Arbeitsrechte als Menschenrechte erkämpfen! – Eröffnungsrede der politisch-juristischen Fachkonferenz Aufstehen und widersetzen in Köln

Von Werner Rügemer

Wir wollen den Rechten der abhängig Beschäftigten Geltung verschaffen – nicht zuletzt den Rechten der besonders aktiven unter ihnen, der Betriebsräte. Wir wollen Wege finden, Arbeitsrechte durchzusetzen. Deshalb müssen wir zuvor ganz nüchtern die Situation analysieren.

Arbeiten und Arbeitsrechte: eine verdrängte Welt

Arbeit und Arbeitsrechte sind im gegenwärtigen westlichen Kapitalismus in mehrfacher Hinsicht nicht existent, oder wenn, dann am häufigsten in Gestalt gefälschter Statistiken.

Subpolitical topic – politisch nicht relevant

Arbeit und Arbeitsrechte sind ein subpolitical topic, also politisch nicht existent, wie noch nie in der jüngeren Geschichte. Arbeitsrechte gelten vor allem im führenden Staat des Westens, in den USA und für global führende Konzerne als subpolitical topic.

Arbeitsrechte zählen nicht zu den ansonsten hochgehaltenen Menschenrechten, sei es unter republikanischen Präsidenten wie Bush und Trump, sei es unter demokratischen Präsidenten wie Clinton und Obama. Finanziell, rechtlich und moralisch niederwertige Niedriglohnsektoren und working poor werden in den westlichen Metropolen und in globalen Lieferketten gezielt erweitert. In den USA, in der EU und in Deutschland herrscht weitgehend ein Arbeits-Unrechts-Staat.

Die zumindest von westeuropäischen Staaten früher ratifizierten Arbeitsrechte des UN-Sozialpakts – die Bundesrepublik Deutschland tat es 1973 – werden verdrängt und verletzt. Durch die vier Hartz-Gesetze und weitere Gesetze wird das Arbeits-Unrecht verrechtlicht. Der Staat fälscht Arbeitsstatistiken. Beim gelegentlich politisch verhandelten Mindestlohn scheint das Thema da zu sein. Aber weder dieser Hungerlohn in seiner armutsgenerierenden, kümmerlichen Niedrigkeit noch die millionenfache tägliche Nichtzahlung dieses Niedriglohns durch Unternehmer sind ein politisches Thema für die Regierenden.

Im Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR haben sich die deutschen Regierungen 1990 verpflichtet, ein einheitliches Arbeits-Gesetzbuch zu beschließen – in der DDR hatte es ein solches gegeben.1 Die Arbeitsrechte sind aber auch im 29. Jahr danach immer noch auf Dutzende verstreute, uneinheitliche Einzelgesetze verstreut, die Hartz-Gesetze, Gesetze zu Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Kündigungsschutz, Arbeitszeit, Teilzeit- und Befristung, Mindestlohn, Jugendarbeit, Arbeitsschutz und die Sonder-Arbeitsrechte für Beamte, Kirchenmitarbeiter und Medien undsoweiter. Zuletzt wurde der Vertrag 2017 angepasst. Aber alle bisherigen Regierungen und die beteiligten Parteien – SPD, CDU, CSU, Grüne, FDP – setzen beim Arbeitsrecht aus Angst vor dem Aufbrechen von Konflikten, die unter der Decke schwelen, ihren jahrzehntelangen Vertragsbruch fort.

Die Bundesregierung sorgt sich intensiv um das Arbeitsverhältnis des rechtsradikal affinen Präsidenten des Verfassungsschutzes, denn, so der zuständige Innenminister Seehofer: „Ich habe eine Fürsorgepflicht für meine Mitarbeiter.“2 Gleichzeitig hintertreibt dieselbe Bundesregierung mit der EU-Kommission in der UNO ein verbindliches Abkommen (binding treaty) über die Strafbarkeit von Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen – etwa bei Sklaven-, Zwangs- und Kinderarbeit – auch in internationalen Lieferketten.3 Aber da kennt die Bundesregierung auch für Arbeitsplätze im eigenen Land keine Fürsorgepflicht.

Media subtopic – medial unterbelichtet

Die Arbeitsrechte sind aber auch ein media subtopic. Auch die Leitmedien, die privaten wie die staatlichen, verdrängen verbissen das Arbeits-Unrecht sowie die Praktiken der Disziplinar- und Sanktionsanstalten, der Jobcenter. In den Leitmedien tauchen abhängig Beschäftigte gelegentlich als arme Opfer auf, als gehetzte teilzeitarbeitende Mütter mit Kleinkind. Oder demonstrierende Gewerkschafter auf öffentlichen Plätzen werden im Fernsehen schon mal gezeigt, aber sie sprechen nicht, sie dürfen nicht ihre Situation erklären, sondern sie dürfen auf Trillerpfeifen ein bisschen Lärm machen.

Über Straf- und Wirtschaftsprozesse berichten die Leitmedien, Sex and Crime – da tummeln sich die Journalisten. Aber die öffentlichen Verhandlungen der Arbeitsgerichte – da sind diese Journalisten fast immer abwesend.

Während die Meinungsfreiheit als einer der höchsten Werte der westlichen Welt hochgehalten wird, stellt die Meinungsfreiheit der abhängig Beschäftigten keinen Wert dar. Gegen die verhinderte Meinungsfreiheit eines Journalisten der unternehmernahen Zeitung Die Welt in der Türkei protestieren Bundesregierung und Leitmedien, zu Recht; aber wenn Beschäftigte der Deutschen Post in der Türkei eine Gewerkschaft bilden und dann gefeuert werden – da protestiert keine Bundesregierung, keine Arbeitsministerin und kein Leitmedium und auch nicht das meinungsfreiheitsliebende Leitmedium Die Welt. Über Inhalte von Arbeitsverträgen herrscht sanktionsbewehrte Schweigepflicht. Betriebsräte werden mit Schadenersatzforderungen bedroht, wenn sie einen betrieblichen Konflikt öffentlich machen. Gegenüber Whistleblowern, die belegte Rechtsbrüche dem Staatsanwalt oder den Medien melden, haben die Unternehmer die Definitionshoheit über das, was den Arbeitsfrieden stört, unabhängig vom Wahrheitsgehalt und dürfen kündigen. Ein Gesetzentwurf der Großen Koalition will die schutzbedürftigen Geschäftsgeheimnisse jetzt noch enger fassen.4

Legal subtopic – rechtlich ignoriert

Die Arbeitsrechte sind auch ein legal subtopic. Wohl in keinem Bereich des Rechts und der Justiz besteht ein solches Vollzugsdefizit wie bei den Arbeitsrechten – ausgenommen vielleicht die priesterliche Kinderfickerei in der katholischen Kirche und die Steuerflucht der Globalkonzerne. Wir von Aktion gegen Arbeitsunrecht haben dokumentiert: Keine Straftat wird so selten zur Anklage erhoben und führt so selten zu einer Verurteilung wie die Behinderung von Betriebsräten und die Verhinderung von Betriebsratswahlen durch Unternehmer und ihre Beauftragten. In den Polizeiformularen für Strafanzeigen gibt es diesen Straftatbestand nach § 119 des Betriebsverfassungs-Gesetzes überhaupt nicht.5 Auch Bestechung und versuchte Bestechung, Erpressung und Nötigung von Betriebsräten und Aktivisten, die einen Betriebsrat gründen wollen, kommen eigentlich nie zu Anzeige, Anklage oder gar Verurteilung.

In § 1 des Betriebsverfassungs-Gesetzes heißt es: „In Betrieben mit mindestens fünf wahlberechtigten Arbeitnehmern werden Betriebsräte gewählt.“ Aber es gibt nur in 9 Prozent dieser Betriebe überhaupt einen Betriebsrat, wobei diese Zahl angesichts der vielfachen Auslagerung von Tochterfirmen noch übertrieben ist. Das Vollzugsdefizit besteht, weil die Betriebsräte und ihre Rechte so wenig geschätzt und geschützt sind. Weil heute die Wahl eines Betriebsrates, gerade in neuen Branchen, ein unkalkulierbares Abenteuer ist. Und die Unternehmen haben aufgerüstet mit professionellem Union Busting. Wenn kleine aggressive Kanzleien und auch große „renommierte“ Arbeitsrechtskanzleien Schulungen durchführen, wie die Wahl von Betriebsräten verhindert oder in vorstandsdienliche Bahnen gelenkt werden kann – die Justiz geht nicht gegen diese professionelle Beihilfe zum Rechtsbruch vor.

Die Liste der straflosen Gesetzesverstöße der privatkapitalistischen Seite ist noch lang: Die etwa eine Milliarde der meist erpressten, unbezahlten Überstunden pro Jahr, das sind zumindest die offiziell dokumentierten unbezahlten Überstunden. Die Drohung mit einem „empfindlichen Übel“ – etwa mit Entlassung oder Schließung des Betriebs – ist die rechtliche Definition für Erpressung – Paragraph 253 Strafgesetzbuch. Weiter in der Liste: die millionenfach vorenthaltenen Mindestlöhne. Weiter: Beim sommerlichen Bau-Boom nimmt die Zahl der offiziellen Arbeitsplätze kaum zu. Denn in jeder größeren Stadt wird ganz öffentlich ein Arbeiterstrich betrieben.6 Auch die Arbeitsausbeutung von Migranten bleibt meist straflos. Die Verletzung von Ankündigungsfristen für die Arbeitsschichten bei der Arbeit auf Abruf (Kapovaz, Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit) bleibt straflos.7

Die von McKinsey, Accenture & Co dauerberatenen Jobcenter überziehen Arbeitslose jährlich mit mehr als 200.000 rechtswidrigen Bescheiden. Auch hier wird wie bei den unbezahlten Überstunden eine Dunkelzone ausgebaut, denn es wird einkalkuliert, dass viele Jobcenter-“Kunden“ demoralisiert sind und keinen Widerspruch einlegen.8

Kapitalistische Großbetrüger bleiben bekanntlich auch sonst straflos. Das sind nicht nur Banken, sondern auch zum Beispiel die großen Autokonzerne wie VW, BMW, Daimler, Audi. Ihre Chefs haben in organisierter Dauerkriminalität die Aufsichtsbehörden und Millionen Kunden mit hohem professionellem Aufwand und mit Duldung ihrer Großaktionäre wie BlackRock&Co betrogen. Und sie tragen nach wie vor selbstbereichernd dazu bei, das Klima anzuheizen, die Gesundheit von Millionen Menschen zu schädigen und die Sterblichkeitsraten insbesondere in den Städten in die Höhe treiben.

Female Subtopic – weibliche Aspekte ausgeblendet

Bei den Arbeitsrechten gibt es auch den female subtopic. Der wird allerdings übertönt von einem female hypertopic: So setzt sich etwa die Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit der IWF-Präsidentin Christine Lagarde und der US-Präsidententochter Ivanka Trump dafür ein, dass schwarze Frauen in Afrika Unternehmerinnen werden können. Gut so. Ein deutsches Gesetz verlangt, dass in Aufsichtsräten von Unternehmen allmählich mindestens 30 Prozent Frauen sein müssen – das betrifft aber nur die 100 größten Unternehmen, und nur deren Aufsichtsräte und z.B. nicht die Vorstände. Immerhin. Frauen in Führungspositionen: Gut so!

#MeToo: Niedriglohn und brutale Ausbeutung? Kein Thema.

Bei #MeToo wird sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen angeprangert. Schön! Aber: Frauenlöhne in Deutschland liegen um 22 Prozent niedriger als bei Männern9 – eine Verletzung der Menschenrechte: Schon mal bei #MeToo aufgetaucht? Hunderttausende junge Frauen vor allem aus osteuropäischen Staaten werden von einer mafiotischen Dienstleistungsindustrie in den europäischen Zentral-Bordell-Staat Deutschland verbracht: Sie dienen als Billig-Prostituierte in der EU-Spitzen-Bordell-Nation Deutschland.10 Hunderttausende Frauen aus Polen, Ukraine und Kroatien dienen für Unterkunft, Verpflegung und einen Minilohn als Altenbetreuerinnen in deutschen Familien – vielfach ohne Arbeitszeit-, Pausen- und Urlaubsregelung.11 Sie arbeiten im Durchschnitt 69 Stunden pro Woche.12 Alles kein Skandal, auch nicht für die medial gehätschelte Empörungsindustrie von #MeToo.

Wenn männliche oder auch weibliche GeschäftsführerInnen von Supermarktketten dank ihrer kapitalistischen Kommandogewalt Kassiererinnen und Putzfrauen demütigen – da setzt kein #MeToo ein.

Health subtopic – Gesundheitsgefährdung durch Unterlassung

Der Staat fördert in Komplizenschaft mit Unternehmen die Körperverletzung in der Arbeitswelt. Unter den Arbeitsministern Olaf Scholz und Ursula von der Leyen wurde die Abteilung für Arbeitsmedizin weiter dezimiert, der langjährige Leiter der Abteilung Berufskrankheiten wurde 2010 in Frühpension geschickt.

So agieren die von den Unternehmern finanzierten Berufsgenossenschaften mafiotisch, ohne staatliche Kontrolle, in Eigenregie. Nur 7 Prozent der Anträge auf Zahlung einer Pension wegen einer berufsbedingten Krankheit werden anerkannt. Hier sind Universitätsprofessoren nebenbei als hochbezahlte Gutachter tätig, und zwar ohne Rechtsgrundlage, denn sie sind keine Ärzte und werden hilfsweise als „beratende Ärzte“ bezeichnet.

Dieses tödliche, unternehmerfinanzierte Schattenreich wird von der Bundesregierung geschützt.13 Und wer spricht schon von der seit 2005 wieder angestiegenen Zahl der 2.576 Beschäftigten, die 2016 durch Berufskrankheiten starben und den 557 Toten durch Arbeitsunfälle?14 Auch hier ist die Dunkelzone enorm, denn bei diesen Zahlen handelt es sich nur um die offiziellen Zahlen und um Beschäftigte, die ordentlich versichert waren.

Arbeit und Arbeitsrechte in der Europäischen Union

Deutschland führt bekanntlich in der EU bei der Ausbeutung der abhängig Beschäftigten. Dies betrifft nicht nur die Beschäftigten in Deutschland selbst. Der deutsche Niedriglohn-Sektor treibt das Dumping von Löhnen und Arbeitsrechten in der ganzen EU voran. Mit besonderem Einsatz der Bundesregierung wurden in den Krisenstaaten wie Griechenland die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte abgebaut, gelbe Gewerkschaften legitimiert, Mindestlöhne und Arbeitslosenzahlungen gesenkt. Vor allem Unternehmen aus Deutschland werben billige und willige Wirtschaftsflüchtlinge aus den von der EU verarmten EU-Peripherie-Staaten an und können, so bilanziert der Sozialwissenschaftler Stefan Sell, „über die mitesserhafte Verwertung der im Ausland qualifizierten Arbeitskräfte die Rendite aus einer Investition abschöpfen, die man gar nicht getätigt hat.“15

Während die EU und die Bundesregierung Kritik an rechtsradikalen Regierungen wie in den USA, Polen und Ungarn heucheln, investieren deutsche und europäische Konzerne gerade in diesen Staaten. Die bieten noch niedrigere Niedriglöhne, abgesenkte Sozialabgaben, Behinderung von Streiks und Flächentarifen.16

Hunderttausende rechtlose Billig-Arbeiter und –Arbeiterinnen werden auf den Obst- und Gemüse-Plantagen in Süditalien und Spanien gehalten. Diese Arbeitsreserve-Armeen kommen vielfach aus ehemaligen Kolonien, etwa aus Nord- und Mittelafrika und aus verschiedenen Staaten des Nahen Ostens, wo der Westen und seine islamistischen Freunde Kriege führen. Die EU, namentlich der christlich firmierende Agrarkommissar Phil Hogan, subventioniert weiter die dortigen Agrarunternehmer.17 In „befreiten“ Libyen ermöglichen die Bundesrepublik und die EU mit ihrer Flüchtlingsabwehr den modernen Sklavenhandel: Dort bieten Händler auf dem Markt kräftige junge Flüchtlinge für 400 Euro als Landarbeiter an.18

Chancen und Ambivalenzen im Umbruch

Ich hatte anfangs gesagt, dass die Arbeitsrechte und zudem die Tatsache, dass sie zu den universellen Menschenrechten zählen, gegenwärtig so verdrängt, politisch, medial, justiziell und auch in den offiziellen Frauenbewegungen so nicht existent sind wie noch nie in der jüngeren Geschichte.

Aber gleichzeitig ist es auch so, und ebenso wie noch nie in der jüngeren Geschichte: Die aktive Zustimmung zu dieser Arbeits-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war noch nie so gering wie heute. Das verschafft uns und den vielen vergleichbaren Initiativen neuen Spielraum.

Dafür gibt es viele Anzeichen, die aber teilweise ambivalent sind. So empfindet die Mehrheit der in unterschiedlicher Form abhängig Beschäftigten bei Befragungen die Arbeitsverhältnisse mehrheitlich als ungerecht. Niedrige monatliche Einkommen von 1.200 Euro brutto werden sogar von 96 Prozent als ungerecht bezeichnet, mittlere Einkommen von 2.700 Euro noch von 81 Prozent. Einkommen von 6.100 Euro werden von 38 Prozent als zu hoch, aber von 50 Prozent als gerecht angesehen, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im September 2018.19

Man kann diese „Volksstimmung“ für kritisch halten und zum Beispiel daraus folgern, dass eine Gerechtigkeitskampagne wie die des kurzzeitigen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz doch enorm aussichtsreich sein müsste. Doch das Problem steckte schon in der Wortwahl von Schulz und genauso steckt es dieser Art Umfrage selbst: Sie bewegt sich innerhalb der Unter- und Mittelklasse. Erstens: Es bleibt beim rechtlich unverbindlichen Begriff „ungerecht“; Begriffe wie gesetzwidrig oder menschenrechtswidrig tauchen nicht auf. In den Leitmedien wird zudem das „ungerecht“ in das noch diffusere „unfair“ uminterpretiert. Zweitens: Monatliche Einkommen von einer Million und mehr bei Topmanagern und vor allem die Groß-Aktionärseinkommen von 50 oder 500 Millionen oder zum Beispiel die diesjährigen 1,1 Milliarden Euro der beiden Quandt-Erben bei BMW werden gar nicht abgefragt. Drittens und vor allem: Die Befragten werden gar nicht gefragt, ob sie die als ungerecht „empfundenen“ Verhältnisse ändern wollen.

Bewegungslose Lethargie: Dienst nach Vorschrift. Bullshit-Jobs

So tragen auch solche Umfragen dazu bei, das Verhältnis zwischen den Einkommen aus abhängiger Arbeit und Kapitalgewinn zu verdunkeln, das Rechtsempfinden abzuschleifen und rechtlich begründete Gegenwehr zu ersticken. So kreist die empfundene Ungerechtigkeit in den unteren sozialen Milieus und in den Seelen und im Bewusstsein der Individuen ungelöst in sich selbst – und ist damit politisch ambivalent, kann nach links gehen, kann nach rechts gehen oder bewegungslos und krankmachend vor sich hin köcheln.

Ein Ausdruck der bisher mehrheitlichen Bewegungslosigkeit ist die hohe Zahl derer, die nur noch „Dienst nach Vorschrift“ machen – 71 Prozent. 14 Prozent, also fünf Millionen Beschäftigte haben eine „innere Kündigung“ vollzogen.20 In gehobenen Berufen ist ähnlich das diffuse Empfinden verbreitet, man mache einen „Bullshit“- oder „Scheiß-Job“. Aber fast alle arbeiten trotzdem irgendwie weiter, schleppen sich krank21 und maulend zur Arbeit, stehen nicht auf, raffen sich nicht auf zu gesundheitsförderndem Widerstand – bestenfalls hofft man irgendwie auszusteigen, vielleicht in die ärmliche Frührente. Aber dann klappt das doch nicht.

Und dazu wird von fleißigen Halblinken und barmherzigen Unternehmern das bedingungslose Grundeinkommen als Glückskarotte vor die Nase gehalten – aber die Arbeitsverhältnisse wollen sie nicht ändern.

Arbeits-Visionen über das geltende Recht hinaus

Dabei, so glaube ich, müssen wir die Frage des Sinnes und des Inhalts der Arbeit radikal stellen. Die Forderung nach „guter Arbeit“ bei einzelnen DGB-Gewerkschaften ist wohl gut gemeint, aber diffus, lustlos, verzagt, berührt nicht wirklich den Sinn der Arbeit und die mögliche Freude daran. Die Veränderung des Sinns müssen wir aber selbst in die Hand nehmen.

Rüstungskonversion, neue Arbeitsplätze bei erneuerbaren Energien sind Ansätze, die von einer weitergehenden Vision geprägt sind. Eine solche Vision treibt auch die vielen Aktivisten und Sympathisanten im Hambacher Forst an, die seit Jahren hartnäckig und mit existenziellem Einsatz gegen die Umwelt- und Menschenvergifter des von den Regierungen und Großaktionären wie Blackrock gehätschelten Braunkohlekonzerns RWE22 ankämpfen. Wie schwer das schon innerhalb der Gewerkschaften ist, bekommt die kleine Initiative Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für Klimaschutz zu spüren. Deshalb von hier aus ein herzlicher und solidarischer Gruß zu den Aktivisten und Demonstranten heute im Hambacher Forst!

In den Bewegungen gegen die neuen Freihandelsverträge wie CETA, TISA und TTIP sind ebenfalls Visionen entwickelt worden, zu gerechtem Handel und auch zu alternativen regionalen Wirtschaftskreisläufen und zu gesunden Produkten. In der Kritik dieser Freihandelsverträge haben viele, die aus der Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung kommen, übrigens erstmals entdeckt, dass es da auch um Arbeitsrechte geht oder gehen muss.

Arbeitsrechte als Teil der universellen Menschenrechte

Das mehrheitliche gewerkschaftliche Herangehen, das auf die Einhaltung der materiell geltenden Arbeits-Gesetze pocht und auf den Gang zum Arbeitsgericht orientiert, hat nie ausgereicht und reicht heute noch viel weniger, so wichtig auch jedes einzelne Verfahren ist. Die Vision muss davon ausgehen, dass Arbeitsrechte universelle Menschenrechte sind. Dazu gehört das Recht auf Arbeit überhaupt, aber schon gar nicht auf jede Arbeit, die man heute annehmen muss, um zu überleben.

Zu den universellen Menschenrechten gehört auch das Recht auf kollektive Interessenvertretung mit Streikrecht, auf gleichen Lohn für Frau und Mann, auf ausreichende Krankheits- und Rentenversicherung, auf bezahlten Urlaub, auf Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, die Ablehnung von Zwangsarbeit, das Recht auf menschenwürdige Wohnung undsoweiter undsofort – festgeschrieben in der UNO-Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte und bei den 200 Arbeitsrechts-Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.23 Allerdings sind diese Rechte keineswegs überall auf der Höhe etwa der digital gestalteten und gestaltbaren Arbeitsverhältnisse und müssen weiterentwickelt werden.

Wenn es Obergrenzen für Staatsschulden geben kann, dann kann es auch Obergrenzen für Arbeitslosigkeit und für Arbeitszeiten geben, zum Beispiel. Und es kann auch das Recht von Betriebsräten geben, im Unternehmen mit zu entscheiden, wer das Unternehmen führt, welche Produkte und wie hergestellt und wofür die Gewinne verwandt werden.

Sich gemeinsam und dauerhaft zusammentun und kämpfen!

Der Knackpunkt zur Änderung und Überwindung des Arbeits-Unrechts-Systems ist es, dass die Vereinzelten nicht unzufrieden vereinzelt bleiben, sondern sich demokratisch und im Namen der Menschenrechte zusammentun, gemeinsam kämpfen, selbständig kämpfen und dies auf Dauer. Wir stehen dabei mitten in einem Umbruch.

Immer mehr Initiativen haben sich gebildet und bilden sich neu, mit und vielfach ohne Gewerkschaft. Sie fordern Rechte für klassisch abhängig Beschäftigte, aber auch für scheinselbständige Fahrradkuriere, für Honorarkräfte an Universitäten und Musikschulen, für Leiharbeiter, für journalistische free lancer, für professionell bekämpfte Betriebsräte und nicht zuletzt für Arbeitslose. Bei unseren bisher zweimal im Jahr organisierten Kampagnen Schwarzer #Freitag13 haben sich in der Abstimmung auf unserer Website und dann am Tag selbst verschiedene Gruppen in 15 bis 20 Städten beteiligt. Aber eine Daueraktivität ist das noch keineswegs, sondern ein Anstoß.

Wir wie andere Intitiativen freuen uns, wenn wir dann mal in den Medien wenigstens erwähnt werden oder sogar mal in tagesschau.de auftauchen wie bei unserer Kampagne gegen die prekären Arbeitsverhältnisse in der schwerreichen Textilkette H&M. Aber da sind wir den Launen der anderen Seite ausgeliefert. Das macht abhängig. Das ist schlecht. Deshalb sollten wir uns Urlaub von solchen Medien genehmigen und weniger allein zuhause im Internet herumsuchen. Wir sollten vielmehr kollektive und anspruchsvolle Medien aufbauen und selbst Forschungen organisieren. Mit videos zu unseren Aktionen und mit dem erfolgreichen crowdfunding für die Studie über die Situation prekärer Piloten in Europa haben wir dazu einen Anfang gemacht.

Wir können auch von Initiativen in anderen Staaten lernen. Ich denke da etwa an Nuit Debout (Aufstehen in der Nacht) in Frankreich, eine landesweite Bewegung, die Massenproteste gegen das Hartz-Imitat des Rothschild-Bankiers Macron auf die Beine stellen konnte. Oder ich denke an die Initiative Jobs with justice in den USA – auch gegen die Regierung von Präsident Obama und den Mindestlohn von 7 Dollar 25 Cent konnte sie für viele Beschäftigte etwa von McDonald’s mit einer breit, auch in Kommunalparlamenten unterstützten Bewegung, einen Stundenlohn von 15 Dollar erstreiken.

Diese Initiative Jobs with Justice, die mit Gewerkschaften zusammenarbeitet, organisiert jetzt auch ein mediales Projekt: Sie sammelt Fotos und videos von eigenen Aktionen des letzten Jahres, aber auch von anderen ähnlichen Gruppen, um damit für einen nationalen, digitalen Wandkalender zu erstellen.

Die Union Buster haben sich in nationalen und internationalen Arbeitsrechts-Organisationen zusammengetan. Wir halten es für notwendig, dass sich auch die gewerkschaftlich und menschenrechtlich orientierten Arbeitsrechts-Anwälte zusammenschließen.

Wir sollten, entgegen dem organisierten Vergessen, Verdrängen und Verfälschen der Arbeits- und Gewerkschaftsgeschichte unseren Horizont historisch vertiefen. Hier besteht auch ein historical subtopic. Deshalb beschäftigen wir uns heute Abend mit der Novemberrevolution vor 100 Jahren im katholisch und monarchisch versifften Köln. In anderen Städten sind solche Initiativen schon weiter und haben sich, wie ich erst vor einigen Tagen erfahren habe, bundesweit zusammengeschlossen.

Wir werden weiter dazu beitragen, den Schlaf des Arbeitsrechtes und der Menschenrechte zu stören. Wir wollen weiter neue Mitglieder gewinnen. Wir müssen diese Arbeit internationalisieren und vor allem auch auf Dauer stellen. Davon sind wir noch weit entfernt, aber wir und viele andere haben angefangen.

Die große Reise hat mit den ersten Schritten begonnen. Wir sind mittendrin.

Weiter geht’s!

Anmerkungen / Fußnoten

1 Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR 1990, Artikel 30 „Arbeit und Soziales“, www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/art_30.html

2 Handelsblatt 24.9.2018

3 Jürgen Klute: Wer die Durchsetzung von Menschenrechten in Unternehmen tatsächlich blockiert,  europa.blog, 22.9.2018, https://europa.blog/wer-die-durchsetzung-von-menschenrechten-in-unternehmen-tatsachlich-blockiert/

4 Annelie Buntenbach: Maulkorb für Beschäftigte, https://www.dgb.de/themen 12.9.2018

5 Werner Rügemer / Elmar Wigand: Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und die professionelle Bekämpfung von Gewerkschaften. Köln 2017 3. erweiterte Auflage

6 Wanderarbeiter und Stundenlöhner werden in der Baubranche besonders ausgebeutet – Kontrollen gibt es kaum, https://gewerkschaftsforum.de 25.9.2018

7 Siehe Werner Rügemer: Arbeitsverhältnisse: Unternehmer als ungestrafte Rechtsbrecher, in: Hans-Jürgen Bruder u.a. (Hg.): Gesellschaftliche Spaltungen, Göttingen 2018, S. 207 – 222.

8 Jobcenter: Jahresrückblick 2017, https://www.gegen-hartz.de 26.2.2018; Anett Wittich/Stine Bode: Wie das Jobcenter Hartz IV-Bezieher schikaniert, ARD plus minus 29.8.2018

9 Frauen werden in Deutschland besonders ungerecht bezahlt, Spiegel online 28.11.2017

10 Bordell Deutschland. Das Milliardengeschäft mit der Prostitution, ZDF 18.11.2017, 22.00 – 23.15 Uhr

11 Marianne Egger de Campo: Seniorensitterinnen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 38-39/2015, S. 17ff.

12 Bernd Müller: Menschenrechte mißachtet, junge Welt, 24.9.2018, https://www.jungewelt.de/artikel/340386.soziale-sicherung-menschenrechte-missachtet.html

13 Das Schattenreich: Arbeitsmedizin und Gesetzliche Unfallversicherung, http://anstageslicht.de/Themen, abgerufen 18.9.2018

14 Franz H. Müsch: Berufskrankheiten-Todesfälle. Anhaltendes Hochplateau seit 2005, Arbeit und Arbeitsrecht 9/2018, S. 530f.

15 Stefan Sell: Import hui, Export pfui?, http://aktuelle-sozialpolitik.de/2018/09/16/aerzte-import-hui-aber-export-pfui/, 16.9.2018

16 Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Köln 2018, S. 83 ff. und 313ff.; Diethmar Lamparter: Der doppelte Orban, Die Zeit 4.10.2018

17 Europas dreckige Ernte, ARD/die story 9.7.2018

18 Bilder von libyschen Sklavenmärkten schockieren Europa, Der Tagesspiegel 28.11.2017

19 Niedrige Löhne findet die große Mehrheit als ungerecht, Pressemitteilung 12.9.2018 DIW

20 Studie: Fünf Millionen Deutsche haben innerlich schon gekündigt, Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.8.2019

21 Zahl der Krankschreibungen in Deutschland stark gestiegen, Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linken, https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten 21.9.2018

22 Zu BlackRock-RWE siehe Rügemer, Die Kapitalisten, S. 21

23 Auch die Nationale Arbeitskonferenz (NAK) bezieht sich inzwischen auf die Arbeits- und Sozialrechte des UN-Sozialpakts