Die Deformation des Arbeitsrechts

Von Rolf Geffken

Das Arbeitsrecht benötigt für seinen dauerhaften Bestand und seine Funktionsfähigkeit im Interesse der Beschäftigten zwei tragende Säulen das kollektive Arbeitsrecht und das Normalarbeitsverhältnis als Regelarbeitsverhältnis.

Ohne das kollektive Arbeitsrecht wäre das Recht der Arbeit als eigenständiges Rechtsgebiet nicht denkbar. Erst mit der rechtlichen Anerkennung von Gewerkschaften, Betriebsräten und Tarifverträgen wurde das strukturelle Ungleichgewicht von Lohnarbeit und Kapital durch die Rechtsordnung zur Kenntnis genommen. Diese Kenntnisnahme erlangte große Bedeutung auch in der Anwendung einzelner juristischer Normen und ihre Auslegung durch Gerichte und Behörden. Sie relativiert die Ideologie der bürgerlichen Vertragsfreiheit erheblich, in dem nicht mehr der „freie Wille“ des Beschäftigten als maßgebend angesehen wird, sondern die Anerkennung seiner ökonomischen Abhängigkeit. Doch ist dies kein in Stein gemeißelter Zustand.

1. Aushöhlung von Normalarbeit und kollektivem Arbeitsrecht

Veränderte politische Kräfteverhältnisse und der Siegeszug des Neoliberalismus haben ihre Spuren in den letzten 40 Jahren hinterlassen: Es gab in dieser Zeit und gibt weiterhin immer wieder Versuche, in jeweils neuem „modernem“ Gewand die Idee der Vertragsfreiheit gegen das kollektive Arbeitsrecht in Stellung zu bringen: Beliebt sind dabei alle Spielarten der Individualisierung von Rechten, mit deren Hilfe kollektivrechtliche Standards unterlaufen werden. Plötzlich wird der einzelne Beschäftigte wieder „seines eigenen Glückes Schmied“ und darf mit seinem Vorgesetzten sogenannte Zielvereinbarungen aushandeln. Die Realität lässt diese als „Partizipatives Management“ gepriesene Methode – wie wir weiter unten noch sehen werden schnell zur Farce werden, denn die strukturelle Abhängigkeit des Beschäftigten wird durch sie nicht aufgehoben, sondern nur verstärkt. Im Ergebnis aber spaltet diese Methode auch die Belegschaften, indem sie die Machbarkeit und Sinnhaftigkeit „individueller Lösungen“ propagiert.

Ganz ähnliche Folgen lassen sich durch die Entstehung unterschiedlicher Beschäftigungsarten beobachten. Befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, geringfügig Beschäftigte oder Praktikanten prägen heute die Arbeitswelt und schwächen oder verhindern die kollektive Interessenvertretung der Belegschaften. Auch alle Arten der Flexibilisierung, vor allem im Rahmen der Arbeitszeit, zielen auf eine Aufspaltung der Belegschaften und erwecken bei einzelnen Beschäftigten die Illusion, sie könnten ihre Arbeitsbedingungen zumindest teilweise selbst bestimmen oder selbst gestalten. Sie fördern die – absurde – Vorstellung einer individuellen Interessenvertretung und die „Einsicht“ in die Überflüssigkeit von Betriebsräten und Gewerkschaften.

Damit ist zugleich klar, weshalb das vor 40 Jahren noch prägende und heute auf dem Rückzug befindliche Normalarbeitsverhältnis neben dem kollektiven Arbeitsrecht so wichtig für den Bestand des Arbeitsrechts ist: Nur das Normalarbeitsverhältnis garantiert den Beschäftigten ein Einkommen, von dem sie und ihre Familien leben können. Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse oder geringfügige Beschäftigungen sichern keine Existenz. Befristete Arbeitsverhältnisse sind zu 3. Prekarisierung unsicher, als dass die Betroffenen darauf eine Lebensplanung basieren könnten.

Doch nicht nur das: Auch die kollektive Interessenvertretung durch Betriebsräte und Gewerkschaften  ist ohne  Normalarbeitsverhältnisse  schwer realisierbar. Teilzeitbeschäftigte und befristet Beschäftigte stoßen bei der Wahrnehmung von Mandaten schnell an zeitliche und existenzielle Grenzen.

Auch das, was wir heute als Arbeiterkultur bezeichnen wäre ohne Normalarbeitsverhältnisse nicht denkbar gewesen.

Diese nämlich setzt Arbeitsverhältnisse voraus, die dem Leben der Arbeiter ihr Gepräge gaben, am Arbeitsplatz ebenso wie in den (Arbeiter-)Wohnvierteln und auch in der Politik. Doch die Diversifizierung der Arbeitsverhältnisse hat innerhalb derer gewerkschaftliche und politische Strukturen gewisser maßen „vererbt“ und weitergegeben worden waren, gibt es nicht mehr. Die damit gekoppelte Bindung an soziale „Milieus“ ist weitgehend entfallen. Was früher selbstverständlich war, nämlich dass die Nachbarn ebenfalls „der“ Gewerkschaft angehörten oder die Kinder ihr beitraten, dass man Mitglied „im Konsum“ oder in einer Arbeiterpartei war, ist heute ein reiner Ausnahmefall.

2. Individualisierung

Die Wege zur „Intensivierung der Arbeit“, also zur Leistungssteigerung der einzelnen Beschäftigten, sind inzwischen vielfältiger geworden als dies zu Zeiten von Karl Marx oder auch nur vor 40 Jahren in diesem Lande der Fall war.

Bereits erwähnt wurde die Methode der Ziel- oder Leistungsvereinbarungen, die zugeschnitten auf den einzelnen Beschäftigten dessen Leistungskapazitäten ausschöpfen und erweitern sollen. Mithilfe sogenannter Mitarbeitergespräche und Bonuszahlungen wird versucht, dieses System der Leistungssteigerung zu vervollkommnen. Im Zusammen mit der Deformation des Arbeitsrechts bleibt festzuhalten, was die unmittelbare Folge solcher Methoden ist: Kollektive Interessenvertretungen werden zugunsten individueller Absprachen ersetzt. Der einzelne Beschäftigte bleibt in diesem System auf sich gestellt und muss versuchen, individuell seine Interessen durchzusetzen. Aus diese Weise entfernt sich das Arbeitsrecht vom individuellen Arbeitsplatz, anstatt dort unmittelbar präsent zu bleiben. Das Arbeitsrecht wird so nicht etwa nur inhaltlich deformiert, sondern dadurch geschwächt, dass es – obwohl weiter existent – den Beschäftigten im Alltag des Arbeitslebens „entrückt“ wird und ihnen damit der Zugang zur Rechtswahrnehmung zusätzlich erschwert wird. Was dies auch für die politische und gesellschaftliche Einstellung der Betroffenen zur Folge hat, liegt auf der Hand. Es verstärkt den „Rückzug ins Private“, den Rückzug in die Isolation und ins Unpolitische. Das Verständnis für jede Art kollektiver Strukturen und Organisationen geht auf diese Weise verloren. („Wozu brauchen wir das ?“). Anpassungsstrategien machen sich breit („Wenn man sich mit dem Chef gut versteht, hat man auch keine Probleme“).

3. Prekarisierung

Ähnliche Wirkungen und Folgen sind bei der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zu beobachten. Vor allem geringfügige Beschäftigungsverhältnisse vergrößern den Spielraum der Unternehmen für willkürliche Maßnahmen gegen Betroffene. Obwohl das Arbeitsrecht grundsätzlich auch für solche Beschäftigungsverhältnisse gilt, stellen geringfügig Beschäftigte immer wieder die Frage, ob sie z.B. Urlaubsansprüche haben, der Mindestlohn auch für sie gilt oder ob etwa der Kündigungsschutz zur Anwendung kommt.

Prekarisierte Arbeitsbedingungen und deren Anpassung an die wechselnden Bedürfnisse des Unternehmens forcieren die Einübung in ein System der Willkür. Gleichzeitig reduzieren sie den Widerstand der Beschäftigten auf ein absolutes Minimum, weil Gegenwehr meist als zwecklos angesehen wird und viele Betroffenen bei Konflikten allenfalls einen Stellenwechsel anstreben. Ähnliches gilt für viele Teilzeitbeschäftigte und – erst recht- für solche, denen ein arbeitsrechtlicher Status ganz oder teilweise verwehrt wird, wie etwa für Scheinselbständige oder oft auch Praktikanten.

Der „Umgang mit dem Arbeitsrecht“ erfolgt bei prekarisiert Beschäftigten also vor allem dadurch, dass sie die ihnen zustehende Rechte zur begrenzt oder eingeschränkt wahrnehmen. Damit aber wird gleichzeitig die für das deutsche Arbeitsrecht typische Sanktionierung durch individuelle Rechtswahrnehmung zum Problem: Eine Sanktionierung von Rechtsverletzungen findet dann praktisch gar nicht mehr statt. Prekarisiert Beschäftigte bleiben „außen vor“ und werden zudem vielfach auch von den kollektiven Interessenvertretungen nicht mehr wahrgenommen.

4. Flexibilisierung

Die perfekte Anpassung an die jeweils schwankenden Beschäftigungsbedürfnisse der Unternehmen bietet die in den letzten 40 Jahren vielfach gepriesene aber auch betriebenen sogenannte Flexibilisierung. Schon der verharmlosende Begriff verrät die Absicht: Der Beschäftigte soll doch bitte nicht sich auf „starre“ Arbeitszeiten und Regelungen berufen, sondern dann verfügbar sein, wenn er gebraucht werde.

Schmackhaft gemacht wird dieses „Konzept“ mit der angeblichen Möglichkeit, auch aus veränderten Bedürfnissen der Beschäftigten Sorge zu tragen. Doch tatsächlich geht es auch Sicht der Unternehmen nur um Anpassung an den jeweiligen Beschäftigungsbedarf des Unternehmens. Flexibilität in diesem Sinn ist Extensivierung und Intensivierung der Arbeit in einem. Es ist die Zurückdrängung des logischen in § 615 BGB verankerten Prinzips, dass der Unternehmer die Arbeitskraft und nicht die geleistete Arbeit bezahlt.

Was harmlos klingt, ist ein ganzes Programm, das in weiten Teilen auch ins Rechtssystem eingeflossen ist und das eindeutig und überwiegend dem Unternehmensinteresse dient. Ihr Beitrag zur Deformation des Arbeitsrechts liegt bereits in der faktischen Außerkraftsetzung des § 615 BGB, der das Betriebsrisiko eigentlich dem Unternehmer zuweist. Doch prägt das „moderne“ Individualarbeitsrecht auch an vielen anderen Stellen genau dieses Prinzip: Beschäftigte sollen nach Möglichkeit immer nur dann bezahlt werden, wenn sie auch tatsächlich arbeiten (obwohl dieses dem Wesen des Arbeitsvertrages überhaupt nicht entspricht).

5. Mitverantwortung der Gewerkschaften

Es ist nicht so, dass die Gewerkschaften die Deformation des Arbeitsrechts durch den Rückzug des Normalarbeitsverhältnisses

Etwa aktiv betrieben hätten. Aber sie haben dieser Entwicklung keinen aktiven Widerstand entgegengesetzt. Sie haben vielmehr in zahlreichen Tarifverträgen die von den Unternehmen gewünschten „Anpassungen“ an die betriebliche Realität übernommen und damit zum Bestandteil des Arbeitsrechts gemacht. Das gilt für Zielvereinbarungen und Leistungsboni, ebenso wie für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, Befristungen und Flexibilisierungen etwa in der Teilzeitarbeit.

In diesem Bereich war die Tarifpolitik der Gewerkschaften in den letzten 40 Jahren nur eine Anpassung an die prekarisierte Wirklichkeit in den Betrieben und nicht etwa eine Art von Widerstand gegen die darin enthaltene Art der Deformation des Arbeitsrechts. Entsprechende gilt für die die meisten Betriebsräte, die zudem durch Öffnungsklauseln in vielen Tarifverträgen die Möglichkeit erhielten, durch Betriebsvereinbarungen weitere Flexibilisierungen usw. vorzunehmen.

Tatsächlich lautet der individuelle wie politische Rat an Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften, sich jeglicher Deformation des Arbeitsrechts zu widersetzen und Schritt für Schritt wieder das normale Arbeitsverhältnis zum Regelarbeitsverhältnis zu machen.

Freilich setzt dies einen radikalen Kurswechsel in der Tarifpolitik wie auch in der Praxis der Betriebsräte voraus.

 

 

Der Artikel wurde dem Buch „Umgang mit dem Arbeitsrecht“ von Rolf Geffken entnommen. Das Buch hat 397 Seiten und enthält zahlreiche Bebilderungen und Skizzen. Es bietet eine echte Alternative zu allen bisherigen praxisorientierten Einführungen für Arbeitnehmer und vor allem zu allen bisherigen auf Arbeitsrechts- und Betriebsratsschulungen verwendeten Materialien. Es räumt mit der herrschenden Sichtweise auf das Arbeitsrecht auf.  Mit einem solidarischen Vorwort vom „sozialpolitischen Urgestein“ Rudolf Dreßler, Botschafter aD, em. MdB und em. Mitglied im Präsidium der SPD für sein, in dem auch er sich gegen den neoliberalen Abbau von Arbeitsrechten in den letzten 40 Jahren wendet.

Das Buch kostet Euro 26,80 und ist seit 23.1.2019 lieferbar. Bestellungen bitte unter ratundtat@drgeffken.de oder unter info(at)verlagvar.de. Die Lieferadresse nicht vergessen!