ver.di: Lohnverhandlungen sind nicht Sache der Politik

Vom „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“ war die Rede, als 1967 der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) Vertreter von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden zu einer „Konzertierten Aktion“ einlud. Zu einer solchen Aktion ruft nun auch der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen sowie den Präsidenten der Bundesbank und einen der Wirtschaftsweisen am 4. Juli zusammen. Mit am Tisch werden auch sitzen: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Heute wie 1967 schwächelt die Wirtschaft und ruft nach Lohnzurückhaltung, viele Preise sind aber bereits so stark gestiegen, dass es für viele Menschen immer schwieriger wird, bis zum Ende des Monats noch mit ihren Einkommen durchzukommen.

Nicht nur ver.di fordert deshalb Lohnerhöhungen, die den gestiegenen Preisen gerecht werden. Der Druck in vielen Haushalten sei riesengroß, sagt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. „Wenn Beschäftigte beispielsweise Tarifgehälter zwischen 2.000 und 2.500 Euro beziehen, ist selbst eine Erhöhung von zehn Prozent angesichts der stark steigenden Preise nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Dauerhaft wirkende Festbeträge seien eine Lösung. Aktuell fordert ver.di in der Tarifrunde für die rund 20.000 Beschäftigten der Lufthansa einen Festbetrag von mindestens 350 Euro im Monat. Und obwohl Scholz im Vorfeld der Konzertierten Aktion klargestellt hat, dass sich die Politik selbstverständlich nicht in Lohnverhandlungen einmischen wolle, klingt sein Aktionsziel genau danach. „Gemeinsam mit den Sozialpartnern wollen wir diskutieren, wie wir mit der aktuellen Preisentwicklung umgehen“, erklärte er, als er seine Einladung aussprach. Zum Ziel der Beratungen mahnt Frank Werneke an, dass es keinesfalls um Lohnverhandlungen gehen könne: „Die Politik sollte sich aus diesen Dingen heraushalten.“

Einmalzahlungen helfen in der derzeitigen Situation nicht weiter

Und deshalb hat der ver.di-Vorsitzende Scholz‘ Vorstoß, dass er den Beteiligten an seinem runden Tisch hohe steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen und dafür den Verzicht auf hohe Tarifforderungen vorschlagen wolle, auch gleich schon mal eine deutliche Absage erteilt in der Stuttgarter Zeitung: „Aus meiner Sicht helfen Einmalzahlungen in der derzeitigen Situation überhaupt nicht weiter. Richtig ist, es gab in der Corona-Pandemie – auch um nochmal Respekt auszudrücken für die besondere Leistung – eine ganze Reihe von Tarifabschlüssen mit steuer- und abgabenfreien Corona-Prämien. Aber das tarifpolitische Instrument ist aus meiner Sicht jetzt erst einmal verbraucht. Denn wir haben es mit absehbar dauerhaft steigenden Preisen zu tun. Die müssen mit dauerhaft wirkenden Tariflöhnen ausgeglichen werden. Alles andere führt sonst unterm Strich zu Reallohnverlust. Deshalb treten wir in den aktuellen Tarifverhandlungen klar mit dem Ziel an, dass durch eine Tariflohnsteigerung die Preisentwicklung ausgeglichen wird.“

Yasmin Fahimi, Anfang Mai zur neuen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gewählt, sagte kurz nach ihrer Wahl im Bezug auf die Preisentwicklungen, die Gewerkschaften ließen sich „diesen Unsinn einer Lohn-Preis-Spirale wegen der grassierenden Inflation nicht aufquatschen“. Steigende Löhne hätten nicht zwangsläufig steigende Preise zur Folge. Wer daher jetzt von Lohnzurückhaltung rede, wolle wieder einmal die Kosten der Krise allein auf dem Rücken der Beschäftigten abladen. Der ver.di-Vorsitzende drückt es so aus: „Unser Kurs ist ganz klar: Dauerhaft steigende Preise müssen durch dauerhaft wirkende Tariflohnsteigerungen vollumfänglich ausgeglichen werden.“ Und das gelte in der Folge auch für Rentenanpassungen und den Mindestlohn. Gesprächsbedarf gibt es für Werneke deshalb allemal. Mit Blick auf die Kanzlerrunde sagt er, dass angesichts der enormen Belastungen für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen bei den Entlastungen „nachgeliefert“ werden müsse, „insbesondere auch mit Blick auf die Lebensmittelpreise“, so Werneke. Und: „Sich dafür zusammenzusetzen ist aller Ehren wert und aus meiner Sicht auch absolut richtig.“

Schon einmal grandios gescheitert

Auf eine konzertierte Aktion à la 1967 gibt der ver.di-Vorsitzende allerdings nicht viel: „Es ist ein unglücklich gewählter Begriff. Wenn man einen Blick in die Geschichtsbücher wirft, dann weiß man, dass die konzertierte Aktion Ende der 60er Jahre grandios gescheitert ist.“ Auch der Revival-Versuch unter der Überschrift „Bündnis für Arbeit“ sei in den 90er Jahren misslungen.

Tatsächlich wollte seinerzeit die Große Koalition auf die erste Nachkriegsrezession der Jahre 1966/67 reagieren. Mit staatlichen Lenkungsmaßnahmen wollte die Regierung die Konjunktur beleben. Damals lag sie damit voll auf der Linie der Gewerkschaften. Schon in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahren hatten diese ein Programm zur Wirtschaftsbelebung durch staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befürwortet. Im Grundsatzprogramm von 1963 bekannte sich der DGB bereits zu einer Politik, nach der der Staat konjunkturell bedingte Auftragsausfälle durch verstärktes Engagement der öffentlichen Hand ausgleichen solle.

Für die Arbeitgeberverbände und die Bundesbank blieb die Konzertierte Aktion nach 1967 ein unverbindliches Diskussionsforum, in welchem die Spitzenverbände ihre Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Situation austauschten. Für die Gewerkschaften hingegen ging die Aktion nicht auf. Es gab zwar weder für Arbeitgeber noch für Gewerkschaften bindende Vorgaben, dennoch hielten sich letztere in den Lohnrunden deutlich zurück. In der Folge sanken die Realeinkommen der Beschäftigten, die Wut der Gewerkschaftsmitglieder hingegen wuchs, vor allem deshalb, weil einige Konzerne trotz Wirtschaftskrise beachtliche Gewinne einfuhren. Letzteres ließ sich im Übrigen erneut auch in den zurückliegenden Corona-Jahren beobachten. Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren führte die Gemengelage schließlich in einigen Bereichen zu wilden Streiks.

„Seelenmassage mit eng begrenzten Folgen“

Die Bundeszentrale für politische Bildung zieht in ihrem Handwörterbuch des politischen Systems folgendes Fazit: Die Konzertierte Aktion sei „ihrem Namen nie gerecht geworden und kann eher als institutionalisierte, gruppenbezogene und quantifizierte ,Seelenmassage‘ mit eng begrenzten Folgen charakterisiert werden.“

Was das nun für die konzertierte Kanzlerrunde heißt, ist offen. Fest steht: Die Gewerkschaften des DGB, darunter ver.di, verhandeln in diesem Jahr für knapp 10 Millionen Beschäftigte neue Tarifverträge. Streiks wie derzeit an den Seehäfen in Deutschland, wo sich ver.di und Arbeitgeber auch in der vierten Verhandlungsrunde für die rund 12.000 Beschäftigten kürzlich ergebnislos getrennt haben, sind nicht auszuschließen.

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Kommentar:

Der ewige Buhmann oder wie mit Geschichtsklitterung antigewerkschaftliche Propaganda gemacht wird

  • Er ist in der veröffentlichten Meinung der personifizierte gewerkschaftliche Buhmann: Heinz Kluncker, ÖTV Vorsitzender von 1964 bis 1982. Was hat ihm diese Ehre eingetragen? Mit seiner ÖTV streikte er im Februar 1974 ganze drei Tage und erreichte ein Tarifergebnis von 11 Prozent mehr Gehalt und Lohn, mindestens 160 Mark. Für die veröffentlichte Meinung, so nannte Heinz Kluncker die Presse, noch heute ein Teufelswerk.
  • So schreibt Nikolaus Doll in der „Die Welt“ am 22. Juni 2022: „Der ÖTV-Abschluss verstärkte eine verhängnisvolle Lohn-Preis-Spirale und damit die aufkommende Wirtschaftskrise – Deutschland rutschte in eine Stagflation.“ Und der FOCUS, das Handelsblatt sowie die WirtschaftsWoche stimmen abermals in das Propaganda-Mantra ein.
  • Ein Schelm, der sich in der aktuellen wirtschaftlichen Lage kurz vor Bekanntgeben der Tarifforderung der IG Metall was dabei denkt, dass diese alte Geschichte zum wiederholten Male aufgewärmt wird.
  • Zur Klarstellung: Das ist historischer Unfug. Geschichtsklitterung nennt man das. Die Fakten: Die Inflationsrate lag: 1972 bei 5,4 Prozent; 1973, also vor dem Streik, bei 7,1 Prozent; 1974, im Jahr des Streiks, bei 6,9 Prozent; danach fiel sie kontinuierlich weiter bis 1978 auf 2,7 Prozent! Wo bleibt denn da die „Lohn-Preis-Spirale“?
  • Und die ÖTV? In den Jahren 1972 und 1973 hatte sie Lohn- und Gehaltsabschlüsse unterhalb der Inflationsrate akzeptiert (1972: 4 Prozent, 1973: 5,4 Prozent). 1974 ging es also auch darum, mit den 11 Prozent den Kaufkraftverlust der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus den vergangenen Jahren auszugleichen.
  • Es gleicht einem Kampf gegen Windmühlen: Historische Fakten gegen antigewerkschaftliche Propaganda. Doch wir haben den längeren Atem!

Hartmut Simon, Historiker und ver.di-Archivar

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.verdi.de/
Bild: ver.di