Einstürzende Neubauten – Zu Entstehung und Verlauf des Immobilien-Kapitalismus

Von Slave Cubela

Wieder einmal schien die Welt bis vor Kurzem in Ordnung. Zumindest wenn man den vielen ökonomischen Erfolgsmeldungen glauben wollte, denen man überall begegnete. Steigende Aktienkurse, niedrige Arbeitslosenquoten, Reallohnzuwächse, hohe Auftrags­eingänge, gute Wachstumsraten – in vielen Industrieländern waren das die Schlagzeilen der Wirtschaftspresse. Und man konnte sich diesem Sog von Meldungen saturiert überlassen, man konnte wie ein Sportsmann dem alten Schlawiner Kapitalismus erneut für seine erstaunliche Dynamik gratulieren, wäre da nicht ein seltsames Phänomen. Hatte nämlich ein Immobilienboom in den USA insbesondere durch die Vergabe sogenannter Subprime-Kredite die Weltwirtschaft 2008 an den Rand des Abgrundes gebracht, dann muss man irritiert feststellen, dass wir uns nur ein Jahrzehnt später 2019 in einem erneuten, nur diesmal ungleich größeren Immobilienboom befinden. Egal, wohin man global auch blickt: die Preise für Wohnungen, Büroräume oder Land steigen und es scheint kein Ende der Nachfrage in Sicht.

Wie kam es zu dieser blitzartigen Wiederkehr des Immobilien-Kapitalismus, diesmal in globalem XXL-Maßstab? Welche sozialen Entwicklungen gingen mit ihm einher? Gibt es Gründe zu befürchten, dass auch dieser Immo­bilien-Boom ähnlich wie 2009 in eine Finanzkrise mündet? Und deuten etwa die sich inzwischen eintrübenden Konjunkturmeldungen an, dass eine solche Finanzkrise XXL sehr bald kommen könnte? Klar ist: der folgende Text kann diese Fragen nur umreißen und sein Autor kann auch nicht in die Zukunft blicken. Dennoch soll der Titel des Aufsatzes unterstreichen, dass viele der folgenden Überlegungen darauf hindeuten, dass die Zukunft des globalen Immobilien-Kapitalismus nicht nur am seidenen Faden hängt, sondern dass sein Ende mit Blick auf die mit ihm einhergehenden sozialen und ökologischen Verwüstungen dringend nötig wäre.

Kapital-Überakkumulation

Um zunächst zu verstehen, warum der Immobilien-Kapitalismus sich nach 2008 so rasant globalisierte und mit einer Blütezeit des Kapitals einhergeht, gilt es sich mit den verschiedenen Implikationen niedriger Leitzinsen vertraut zu machen, die seit 2008 in allen großen Wirtschaftsblöcken (USA, Europa, Japan) vorfindbar sind. Erstens: niedrige Leitzinsen sind ein Indiz für eine Kapital-Überakkumulation, d.h. der Verleihpreis des Kapitals sinkt, da es im Übermaß vorhanden ist. Zweitens: diese Kapital-Überakkumulation kann nur dann entstehen, wenn es zu wenige profitable Anlagemöglichkeiten für das jeweilige Gesamtkapital gibt. Mit anderen Worten also: niedrige Leitzinsen sind ein starkes Indiz für geringe Profitraten. Drittens: eine Kapital-Überakkumulation mündet früher oder später in eine Kapitalvernichtung des überflüssigen Kapitals – aber dieses »früher oder später« ist entscheidend für die gegenwärtige Situation des Kapitalismus. Denn genau in jenem Moment, in dem 2008 eine gigantische Krise bzw. Kapitalvernichtung zum Greifen nah war, genau in diesem Moment stützten alle Industriestaaten durch diverse Finanzrettungsprogramme die Kreditketten und verhinderten damit die bereinigende Krise. Aus sozialer Sicht war dies ohne Zweifel eine verständliche Entscheidung, denn wer hätte guten Gewissens eine schwere, globale Depression mit Geldentwertung, Massenarbeitslosigkeit und Verelendungsdynamiken geschehen lassen wollen? Gleichzeitig jedoch war dies verbunden mit der abermaligen Ausweitung freien, anlagesuchenden Kapitals, d.h. die gewaltige geldpolitische Krisenintervention 2008 hatte zur Folge, dass sich die Überakkumulationskrise des Kapitals in ihrer Bewältigung zugleich beschleunigt hat.

Doch was macht man nun mit zusätzlichem Kapital, wenn man schon vor 2008 zu viel von ihm hatte? Immobilien sind zunächst einmal attraktiv, da sie Sicherheit zu bieten scheinen. Egal wie die Kapitalvernichtung auch ›früher oder später‹ ausfällt, Landbesitz, Wohnungs- oder Hausbesitz, Gewerbegrundstücke sind auch danach Eigentum des jeweiligen Eigners. Aber Immobilien sind auch aus einem weiteren Grund attraktiv. Gerade weil sie in unsicheren Zeiten des Kapitals begehrt sind, beginnt ihr Wert in diesen Zeiten anzusteigen. Und das meint aus der Sicht des Kapitals: Es gibt plötzlich einen Anlagebereich, in den es sich nicht nur aus Sicherheitsgründen zu investieren lohnt. Vielmehr erwirtschaftet das in diesem Bereich angelegte Kapital in einem sonst überall mauen Anlageumfeld gute Renditen. Die Folge: immer mehr Kapital drängt in den Immobilienbereich, die Immobilienpreise steigen immer weiter, die Renditen werden höher, noch mehr Kapital drängt in den Immobilienbereich, die Immobilienpreise steigen noch weiter, die Renditen werden noch höher etc.

Wohlstandseffekte und bizarre Blütezeit

Dieses anhaltende Steigen der Immobilienpreise durch anhaltenden Zufluss von überakkumuliertem Kapital hat zunächst unmittelbare Wohlstandseffekte für eine ganze Reihe von Branchen: Wohn- und Immobilienunternehmen, Bauunternehmen, die Baustoffbranche, Banken und Finanzkapital anderer Art, Baumaschinenhersteller, Teile der Elektroindustrie und des Handwerks etc. Aber auch jenseits dieser Branchen stellen sich Wohlstandseffekte durch diesen Boom ein. Nehmen wir das Beispiel eines großen Industrieunternehmens. Dieses partizipiert zunächst einmal am Immobilienboom, da seine eigenen Liegenschaften an Wert gewinnen. In Deutschland, so die Schätzung in einem von der BASF AG in Auftrag gegebenen Gutachten, liegt der Wert der Gewerbeimmobilien im Jahr 2013 bei knapp 3 Billionen Euro, also knapp ein Drittel des gesamten Immobilienvermögens in Deutschland. Damit betrage der Buchwert ihrer Immobilien knapp 20 Prozent der Börsenkapitalisierung bei DAX-Unternehmen, wobei der Bericht betont, dass »die Optimierung immobiliarer Ressourcen für die Unternehmen und auch für die deutsche Volkswirtschaft noch großes Potenzial zur Steigerung der Arbeitsproduktivität« (Volkswirtschaftliche Bedeutung von Corporate Real Estate in Deutschland, online unter: www.zia-deutschland.de/) böten. Trotz dieser ungenutzten Optimierungschancen kann jedoch bei einer Wertsteigerungsrate des Immobilienvermögens je nach Ort und Lage zwischen 5 und 15 Prozent seit 2012 davon ausgegangen werden, dass Immobilien einen erheblichen Vermögenszuwachs bei diesen Industrieunternehmen zur Folge hatten. Aber: Des Weiteren kann dieses Unternehmen selber in den Immobilienmarkt einsteigen, indem es beispielsweise sein überflüssiges Kapital nutzt, um Immobilien zu kaufen und zu bauen. Es kann sein Kapital schließlich auch dazu gebrauchen, um sich durch die Ausgründung einer eigenen Finanz-Gesellschaft strukturell im Immobilienmarkt zu verankern, oder aber es engagiert sich bei bereits bestehenden Investorengruppen. Oberflächlich betrachtet steigen so Gewinne und Vermögen des jeweiligen Unternehmens und es erscheint als ›reich‹. Nur wer tiefer bohrt, wer sich also die Unternehmensbilanzen genauer ansieht, der wird sich erschließen können, wie das jeweilige Industrieunternehmen seinen Wohlstand erwirtschaftet – durch Industrieproduktion oder Immobiliengeschäfte aller Art?

Ein anderes Beispiel für die Wohlstandseffekte des Immobilien-Kapitalismus wiederum sind Privatpersonen, denn auch deren Haus- oder Landbesitz profitiert vom Immobilienboom. So können diese Privatpersonen mit Blick auf solche Wertsteigerungen Hypotheken oder Kredite aufnehmen, um noch mehr Häuser oder Landbesitz zu kaufen oder schlicht um ihren Lebensstandard zu wahren. Und entsprechend überrascht es nicht, dass 2016 eine Studie über die Vermögensverteilung in europäischen Privathaushalten feststellte, dass die meisten Bundesbürger deutlich weniger besitzen als andere Europäer. Ein wichtiger Grund: Während in Ländern wie Italien oder Spanien knapp 80 Prozent der Haushalte in Immobilien wohnen, die sie einst günstig erworben und die zum Teil erhebliche Wertsteigerungen erfahren haben, tun dies in Deutschland nur 40 Prozent der Haushalte (Süddeutsche Zeitung, 23. Dezember 2016). Schließlich nur noch der Vollständigkeit halber der Hinweis, dass diese Wohlstandseffekte des Immobilien-Kapitalismus auch ganze Länder betreffen können, wie die Wirtschaftspresse gerne mit Blick auf die Wachstumsraten Chinas betont, was aber wahrscheinlich auf viele andere Industrieländer übertragbar ist. Mit anderen Worten: Auch wenn der Immobilien-Kapitalismus auf einer bedrohlichen Überakkumulations-Lage beruht, schafft er eine Blütezeit des Kapitals, von der bei Weitem nicht nur die Kapitaleigner profitieren. Auf »magische« Art und Weise sorgt der Immobilienboom für Industriearbeitsplätze, Nachfrage nach verschiedenen Produkten, Wohlstands- und Teilhabeeffekte vieler Menschen, also für eine merkwürdige Sonnenpe­riode des Kapitals, deren Strahlen die Schatten der Kapital-Überakkumulation fast völlig vergessen lassen.

Soziale Partizipation

Jede Blütezeit des Kapitals hat allerdings ihre Schattenseiten, so auch diese. Bevor wir uns diesen dunklen Aspekten des gegenwärtigen Immobilienbooms zuwenden, sei jedoch ein kurzer Blick nach Großbritannien eingeflochten, der zeigen soll, wie der gegenwärtige Immobilienboom für Teile des dortigen Establishments der Erfüllung einer politischen Utopie gleichkommt. Folgt man nämlich dem Text von Laurie Macfarlane »The Unmaking of the British Working-Class« in der Print-Ausgabe Frühjahr 2019 des Jacobin, dann ist dabei das entscheidende Stichwort »Property Owning Democracy«. Denn schon 1923 und unter dem Eindruck der russischen Revolution wies der schottische Konservative Noel Skelton mit dieser Begriffsprägung darauf hin, dass die beste anti-kommunistische Strategie darin bestehe, die soziale Streuung von Besitz deutlich auszuweiten. 1946 nahm der spätere konservative Premierminister Anthony Eden diesen Gedanken auf und brachte ihn gegen die Ausweitung des Sozialstaates durch die Labour-Regierung in Stellung. Nach dem Wahlerfolg der Konservativen 1951 wurden dann sogleich erste Maßnahmen ergriffen, um insbesondere den Hauserwerb auch für die Mittel- und Unterschichten zu erleichtern. Den endgültigen Durchbruch dieser Idee sah schließlich das Jahr 1980 und zwar im ersten »Housing Act« von Margaret Thatcher. Einerseits startete sie damit ihre »Right-to-buy«-Politik, gab also den Bewohnern von Sozialwohnungen das Recht, diese Wohnungen für teils erhebliche Preisnachlässe zu kaufen, an­dererseits stellte sie zeitgleich den sozialen Wohnungsbau so gut wie ein. Gab es so 1980 knapp 6,5 Millionen Sozialwohnungen in Großbritannien, sind es heute nur noch zwei Millionen, da keine der Nachfolgeregierungen einen Kurswechsel vornahm (zum Vergleich: bevor sich der Bund 1988 aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus zurückzog, gab es in Deutschland 1987 3,9 Millionen Sozialwohnungen, 2017 waren es noch etwas mehr als 1,2 Millionen). Die weitreichenden Folgen dieser Politik umschreibt Macfarlane wie folgt: »Mit der Zunahme des Häuserbesitzes in Großbritannien stieg die Anzahl von Wählern, die ein persönliches Interesse an der Dynamik eines finanzgetriebenen Häusermarkes hatten, während die Anzahl an Wählern, die ein Interesse an einem qualitativ hochwertigen und öffentlich dominierten Häusermarkt hatten, deutlich abnahm. Für die Mehrzahl der Haushalte ist das eigene Heim die primäre Ressource ihres Wohlstandes geworden. Diese Entwicklung hat die Spielräume der Linken eingeschränkt. Jede Politik, die darauf zielte, die Mietpreisprobleme jener Minderheit von Briten ohne Hausbesitz zu lösen, riskierte es, eine Quittung für dieses Vorhaben durch jene immobilienbesitzende Wählermehrheit zu kassieren, aber auch Instabilitäten des Finanzsystems zu provozieren oder gar eine mögliche Rezession. Als Folge hiervon orientierte sich die Labour Party nicht mehr an einem öffentlich finanzierten und regulierten Häusermarkt, sondern sie begann stattdessen ihre Wohnungspolitik stärker an den Interessen der Hausbesitzer auszurichten.« (ebd., S. 90) Es bleibt also zweierlei festzustellen. Erstens: qua privatisiertem Wohneigentum sorgte der Immobilien-Kapitalismus in Großbritannien schon vor 2008 dafür (und nicht nur dort!), dass bis in die Arbeiterklassen hinein eine finanzmarktfreundliche Politik Beifall fand, ging mit dieser Politik doch eine Wertsteigerung des eigenen Immobilienvermögens dieser Arbeiter einher. Zweitens: der Immobilienkapitalismus ist zwar wesentlich Folge des gigantischen produktiven Reichtums der Welt, er ist aber auch politisches Produkt in der Klassenauseinandersetzung.

Soziale Segregation

Aber weder in Großbritannien noch anderswo sind durch den Immobilienboom plötzlich alle Menschen zu Hausbesitzern geworden. In vielen Ländern wohnen erhebliche Teile oder gar die Mehrzahl der Gesellschaft weiterhin in Mietverhältnissen, und diese Teile der Gesellschaft, zumeist junge Erwachsene, Studenten, Groß-Familien, ArbeiterInnen und Arbeitslose, haben unter dem Immobilienboom zusehends mehr zu leiden, denn dieser Boom schlägt sich gerade in urbanen Zentren in steigenden Mieten und Kündigungen ihrer Wohnungen nieder.

In Deutschland hat das zu Widerstand gegen diese Entwicklung geführt und neben der Debatte um die Enteignung von Immobilienunternehmen, bietet der als sozialdemokratische Reaktion auf diese Debatte in Berlin verabschiedete Mietendeckel Stoff für hitzige Debatten. Doch auch wenn solche Kämpfe in vielen weiteren europäischen und amerikanischen Städten toben, so schreitet die soziale Segregation im urbanen Raum unablässig voran. Besonders bemerkenswert dabei ist: indem der Immobilienboom die Verdrängung der sozialen Unterklassen aus gentrifizierten städtischen Räumen nach sich zieht, geht mit ihm eine Entwicklung einher, die im 19. Jahrhundert konstitutiv für die soziale Explosivität dieses Zeitalters war. Das mag überraschen, aber soziale Segregation in Städten ist beileibe kein neues oder einzigartiges Phänomen. Ulla Pruss-Kaddatz hat diesen Prozess beispielsweise für das 19. Jahrhundert in Paris nachgezeichnet und dabei dessen Bedeutung für die Polarisierung der Klassenverhältnisse im damaligen Frankreich sehr wohl bemerkt, wenn sie schreibt: »Durch die räumliche Distanz schwinden die persönlichen Kontakte zwischen den Schichten, die soziale Wahrnehmung beruht auf Informationen aus zweiter Hand. Die Kenntnis über die Lebensbedingungen und -gewohnheiten der ›unteren Klasse‹ resultiert nicht aus persönlicher Anschauung, sondern setzt sich zusammen aus Informationen, die aus der Deputiertenkammer, Zeitungsberichten und Romanen entnommen werden. Aus diesen Quellen ergibt sich ein Bild der Arbeiterklasse, das diese als chronische Emeutiers, kriminelle und unmoralische Subjekte zeigt, die in den alten verkommenen und ungesunden Stadtvierteln hausen ….« (S. 178)

Beginnt sich ein ähnliches Bild der Arbeiterklasse nicht auch heute wieder zu verfestigen, wenn wir etwa an die Berichterstattung über die Gelbwesten-Proteste in Frankreich denken oder an das Arbeiterbild in Großbritannien, das Owen Jones in »Prolls« nachgezeichnet hat? Fußt dieses Bild nicht auch auf der sozialen Segregation urbaner Räume, die sich seit 2008 nochmals ungemein zugespitzt hat, wie etwa Christophe Guilluy für Frankreich betont? Dass die soziale Entfremdung und Polarisierung der Klassen jedenfalls auch in Deutschland zunimmt, unterstreicht eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin aus dem Jahr 2018: »In vergangenen Studien wurde beobachtet, dass die Segregation der Armen ab Mitte der 1990er Jahre bis 2004 zugenommen hat. Wir zeigen, dass sich die Entwicklung auch nach der Hartz-IV-Reform des Jahres 2005 fortsetzt: In vielen deutschen Städten ballen sich Personen mit Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB-II-Bezieher) zunehmend in bestimmten Stadtteilen. Besonders hat sich die Situation in den meisten ostdeutschen Städten verschärft.« (Helbig/ Jähnen 2018, S. 1)

Mit Sand gebaut

Der Immobilien-Kapitalismus bereitet jedoch nicht nur soziales Ungemach in den urbanen Zentren vor, er ist mit weiteren Kosten verbunden. Zum einen ist da der trivial anmutende Umstand, dass dieser Boom mit Sand gebaut ist. Wie wenig trivial, wie ökologisch furchterregend dieser Umstand bei Lichte besehen ist, haben Marian Blasberg und Malte Henk in einem Artikel mit dem Titel »Strand: Wie Gold am Meer« bereits 2014 in Die Zeit unterstrichen, als sie schrieben: »Der Sand wird knapp, und die Knappheit macht ihn kostbar. Auf einmal ist Sand etwas, womit sich ein Vermögen verdienen lässt. Denn Sand ist nicht nur das Material, aus dem der Sehnsuchtsort Strand besteht, er ist auch der Rohstoff für die Bürotürme, Mietshäuser, Autobahnbrücken und Flughäfen dieser Welt. Es ist der Sand, der die Megacitys der Welt wie Mumbai, Lagos, Shanghai, Dhaka, Kairo und Sao Paolo wuchern lässt. All diese Städte sind aus Beton gebaut. Und Beton besteht aus Sand, meist zu mindestens 40 Prozent. Nicht aus Wüstensand, dessen Körner als untauglich gelten, weil sie zu schlecht haften, sondern aus Sand, den man aus Flüssen fördert oder von Stränden abträgt, auf denen keine Touristen liegen. Wegen des weltweiten Baubooms sind Sand und Kies heute nach Wasser die meistverbrauchten Rohstoffe der Erde – die Vereinten Nationen schätzen den jährlichen Bedarf auf 40 Milliarden Tonnen, mehr als jemals zuvor in der Geschichte. China allein hat in den vergangenen drei Jahren mehr Sand verarbeitet als Amerika im gesamten 20. Jahrhundert [!!!/S.C.].« (Die Zeit, 34/2014) Konsequenzen dieser Entwicklung sind erodierende Küstenlinien, zerstörte Ökosysteme und sinkende Grundwasserspiegel in Ländern wie Malaysia, Kambodscha, Indonesien, Vietnam, die deshalb den Export von Sand verboten haben. Doch viele Verbote werden durch eine international operierende Sand-Mafia unterlaufen, ja, diese Sand-Mafia operiert derart brutal, dass sie dabei nicht vor dem Mord an ihren Gegnern zurückschreckt.

Doch das ist nicht alles. Ein weiteres Schlaglicht auf die Folgen des Immobilien-Kapitalismus unterstreicht dessen destruktive Rolle außerhalb der Industrieländer, nämlich das Phänomen des Aufkaufs großer Landflächen durch private Investoren, das sog. Landgrabbing. Dass dieses die Lebensgrundlegen indigener Völker und Kleinbauern beeinträchtigt, ja sogar zerstört, liegt auf der Hand, wird das gekaufte Land doch sogleich durch diese zumeist europäischen Investoren intensiv ausgebeutet, denn: »Nur 9 Prozent der Landakquisitionen für landwirtschaftliche Nutzung (Gesamtfläche 40,98 Millionen Hektar), die die Land-Matrix im November 2018 erfasste, hatten allein die Lebensmittelproduktion zum Ziel. 38 Prozent der Fläche war für Pflanzen bestimmt, die nicht der menschlichen Ernährung dienen. Auf 15 Prozent sollen Flex Crops wachsen, die je nach Marktlage zu Sprit, Tierfutter oder Nahrungsmitteln verarbeitet werden können. Die restliche Fläche war für mehrere Produkte zugleich bestimmt.« (Wege aus der Hungerkrise, www.weltagrarbericht.de). Dass dabei das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, zeigt sich, wenn man folgendes berücksichtigt: »Weltweit nutzen rund 2,5 Milliarden Menschen 50 Prozent der Landfläche nach dem Gewohnheitsrecht. Nur ein Fünftel des Landes, das ländliche und indigene Gemeinden in Entwicklungsländern bewirtschaften, ist durch Landrechte vor Landraub durch Regierungen und Unternehmen geschützt.« (ebd.) Bemerkenswert ist zudem: »Land Grabbing geht häufig mit Water Grabbing einher: Die mit dem Land verknüpften Wasserrechte spielen meist eine zentrale Rolle. Unternehmen aus Saudi Arabien kaufen oder pachten beispielsweise riesige Flächen im Ausland zur Produktion von Nahrung, da im eigenen Land Wasser ein knappes Gut ist.« (ebd.)

Letzte Spielräume und näherkommende Einschläge

Das hier gezeichnete Bild des Immobilien-Kapitalismus ist, wie schon gesagt, bei Weitem nicht vollständig. Da ist beispielsweise der in diesem Zeitalter eigentlich folgerichtige Aufstieg des Bau-Unternehmers Donald Trump zum Präsidenten der USA – und wie sich das für einen echten Bau-Unternehmer gehört, sind ihm nicht nur sensible Ökosysteme und indigene Landrechte egal, der Kaufversuch Grönlands deutete an, wie sehr sich das US-Kapital nach ungehemmter Ausbeutung der arktischen Landschaften sehnt. Da ist der Finanzriese Blackrock, der nicht nur einer der aggressivsten Akteure im Immobilien-Kapitalismus ist, sondern dieser Fonds ist drauf und dran, durch seinen Ex-Mitarbeiter Friedrich Merz starken Einfluss im Bundeskanzleramt zu bekommen. Da sind nicht zuletzt die extremen Ausbeutungsbedingungen auf den vielen Baustellen des Immobilien-Kapitalismus, die nicht nur viele WanderarbeiterInnen in China oder auf den WM-Baustellen in Katar betreffen. Wie der britische Guardian kürzlich meldete, haben diese unmenschlichen Bedingungen in Großbritannien dazu geführt, dass die Selbstmord-Rate unter britischen Bauarbeitern drei Mal so hoch ist wie im Landesdurchschnitt (Guardian, 13. August 2019).

Doch wenn auch diese Meldungen die Dringlichkeit eines Endes der Blütezeit des Immobilien-Kapitalismus zusätzlich belegen, so stellt sich zum Schluss umso mehr die Frage, wie ist es um die Zukunft dieses Kapitalismus bestellt ist, d.h. wird er »früher oder später« zu Ende gehen? Daniel Stelter hat in einem lesenswerten Artikel im Manager-Magazin vom 2. Juli 2019 darauf hingewiesen, dass die Interventionsmöglichkeiten der Notenbanken noch nicht ganz erschöpft sind. Sie können beispielsweise dazu übergehen, Negativ-Zinsen zu erheben, d.h. sie sorgen dafür, dass jede Kapitalanlage bei Finanzinstitutionen durch Abschlag bestraft wird. Die Notenbanken könnten Altschulden entsorgen, indem sie diese auf ihre Bilanzen schreiben, um sie dann durch Staatseinnahmen mit der Zeit langsam zu tilgen. Durch das Verbot des Privatbesitzes von Gold könnte man Zeit gewinnen, indem das dann verstaatlichte Gold die Bilanzen der Notenbanken wieder ausgleichen hilft. Solche monetaristisch, d.h. über eine Ausweitung oder Einschränkung der Geldmenge gedachten Maßnahmen ändern allerdings nichts an dem Problem des überschüssigen anlagesuchenden Kapitels, sie verschärfen es noch. Und dass auch diese letzten Spielräume der Notenbanken jedoch sehr bald gebraucht werden könnten, zeigen zwei Ereignisse. Als die US-Notenbank ihren Leitzins im Dezember 2018 auf 2,5 Prozent erhöhte, gingen die Börsenkurse auf Talfahrt. Seitdem ist das Thema Leitzinserhöhung in den USA völlig vom Tisch und es stellen sich nur noch zwei Fragen: Kann ein Null-Zins-Kapitalismus auf Dauer funktionieren? Und wäre ein solcher Null-Zins-Kapitalismus noch im strengen Sinne ein Kapitalismus, da in ihm ja die Notenbanken als zentrale Akteure des Kapitals anhaltend Wertsummen verleihen, ohne für diese eine Rendite zu erwarten? Doch auch in diesem Null-Zins-Kapitalismus kommen die Einschläge, wie es scheint, näher. Nahezu unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit kam es am 17. September 2019, wie Die Zeit titelte (Nr. 41/2019), fast zu einem »Kurzschluss im Finanzsystem«. Denn als aus völlig ungeklärten Gründen die Zinsen im Interbanken-Handel des sogenannten Repo-Markts plötzlich nach oben schossen, schien das globale Kartenhaus der Kreditketten zu stürzen. Die US-Notenbank musste in den Folgetagen über 700 Milliarden Dollar in den Bankenmarkt pumpen, um das Weltfinanzsystem und den Immobilien-Kapitalismus erneut zu retten.

 

 

Slave Cubela ist Mitarbeiter einer großen deutschen Gewerkschaft.

Quelle: aus express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 10/2019


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Bild: linksfraktion bochum.de