Aus unseren Kämpfen lernen: Die «Streikkonferenz» ist mittlerweile die größte linksgewerkschaftliche Diskussionsplattform in Deutschland

Von Fanny Zeise

Sommerpause in Deutschland. Seit Wochen Sonne und hohe Temperaturen. Die Menschen haben Ferien, fahren an den See oder sitzen im Biergarten. Aber so entspannt sieht es nicht überall aus. Bei der Gießerei Neue Halberg Guss findet ein erbitterter Arbeitskampf statt, der mit sechs Wochen Ausstand als einer der längsten in Ostdeutschland gilt.

Die Auseinandersetzung enthält Elemente eines Wirtschaftskrimis: Der neue Eigentümer von Halberg Guss, Prevent, versuchte, als großer Zulieferer der Automobilindustrie, den Druck in der Wertschöpfungskette umzudrehen und forderte von den großen Auftragsnehmern wie VW und Opel horrende Preise für seine Produkte. Nach dem Scheitern dieser Strategie beschloss die Unternehmensleitung die Schließung des Werkes in Leipzig und massiven Stellenabbau am Standort Saarbrücken.

Die Beschäftigen wehren sich dagegen, im Wettbewerb profitgieriger Unternehmen zerrieben zu werden. Als Reaktion auf ihren Streik haben 22 Unternehmen, unter anderem der Motorenbauer Deutz, in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Juli eine Anzeige geschaltet, in der sie fordern endlich wieder die Arbeit aufzunehmen. Hintergrund ist ihre Abhängigkeit von Lieferungen der Motorblöcke von Halberg Guss im Produktionsprozess. Nachdem Prevent noch Mitte Juli erfolglos versuchte, den Streik gerichtlich zu untersagen und die Verhandlungen über einen Sozialplan für die Beschäftigten immer wieder stockten, hat sich das Unternehmen Ende Juli auf Vorschlag der IG Metall auf eine Schlichtung eingelassen.

Aktuell ist noch unklar, mit welchem Ergebnis der Arbeitskampf endet und wie die Streikenden dem wachsenden Druck, in Folge der öffentlichen Wortmeldung der 22 Firmenchefs der Großunternehmen und der Angst vor Kurzarbeit der dortigen Beschäftigten, standhalten. Bisher jedenfalls war der Streik ökonomisch höchst wirksam und hat massive öffentliche  Aufmerksamkeit und Sympathie erhalten.

Halberg Guss verfügt über eine besondere Monopolstellung im Produktionsprozess der Automobilindustrie. Aufgrund der Just-in-Time-Produktion, in der die Lagerhaltung gering ist und die Lieferungen zum richtigen Zeitpunkt eintreffen müssen, verfügen die Beschäftigten zunehmend über eine erhebliche Produktionsmacht und schon kurze Ausstände können Leerlauf in den Unternehmen auslösen. Dass diese aber so konsequent genutzt wurde, muss auch mit der Strategie, Standfestigkeit und Entschlossenheit der kämpfenden KollegInnen im Betrieb und der hauptamtlichen IG Metaller zu tun haben. Dass die Beschäftigten die volle Lagerhalle und die Auslieferung der fertigen Produkte an die Kunden blockierten und die Polizei sich weigerte, die Blockade auf Druck des Unternehmens aufzulösen, zeigt das eindrücklich. Wichtig für die Entscheidung der Staatsdiener dürfte auch die Stimmung in Leipzig gewesen sein. Die Stadt ist mittlerweile so etwas wie eine Hochburg der Streiksolidarität geworden, geprägt von den Kämpfen der Beschäftigten des nahegelegenen Amazon-Versandzentrums.

Die Ursachen der Dynamik des Streiks bei Halberg Guss genauer zu untersuchen ist sinnvoll, um daraus zu lernen und positive Elemente in anderen Arbeitskonflikten zu übernehmen. Denn die ArbeiterInnenbewegung muss mit Veränderungen des Arbeitsmarktes, der Produktion und den Strategien der Kapitalseite Schritt halten, ihrerseits Innovationen entwickeln und ihre Strategien und Kampfformen anpassen. Diese anzustoßen, zu entwickeln und voranzutreiben, war und ist die Aufgabe der gewerkschaftlichen Linken.

In einzelnen großen Streiks der letzten Jahre aber vor allem in kleineren Arbeitskonflikten sind Ansätze einer veränderten Gewerkschaftsarbeit zu entdecken. Auf der – umgangssprachlich meist als Streikkonferenz bezeichneten – «Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung» sollen diese Ansätze reflektiert und in umfassendere Lernprozesse überführt werden. Die Konferenz will ein Forum für den gewerkschaftsübergreifenden Austausch über innovative Gewerkschaftsarbeit sein, der in den Gewerkschaften selbst leider oft noch zu wenig stattfindet.

Denn nach wie vor haben die deutschen Gewerkschaften Nachholbedarf in Bezug auf konfliktorientierte Gewerkschaftsarbeit, weil sich Gewerkschaftsarbeit im deutschen sozialpartnerschaftlichen Modell jahrelang im Verweis auf die latente Möglichkeit des Streiks erschöpfte.

Gewerkschaften in der Defensive

Die Schwächung der Gewerkschaften, in Folge der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Einführung von Hartz IV Seitens der Schröder-Fischer-Regierung Anfang diesen Jahrhunderts, erleichtert es den Arbeitsgebern ihre Interessen durchzusetzen. Sie kündigen die lästig gewordene Sozialpartnerschaft einseitig auf und bekämpfen Betriebsräte und Gewerkschaften. Oder sie setzen weiterhin auf die kooperative Zusammenarbeit mit den Beschäftigtenvertretern aber mit dem Anspruch, angesichts der massiv veränderten Kräfteverhältnissen, Zugeständnisse von ihnen zu erhalten.

Die Gewerkschaften haben oft noch keine adäquaten Antworten auf die massive Offensive der Kapitalseite gefunden. Gewerkschaftsarbeit war und ist von Rückzugsgefechten und Defensivkämpfen gekennzeichnet. Oftmals muss schon gestreikt werden, um Arbeitgeber überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen. Vielerorts werden Gewerkschaften in neue betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen gezwungen. An einigen Stellen entstehen Häuserkämpfe in prekären Bereichen, die oft mit dem Mut der Verzweiflung geführt werden. Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten für einen Tarifvertrag, die Streiks im Call Center oder in ganzen Branchen wie dem Reinigungsgewerbe oder dem Einzelhandel, stehen für diese Entwicklung, die in starken Maße den Dienstleistungsbereich betreffen.[1]

In diesen Kämpfen wurden neue Formen des Streiks entwickelt, die sich auf ein gewerkschaftsfeindliches Umfeld und unsichere Beschäftigungsverhältnisse einstellen. Beispielsweise werden die Schwierigkeiten beim Aufbau ökomischen Drucks – etwa weil Beschäftigten eingeschüchtert werden, sich nur eine Minderheit an Streiks beteiligt oder weil StreikbrecherInnen eingesetzt werden – mit Öffentlichkeitsarbeit und Bemühungen um externe Unterstützung kompensiert.

Amazon – Labor des Widerstands

Amazon kann in diesem Feld als ein «Labor des Widerstands» (Boewe/Schulten) für die ArbeiterInnenbewegung angesehen werden. Die Beschäftigten haben Formen gefunden, sich den Versuchen der Spaltung und Einschüchterung des Unternehmens entgegen zu stellen. Ein Aspekt davon war, die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von BündnispartnerInnen außerhalb des Betriebes gezielt zu suchen. Um die Auseinandersetzung bei Amazon bildete sich in Leipzig ein Streiksolidaritätsbündnis. Um ökonomisch Druck auszuüben und sparsam mit Streiktagen und damit den finanziellen gewerkschaftlichen Ressourcen umzugehen, entwickelten die Amazon-Beschäftigten eigenständig eine Nadelstichtaktik, mit der sie das Unternehmen gezielt z.B. im Weihnachtsgeschäft bestreikten. Gleichzeitig treiben sie eine internationale Vernetzung mit KollegInnen aus anderen Ländern voran, um Streiks zu koordinieren. Und tatsächlich streikten Anfang Juli 2018 am Prime-Day, dem Sonderangebotstag des Unternehmens, Amazon-Beschäftigte in Spanien, Deutschland und Polen parallel.

Viele dieser innovativen Methoden können in ähnlichen Auseinandersetzungen übernommen werden. Gleichzeitig ist Amazon aber auch ein beeindruckendes, konkretes Beispiel für die Selbstermächtigung und Strategiefähigkeit der Beschäftigten. Es zeigt Alternativen zur vorherrschenden Stellvertreterpolitik auf und macht Mut für eine demokratische und emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit.

Neue Streikakteure im öffentlichen Dienst

Die Politik der Austerität, Privatisierungen und die Zersplitterung der Tariflandschaft haben zu einer Zunahme von Auseinandersetzungen im Dienstleistungsbereich, aber auch zu einer Verschiebung von Auseinandersetzungen innerhalb des öffentlichen Dienstes geführt. So regt sich in vielen ehemals öffentlichen Bereichen Widerstand. Wie die als “Kampf der Töchter“ bekannt gewordenen Auseinandersetzungen, in denen sich Beschäftigte unter anderem in den ausgelagerten Servicegesellschaften von Krankenhäusern gegen das Dumping von Löhnen und Arbeitsbedingungen wehren. Die Auswirkungen von Privatisierung und Deregulierung ist in der vormals staatlichen Post besonders drastisch und führte 2015 zu einem wochenlangen Streik in dem lange für seine sozialpartnerschaftlichen Strukturen bekannten Unternehmen.

Aber auch innerhalb des öffentlichen Dienstes bereichern zunehmend neue Beschäftigtengruppen das Streikgeschehen. Auf Grund von Privatisierung und Spartentarifverträgen sind die Müllwerker und die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr nicht mehr zwingend die Vorkämpfer der Tarifrunden im öffentlichen Dienst. Immer wichtiger werden hier die sozialen Dienstleistungsberufe, in denen ver.di zunehmend in Offensivkämpfe geht.

In einer Branche wie dem Sozial- und Erziehungsdienst, mit einem Frauenanteil von 95 Prozent, beteiligten sich im Jahr 2015 150.000 Beschäftigte bis zu vier Wochen an den Streiks. Nicht nur sie, sondern auch die Streiks im Einzelhandel, im Reinigungsgewerbe und in den Krankenhäusern widerlegen eindrucksvoll das alte Vorurteil, Frauen würden sich nicht für ihre Interessen einsetzen und lösen das Bild des Arbeiters im Blaumann als Sinnbild der deutschen Gewerkschaftsbewegung ab.

Die Fotos der damaligen Kundgebungen mit zehntausenden Frauen erinnern an aktuelle Aufnahmen des Frauengeneralstreiks in Spanien und wurden sicherlich auch von der Empörung über das ungleiche Lohnniveau der Geschlechter gespeist. Dieser Motivation nachzugehen, den Erfolg der Mobilisierung in Spanien zu untersuchen und Kämpfe für Entgeltgleichheit weiterzutreiben, ist eine wichtige Aufgabe der Gewerkschaften.

Bewegung für mehr Personal in den Krankenhäusern

Eine zentrale Frage der Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst lautet: wie kann es gelingen, ökonomischen Druck aufzubauen, wenn unmittelbar zunächst die NutzerInnen (etwa des öffentlichen Nahverkehrs, AntragsstellerInnen von Personalausweisen in der öffentlichen Verwaltung oder PatientInnen in den Krankenhäusern) unter Streiks leiden? Der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst machte das Dilemma sehr deutlich, als die Kommunen Personalkosten sparten und hart in den Verhandlungen blieben, während die  Kita-Eltern verzweifelt versuchten, die Betreuung ihrer Kinder privat zu organisieren und die öffentliche Stimmung sich schließlich gegen den Streik wandte.

Dieses Problematik konnte in der mittlerweile einige Jahre andauernden Bewegung für mehr Personal im Krankenhaus aufgelöst werden indem zum einen eine Strategie entdeckt wurde, durch Streiks wirtschaftlichen Schaden zu erreichen, ohne die Patienten zu gefährden, und zum anderen die Auseinandersetzung politisiert und in die Öffentlichkeit getragen wurde.

Gespeist wurden die Bewegung von der Erfahrung, auf Grund von Personalmangel und Überlastung dem Kern des Berufes, der Sorge um den Menschen, nicht mehr gerecht zu werden. Die Gewerkschaft ver.di, aber auch Patientenverbände, DIE LINKE und andere Akteure hatten den offensichtlichen Personalmangel und die marktförmige Zurichtung der Krankenhäuser schon lange kritisiert. Öffentliche Aufmerksamkeit bekam das Thema allerdings erst, als die Pflegenden mit ihrem Streik am Berliner Klinikum Charité begannen, ökomischen Druck auszuüben. Als Voraussetzung hierfür mussten sie ihre Produktionsmacht entdecken und lernen im Krankenhaus zu streiken, ohne die PatientInnen zu gefährden.

Dabei nutzten die Streikenden die neoliberale Umstellung der Krankenhausfinanzierung nach dem Fallpauschalen-Modell. Während die früheren Tagessätze auch bei Streiks weitergezahlt wurden, macht die Klinik heute Verluste beim Ausfall von Operationen und der Abweisung von PatientInnen auf Grund von Streiks. Zudem drängten die Gewerkschaftsaktiven auf den Abschluss einer Notdienstvereinbarung, die die Klinikleitung verpflichtete, im Vorfeld des Streikes Betten und Stationen zu schließen und Operationen abzusagen. Dadurch wurden Streiks möglich, bei denen kein Patient gefährdet, aber – anders als im Sozial- und Erziehungsdienst – ökonomischer Schaden verursacht wurde. Sie zwangen die Charité schließlich zu der Unterzeichnung des ersten Tarifvertrages für Personalbemessung und führten zu einer bundesweiten Bewegung für mehr Personal im Krankenhaus.

Der Streik war eng verknüpft mit einer Politisierung der Auseinandersetzung, die mit dem Slogan «Mehr von uns ist besser für alle» geführt wurde. Damit machten sie die gesamtgesellschaftliche Dimension der Auseinandersetzung deutlich und erreichten eine breite Unterstützung in Öffentlichkeit und Bevölkerung, die sich auch in der Gründung von Solidaritätsbündnissen in Städten in denen gewerkschaftliche Auseinandersetzungen stattfinden, ausdrückt. Momentan befinden sich die Universitätskliniken Düsseldorf und Essen im unbefristeten Arbeitskampf und die Universitätsklinik des Saarlandes bereitet sich auf einen Streik vor. In Hamburg, Berlin und Bayern wurden Volksbegehren für mehr Personal im Krankenhaus gestartet, die großen Zuspruch in der Bevölkerung erhalten. Die Zugeständnisse von Gesundheitsminister Jens Spahn sind als ein  – bisher noch uneingelöstes – Zugeständnis auf der politischen Ebene an diese erfolgreiche Bewegung zu sehen.

Aus den Kämpfen der gewerkschaftlichen Aktiven im Pflegebereich kann – auch im Detail – viel gelernt werden. Ganz grundsätzlich verweist das Beispiel darauf, wie das politische Mandat effektiv im Bündnis mit anderen Akteuren und unter Einsatz der eigenen betrieblichen Machtressourcen genutzt werden könnte. Diese Erfahrung der Verknüpfung der politischen und der betrieblichen Ebene könnte für andere Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge, aber auch für den Kampf gegen prekäre Beschäftigung, eine Inspiration sein.

Streik für Arbeitszeitverkürzung bei der IG Metall

Während den Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich viele Konflikte aufgezwungen wurden und sie Gelegenheit hatten, neue Konfliktformen und Strategien auszuprobieren, gibt es im Organisationsbereich der IG Metall weniger Arbeitskämpfe. Aber auch hier sind Gewerkschaften mit Tarifflucht, Auslagerungen und dem Vormarsch prekärer Beschäftigung konfrontiert.

In den kaum organisierten und tariflosen Randbereiche probiert die IG Metall neue offensivere Strategien aus. Davon zeugen die so genannten «Gemeinsamen Erschließungsprojekte» (GEP) die die Aufgabe haben, Mitglieder zu werben und neue Betriebe zu erschließen und dafür auf Organizing-Methoden zurückgreifen. In den Kernbereichen der IG Metall, den gut organisierten großen Industriekonzernen, stützt sich die IG Metall jedoch weiter auf sozialpartnerschaftliche Strukturen und die konfliktorientierte Gewerkschaftspraxis bleibt den Rändern vorbehalten.

Eine große Ausnahme war allerdings die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Winter 2017/2018. Die Organisation, die seit dem Streik um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland 2003 keinen Flächenstreik mehr durchgeführt hatte, stemmte die Teilnahme von über 500.000 Beschäftigten an so genannten Power-Streiks. Mit dieser neu geschaffenen Streikform entwickelte die IG Metall eine Zwischenstufe zwischen Warnstreiks ohne ökonomische Auswirkungen, die ohne Streikgeld und meist informell abgestimmt als „Frühschluss“ am Ende der Schicht stattfinden, und unbefristeten Vollstreiks. Dieses Modell muss schon alleine deshalb als Erfolg gewertet werden, weil hier Organisationslernen erreicht und Bewusstsein über die eigene Kampfeskraft gebildet wurde. Die vielen kreativen Ideen, aber auch die Schwierigkeiten bei den Power-Streiks sind eine intensive Auswertung wert.

Aber auch die Tarifforderung der IG Metall zur Arbeitszeit, das Tarifergebnis und die jetzt folgende Umsetzung in den Betrieben wird die Gewerkschaftsbewegung weiter beschäftigen. Deutlich wurde in der Auseinandersetzung, dass die Arbeitgeber in der Frage der Arbeitszeit erbittert auf ihrer Position beharren und nur durch massiven Druck zu bewegen sind. Auf der anderen Seite zeigte die Tarifrunde, dass die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung  gut bei den Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie ankam und in Teilen der Medien und der Öffentlichkeit geradezu euphorisch aufgenommen wurde. Auch bei der Deutschen Bahn und der Post wurden aktuell Tarifverträge mit Elementen von Arbeitszeitreduzierung abgeschlossen und ver.di diskutiert, die Arbeitszeit in der Tarifrunde des öffentlichen Dienst 2020 zum Thema zu machen. In Anlehnung an die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren, besteht hier die Chance für Gewerkschaften und die Linke eine gesamtgesellschaftliche Kampagne zu Arbeitszeitverkürzung mit konkreten tariflichen Auseinandersetzungen zu verknüpfen und so den Druck zu entfalten, der notwendig scheint, um substanzielle Fortschritte in der Arbeitszeitfrage zu erreichen.

Erneuerung der Gewerkschaften

Trotz vieler ermutigender offensiver Kämpfe, innovativer Projekte und neuer Erfahrungen spürt man in einigen Bereichen der Gewerkschaften Angst und Widerwillen, sich auf neue konfliktorientierte Strategien einzulassen, mit alten Routinen zu brechen und sich der veränderten Situation anzupassen. Manche der neuen Praktiken und auch die Diskussionen über sie sind noch unterentwickelt. Viele Erneuerungsmomente sind eher punktueller Natur und die Frage ihrer gesamtgewerkschaftlichen Umsetzung ist oft ungeklärt bzw. umstritten. Eingefahrene Arbeitsweisen, Organisationsegoismen und das Festhalten an stark sozialpartnerschaftlichen Vorstellungen behindern eine umfassende Strategiedebatte über ein neues Verhältnis von Kooperation und Konflikt, über neue Formen der Auseinandersetzung und über eine vertiefte Beteiligungsorientierung. Diese Schwierigkeiten entsprechen der Größe des Projekts, denn die Erneuerung der Gewerkschaftspraxis erfordert auch eine Erneuerung der Gewerkschaften insgesamt.

Aber es ist auch ein Projekt mit vielen begeisterten MitstreiterInnen. Mit GewerkschafterInnen, die ihre Organisationen stark machen und die kommenden Kämpfe gewinnen wollen. Die Konferenzen gewerkschaftlicher Erneuerung – mit ihren immerhin ca. 600 TeilnehmerInnen im Durchschnitt der bisherigen vier Konferenzen – soll dieser Suchbewegung in den Gewerkschaften einen Raum für ihre Diskussionen über innovative, demokratische, konfliktorientierte und politisierende Strategien zur Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht geben.

Zu den Konferenzen kommen KollegInnen aus allen Gewerkschaften und Generationen mit gewerkschaftsnahen WissenschaftlerInnen und streiksolidarischen Aktiven zusammen. Dabei steht die konkrete Praxis von GewerkschafterInnen im Fokus. Über den Bericht von Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit und die Diskussion mit den TeilnehmerInnen finden Reflexions- und Austauschprozesse über geeignete Strategien und Aktionsformen statt. Im Idealfall entstehen daraus neue Ansätze, oder sie werden in anderen Branchen und Kontexten übernommen. Denn die Kämpfe bei Halberg Guss, in der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie oder in den Krankenhäusern weisen über ihr jeweiliges Ergebnis hinaus. Unsere Kämpfe haben ihren Wert auch darin, dass wir gemeinsam aus ihnen lernen.

Anmerkung:

[1] Während in den 1970er Jahren 80 Prozent der Auseinandersetzung im Organisationsbereich der IG Metall stattfanden, ist seit Mitte der 1990 Jahre eine Verlagerung der Arbeitskämpfe in den Dienstleistungsbereich festzustellen. (Dribbusch 2011)

 

Der Text erschien zunächst in: Marxistische Blätter, September 2018.

weitere Informationen: www.rosalux.de/streikkonferenz

Bild: rosa lux

 

Literatur:

Boewe, Jörn/ Schulten, Johannes (2015): Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten. Labor des Widerstands: Gewerkschaftliche Organisierung beim Weltmarktführer des Onlinehandels. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin. https://www.rosalux.de/publikation/id/8529/der-lange-kampf-der-amazon-beschaeftigen/

Coppens, Julian/ Nichols, Dick (2018): «Wenn wir streiken, steht die Welt still» – wie der spanische Frauenstreik zum Erfolg wurde. In: Zeitschrift LuXemburg Online  https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wenn-wir-streiken-steht-die-welt-still/

Dörre, Klaus/ Goes, Thomas/ Schmalz, Stefan/ Thiel, Marcel (2017): Streikrepublik Deutschland? Die Erneuerung der Gewerkschaften in Ost und West. Campus Verlag, Frankfurt/ New York.

Dribbusch, Heiner (2011): Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung. In: Haipeter, Thomas/Dörre, Klaus (Hrsg): Gewerkschaftliche Modernisierung. Wiesbaden, VS Verlag, S.231-263.

Wolf, Luigi (2017): «Mehr von uns ist besser für alle.» Die Streiks an der Berliner Charité und ihre Bedeutung für die Aufwertung von Care-Arbeit. In: Fried, Barbara/ Schurian, Hannah (Hrsg.): Umcare. Gesundheit und Pflege neu organisieren. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin. https://www.rosalux.de/publikation/id/8432/um-care/