Corona-Pandemie: Gesundheitsschutz, Arbeitsverhältnisse, Pflegearbeit

Von Wolfgang Hien

Die Corona-Pandemie hat auf vielen Ebenen die gesellschaftliche Krisensituation deutlicher sichtbar gemacht, nicht zuletzt auch die Krise der Linken und ihrer verschiedenen Submilieus. Zu beobachten sind eine große Unsicherheit und ein Hin- und Herschwanken zwischen dem Unwillen, die Faktenlage zu akzeptieren, Angst vor autoritären Tendenzen, auch Angst vor Faschisierung der Mittelklassen, und einer Art Schockstarre, einer Unfähigkeit, adäquate Antworten auf die neue Krisensituation zu finden. Meine These ist, dass ein wichtiges Moment dieser Verunsicherung die Unfähigkeit ist, die Perspektive des Gesundheitsschutzes als elementaren Teil linker Politik zu begreifen. Es gibt mitunter sogar ein Ausspielen der „Freiheit“ gegen die „Gesundheit“.

In diesem Beitrag diskutiere ich zunächst medizinisch-epidemiologische sowie soziologische und politische Ebenen der aktuellen Gesundheitspolitik, um dann die Arbeitsverhältnisse und im Besonderen die Pflegearbeit in Deutschland zu beleuchten. Zu beachten ist, dass der Text Anfang Januar 2021 begonnen wurde und die seitdem eingetretenen Entwicklungen nur unzureichend berücksichtigt werden konnten. So scheinen aktuell die neuen Virusmutationen das Gefährdungspotenzial noch weiter zu erhöhen. Umso wichtiger ist aus meiner Sicht eine möglichst international organisierte und zugleich möglichst solidarische Pandemiebekämpfung, wie sie die Zero-Covid-Initiative im Auge hat.

Einige Schlussfolgerungen

In diesem Beitrag wurde versucht, einen Bogen zu schlagen von durch die Corona-Krise aufgeworfenen grundlegenden Fragen hin zur Problematik der aktuellen Arbeitsverhältnisse und der Defizite des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Die Pflegearbeit, die in mehrerer Hinsicht von der Pandemie und ihren Folgen besonders betroffen ist, wurde exemplarisch als außerordentlich kritischer Bereich des Arbeitslebens herausgestellt. Die Krise hat das schon lange herrschende strukturelle Defizit eines umfassenden, Menschenwürde, Leben und Unversehrtheit wahrenden Gesundheitsschutzes offengelegt. Die Pflegearbeit, und hier wiederum insbesondere die Altenpflegearbeit, ist ein herausragendes Beispiel hierfür. Zu fragen ist: Wo bleibt der staatliche Arbeits- und Gesundheitsschutz? Wo bleibt die Koordinierung von Infektions- und Arbeitsschutz? Wo bleiben die dringend notwendigen Hilfen? Offensichtlich hat die „marktkonforme Demokratie“ (Angela Merkel) eine Gesamtsituation hervorgebracht, die es erlaubt, dass der Staat sich aus dem Arbeitsleben zurückzieht und damit seine Schutzfunktion aufgibt. Die Marktdominanz untergräbt das Gemeinwesen. Eduard Heimann, ein sozialethisch denkender Ökonom, veröffentlichte 1929 sein Buch Soziale Theorie des Kapitalismus. 61 Darin wird der Arbeiterschutz als eine der sozialpolitischen Hauptaufgaben begriffen. Heimann benennt das Problem in einem klaren Satz: „Der Markt ist kurzsichtig und zum Raubbau geneigt; deswegen muss man marktfremde Mittel gegen den Raubbau anwenden.“62 Heimann hoffte auf eine „Sozialisierung von unten“, glaubte aber nicht, dass die schöpferische Kraft des Proletariats schon in einem ausreichenden Ausmaß hierfür gebildet sei.

Zu fragen ist heute: Wird die Corona-Pandemie ein heilsamer Schock, der für die Entwicklung unserer Gesellschaft neue Weichen stellen könnte? Das mag auf der Ebene der unmittelbaren politischen und sozialen Praxis bezweifelt werden. Doch möglicherweise öffnet die Krise – zumindest bei denen, die sich überhaupt neue Fragen stellen – die Augen für die grundlegenden Fragen: Wie soll menschenwürdiges Leben – für alle Menschen, gleich woher sie kommen, gleich welchen Alters und welcher Orientierung – gesellschaftlich gestaltet werden? Zu diesen Fragen gehört auch die nach der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und sich für das eigene Leben wie das anderer zu engagieren. Oder anders gefragt: Wie kann sich der einzelne Arbeiter, die einzelne Arbeiterin, der oder die Angestellte, in dieser Situation und unter den herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verhalten? Dies ist zugleich eine Frage der gewerkschaftlichen Organisation. Eine Bewegung von unten wäre notwendig, doch hier stehen wir erst am Anfang einer neuen Selbstfindungsphase. Wie bei jedem gewerkschaftlichen oder syndikalistischen Beginn sind gegenseitiger Austausch, gegenseitiges Erzählen, das heißt die kommunikative Öffnung ganz elementar, verbunden mit dem Versuch, sich selbst und die Situation ungeschminkt wahrzunehmen. Das wird, solange wir noch in der Pandemie stecken, schwierig sein. Doch umso wichtiger ist, über Perspektiven und Orientierungen nachzudenken.

Zu erinnern ist beispielsweise an die – historisch noch nahe liegenden – im Kontext der italienischen Arbeiterkämpfe entwickelten operaistischen Vorstellungen, die immer den arbeitenden, drangsalisierten und geschundenen Menschen als Subjekt begriffen, das es in seiner Entfaltung und seiner eigenständigen Entwicklung von Würde und Freiheit zu unterstützen gilt. Zu benennen ist in unserem thematischen Zusammenhang die italienische Arbeitermedizin, die in den Arbeitskämpfen Ende der 1960er Jahre entstand und in den 1970er Jahren Belastungen und Krankheiten aus einer Perspektive „von unten“ thematisierte.65 Diese Bewegung generierte Ideen, die in der aktuellen Entwicklung der Arbeitsverhältnisse wieder Bedeutung gewinnen könnten: „Die Gesundheit darf nicht delegiert werden!“ Woraus sich das handlungsleitende Motto ergibt: „Die Gesundheit in die eigenen Hände nehmen!“ Diese Ideen wurden auch in der betrieblichen Gesundheitsbewegung hierzulande aufgegriffen. Noch in den 1980er Jahren gab es Bündnisse der Umwelt- und Gesundheitsbewegung mit betrieblichen Gruppen. Es gab betriebliche Gesundheitsinitiativen und betriebliche Gesundheits-Basisgruppen, in denen sich Arbeitende trafen, sich über Belastungen und Gesundheitsschäden austauschten und Aktionen entwickelten, um den Gesundheitsschutz zu verbessern. Es gab solche betriebliche Gruppen bei der Bremer Vulkanwerft, bei der Hamburger Aluminiumhütte, bei AEG in Berlin, bei Bayer in Leverkusen oder auch bei Alstom Power in Mannheim. Auch die von Betriebskrankenkassen zeitweise unterstützten betrieblichen Gesundheitszirkel waren vom Gedanken der Arbeitermedizin inspiriert.

Es ging und geht darum, eigenes Handeln am Arbeitsplatz mit Forderungen und Aktionen zu verbinden, die die Veränderung von Arbeitsbedingungen zum Ziel haben. Diese Denkrichtung geht – und das ist die historisch ältere Phase – auf Vorstellungen der Arbeiterkontrolle zurück, ein Kampfkonzept, das während des ganzen 20. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen der Welt immer wieder aufblühte.68 Thematisiert ist dabei immer die Auseinandersetzung nicht nur um einzelne Schutzmaßnahmen, sondern um die Arbeits- und Produktionsbedingungen insgesamt. Laurent Vogel, Sekretär beim Europäischen Gewerkschaftsbund, greift offensichtlich den Gedanken der Arbeiterkontrolle auf, wenn er anlässlich der Covid-19-Gefährdung schreibt:

In der realen Welt kann Arbeit nicht auf einen einzigen Raum reduziert werden, in dem Hygienevorschriften blind angewendet werden können. Dies anzuerkennen bedeutet, es Gruppen von Arbeitnehmern zu ermöglichen, die Kontrolle über die Produktionsbedingungen zu übernehmen, auf ihre Erfahrungen zurückzugreifen und die Arbeit in all ihren Aspekten neu zu gestalten, wobei sowohl die gesundheitlichen Erfordernisse als auch der tatsächliche Nutzen, den ihre Arbeit für die Gesellschaft darstellt, berücksichtigt werden.

Der Grundgedanke ist also, die konkreten Arbeits- und Lebensbelastungen, die Erfahrungen mit gesundheitlichen Krisen, aber auch die psychische Situation, die Ängste und die Angstabwehr zum Thema zu machen, genauer: Räume zu schaffen, in denen die Arbeiter/innen sich austauschen können, ihre Wahrnehmungen ordnen sowie Aktionen besprechen und vorbereiten können. Überbetriebliche gewerkschaftliche und wissenschaftliche Akteure/-innen hätten dann die Aufgabe, diese betriebliche Gesundheits-Basisarbeit zu unterstützen und zu fördern, nicht im Sinne einer Stellvertreterpolitik, sondern im Sinne eines Miteinanders, das die Handlungskompetenz der Arbeitenden stärkt. So gesehen, könnte sich die von Heimann postulierte schöpferische Kraft entwickeln, die in der Lage wäre, die Klasse der Arbeitenden aus der Opferrolle heraus- und zum autonomen Handeln und Gestalten hinzuführen. Eine solche Bewegung „von unten“ ist notwendig, um Voraussetzungen für eine gemeinwirtschaftliche Umgestaltung der „systemrelevanten“ Bereiche der Wirtschafts- und Arbeitswelt zu schaffen, das heißt für eine Sozialisierung von unten, die wirklich von aktiven Menschen getragen wird und nicht nur von einer Bürokratie. Es ist nicht verkehrt, sich – eingedenk der Lebens- und Arbeitsverhältnisse von 1848 – eines Satzes aus dem Kommunistischen Manifest zu entsinnen, wonach „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.

 

 

 

 

Der gesamte Beitrag als pdf: https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2021/02/sgo_29_vorveroeffentlichung_hien_covid_arbeitsschutz_pflege.pdf
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