euro. Dies sind bei 2,3 Millionen Beschäftigten nicht einmal 50 € mehr pro Person für die nächsten 28 Monate (Laufzeit), also pro Monat 1,55 Euro mehr.

Eine kleine soziale Komponente wurde vereinbart, aber auch recht weit entfernt von den geforderten150 Euro [4].

Pflegenotstand bleibt

Selbst für die Pfleger*innen, für die etwas mehr herausgesprungen ist, sind es in den günstigsten Fällen 3,6 Prozent; in der Intensivmedizin kommt noch die Erhöhung der Intensivzulage dazu[5]. Wenn auch diese Kolleg*innen erfreulicherweise bessere Zuwächse verzeichnen können, ist das dennoch viel zu wenig, um dem Pflegenotstand zu begegnen, und weit entfernt von den 500 Euro mehr, die viele Kolleg*innen zur deutlichen Aufwertung des Berufs gefordert hatten. Der Sozialwissenschaftler Prof. Stefan Sell schätzt es gar als potenzielle Blockade ein: Wenn man „eine deutliche Aufwertung der Pflegeberufe im tariflichen Gefüge insgesamt im Auge hat und für sinnvoll hält, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass der jetzige Tarifabschluss für die überschaubare Gruppe der unter das Tarifdach des öffentlichen Dienstes fallenden Pflegekräfte eine strukturelle, deutlich ambitioniertere Aufwertung der Pflegeberufe eher blockieren bis verunmöglichen wird“. [6]

In Sachen Arbeitszeiten wurde endlich eine Angleichung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst auf Westniveau vereinbart – allerdings nochmals um weitere 5 Jahre verzögert! Auch die arbeitsfreie Zeit zwischen zwei Schichten wurde nicht verlängert.

Der Kampf um Aufwertung im Erziehungsdienst wurde verschoben – hier sollte unmittelbar diskutiert werden, wie er im Jahr 2021 fortgesetzt werden kann.

Die Sparkassenbeschäftigten mussten die Umwandlung eines Teils der Sparkassensonderzahlung in freie Tage hinnehmen. Die Beschäftigten an den Flughäfen gehen ganz leer aus, ihnen droht ein „Notlagentarifvertrag“. Dabei sollte klar sein: Verzicht rettet keine Arbeitsplätze.

Schönrechnerei

Die langen Laufzeiten, wie wir sie seit Jahren erleben, sind schlecht für die Beschäftigten, da weder die jährlichen Preissteigerungsraten noch die Kampfbedingungen so weit im Voraus einschätzbar sind. Das Ergebnis wird plötzlich nicht mehr auf das Jahr umgerechnet, was bei der Aufstellung der Forderung noch eine wichtige Rolle gespielt hatte. Die „Arbeitgeber“ gewinnen damit nicht nur Planungssicherheit, sie legen damit die Gewerkschaft auf längere Zeit an die Kandare.

Aber auch den Gewerkschaftsführungen kommen lange Laufzeiten entgegenZum einen weil dann nicht jährlich ein womöglich größerer Kampf organisiert werden muss. Zum anderen lässt sich damit ein Ergebnis optisch schönrechnen. Schon bei der letzten Runde 2018 war seitens ver.di von durchschnittlich 7,5% Zuwachs die Rede, obwohl sich das auf eine Laufzeit von 30 Monaten bezog. Diesen Taschenspielertrick griffen jetzt die „Arbeitgeber“ auf, indem sie 3,5% boten, natürlich für 36 Monate.

Solche Schönfärbereien und Irreführungen (der Beschäftigten wie der Öffentlichkeit) müssen ein Ende haben. Respektvoller Umgang mit den Kolleg*innen bedeutet, dass man wenigstens ungeschminkt sagt, was ist.

Beschäftigte im ÖPNV hängen gelassen

Nach langer Vorbereitungszeit war ver.di in die diesjährige Tarifrunde TV-N mit dem Ziel gestartet, dass hier endlich ein gemeinsamer bundesweiter Manteltarifvertrag durchgesetzt wird (die einzelnen Tarifverträge auf Landesebene waren deswegen gekündigt worden). Im Verbund mit der Tarifrunde TVöD lag es geradezu auf der Hand, genau diese Kampfkraft im Zusammenhang mit der allgemeinen Runde zu nutzen.

Die Bus- und Bahnfahrer*innen gehörten auch in dieser Tarifrunde wieder zu denjenigen, die sich am Geschlossensten an den Warnstreiks beteiligt haben.

Doch jetzt ist der Nahverkehrsbereich gezwungen, den Kampf alleine weiter zu führen. Und das vor dem Hintergrund, dass die „Arbeitgeber“ Verhandlungen um den Manteltarif schlicht verweigern und selbst bei der Gehaltstabelle die bisher übliche Übernahme des TVöD-Abschlusses auf die Tarifverträge des Nahverkehrs in Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen nicht zusagen wollten.

War mehr drin?

Die Kernfrage ist: War dieses Ergebnis unter den gegebenen Bedingungen unvermeidlich? Oder hätte der Kampf ausgeweitet werden können und war mehr drin? Schwierige Rahmenbedingungen für den Arbeitskampf ergaben sich in erster Linie aus den hochlaufenden Corona-Infektionszahlen und der veröffentlichten Meinung in den Mainstream-Medien bis hin zur taz, die gegen die Streikenden Front machten.

Die Coronakrise hat sich insgesamt spürbar lähmend auf alle Aktivitäten ausgewirkt. Dies beruhte vor allem auf der Angst, sich bei Streikkundgebungen oder sonstigen Mobilisierungen einem Infektionsrisiko auszusetzen. Auch die politische Kampfbereitschaft der Beschäftigten war angeschlagen. So manche Kolleg*innen hatten Zweifel, ob man denn in der Krise überhaupt etwas fordern könne. Aus dieser Gemengelage ergab sich, dass die reale Kampfbereitschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Die Mobilisierung war an den meisten Orten eng damit verknüpft, wie engagiert vor Ort die Aktiven und Gewerkschaftssekretäre dies beförderten. Zwar war die Streikteilnahme dann doch überraschend gut. So sind zum Beispiel neue Krankenhausbelegschaften in den Kampf eingetreten, die bisher nicht sehr aktiv waren. Auch die Stimmung bei den Streikkundgebungen war kämpferisch. Zur Empörung über das dreiste Angebot der „Arbeitgeber“ kam mit steigenden Corona-Zahlen bei einem Teil auch wieder Verunsicherung auf. Mit ihrem frechen Angebot demonstrierten sie große Entschlossenheit, von den Beschäftigten Tribut zu verlangen [7].

Hätte man die Stimmung drehen und eine Ausweitung schaffen können? Mit ein paar mehr zerfledderten Warnstreiktagen hier und da wäre sicher nicht viel zu gewinnen gewesen. Ein ernsthafter, großer gewerkschaftlicher wie politischer Kampf hätte aufgenommen werden müssen. Die Vorbereitungen dazu hätten spätestens an der Stelle anlaufen müssen, als die „Arbeitgeber“ die Verschiebung der Runde aufs nächste Jahr ablehnten. Grundlegende Voraussetzung wäre gewesen, den vermeintlichen Sachzwang Kassenlage nicht zu akzeptieren, wie es die ver.di-Führung letztlich getan hat.

Dieser Tarifkampf in Zeiten von ökonomischer und gesundheitlicher Krise rief geradezu danach, eine politische Zuspitzung und gesellschaftliche Bewegung zu befördern, mit der die öffentliche Stimmung hätte gedreht werden können:

– durch den Schulterschluss mit anderen Gewerkschaften, zumal ver.di quasi die Tarifführerschaft innehatte,

– durch Verbindung mit der Forderung nach einer Vermögensabgabe der Superreichen an die öffentlichen Kassen,

– durch gemeinsamen Kampf mit gesellschaftlichen Bündnispartnern, mit denen man dezentral größere Plätze und digital die sozialen Medien bespielen kann.

Im Bereich Nahverkehr hatte man Bündnispartner in der Klima- und Verkehrswende-Bewegung, im Bereich Pflege existieren in vielen Städten bereits gut funktionierende und sehr aktive Pflegebündnisse. Ohnehin gab es hier sehr breite Sympathien für eine deutliche Aufwertung, denen sich auch die Politik letztlich nicht ganz entziehen konnte. Auf diese Dinge hätte man aufsetzen können, statt nur ein bis zwei Aktionstage mit eher symbolischen Charakter mit FFF oder Pflegebündnissen durchzuführen.

Festzuhalten ist: Zu einem solch umfassenden Kampf war die Gewerkschaftsführung offenbar nicht bereit, einen solchen wagen sie seit langem nicht mehr zu führen. Und von der Basis her gab es die große Druckwelle nicht, die den Apparat in diese Richtung unter Druck gesetzt hätte. Dies hängt auch damit zusammen, dass auf gesamtgewerkschaftlicher Ebene eine sichtbare klassenkämpferische Strömung fehlt, die für Unentschlossene eine Orientierungshilfe oder Ermutigung hätte sein können. Diese gilt es aufzubauen. Denn große ökonomische Verwerfungen stehen noch bevor, der Klassenkampf von oben wird sich enorm verschärfen. Um zu verhindern, dass erneut die Beschäftigten zahlen, um die notwendigen massiven Investitionen in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge und des ÖPNV zu erkämpfen, werden ein paar Warnstreiktage nicht reichen. Es braucht umfassende gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Strategien.

Anmerkungen:

[1] Steuerfrei für alle, die im Jahr 2020 den Gesamtbetrag von 1.500 Euro beitragsfreier Corona-Prämien noch nicht ausgeschöpft haben..

[2] Erhöhung der Jahressonderzahlung in den Entgeltgruppen S2 bis S9 bzw. EG 1 bis 8: In den westlichen Ländern um fünf Prozentpunkte in 2022, in den östlichen Ländern um zwei Prozentpunkte in 2022 und drei Prozentpunkte in 2023.

[3] Handelsblatt vom 25.10.20 https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-der-tarifkompromiss-im-oeffentlichen-dienst-wird-beiden-seiten-gerecht/26306476.html

[4] mindestens 50 Euro, jedoch nur in 2021. Für Azubis und Praktikant*innen jeweils mindestens 25 Euro in 2021 und 2022

[5] Ab März 2021 wird eine Pflegezulage von 70 Euro gezahlt, die ein Jahr später auf 120 Euro erhöht wird. Die Zulage in der Intensivmedizin wird auf 100 Euro erhöht, die Wechselschichtzulage steigt von 105 auf 155 Euro monatlich. In den Betreuungseinrichtungen wie Altenheimen wird die Pflegezulage mit einem Plus von 25 Euro auf Gleichstand mit den kommunalen Krankenhäusern gebracht.

[6] Artikel auf der Webseite von Prof. Dr. Stefan Sell, Professor für Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz  in „Aktuelle Sozialpolitik“ https://aktuelle-sozialpolitik.de/2020/10/26/tarifabschluss-im-oeffentlichen-dienst/

[7] mehr Nullmonate, eine noch längere Laufzeit, dauerhafte Absenkung der 2019 abgesenkte Jahressonderzahlung, bei den Sparkassenbeschäftigten gar Kürzung um 20 Prozent, Ende der Regelungen zur Altersteilzeit, Änderung der Definition des Arbeitsvorgangs in § 12 des Tarifvertrages -ein Herzstück für die Eingruppierung im öffentlichen Dienst.

 

 

Hier die Datei zum Herunterladen:

https://www.vernetzung.org/wp-content/uploads/2020/11/VKG-Stellungnahme-TVoeD-Abschluss_-final.odt

 

 

Quelle und weitere Infos: https://www.vernetzung.org/


Bild: ver.di