Unter dem Deckmantel der Marktwirtschaft

Von Yanis Varoufakis

Die Austeritätspolitik dominiert das Denken in den westlichen Staaten, weil drei wichtige Gruppen sie für das allein seligmachende Mittel halten: die Feinde des starken Staates, etliche europäische Sozialdemokraten und die steuersenkungsverrückten Republikaner in den USA. Sie destabilisieren damit Wirtschaft und Gesellschaft.

Keine politische Strategie ist in Zeiten der Rezession so kontraproduktiv wie das Streben nach einem Haushaltsüberschuss, um die Staatsverschuldung einzudämmen – auch als Austerität bekannt, also strenge Sparpolitik eines Staates. Angesichts des nahenden zehnten Jahrestags des Zusammenbruchs von Lehman Brothers ist daher die Frage angebracht: Warum erfreute sich Austerität derartiger Beliebtheit bei der politischen Elite des Westens, nachdem der Finanzsektors im Jahr 2008 implodiert war?
Für Austeritätspolitik gibt es vor allem nicht-ökonomische Gründe

Was aus ökonomischer Sicht gegen Austerität spricht, liegt klar auf der Hand: Ein wirtschaftlicher Abschwung hat zur Folge, dass der private Sektor weniger Geld ausgibt. Eine Regierung, die als Reaktion auf sinkende Steuereinnahmen die öffentlichen Ausgaben kürzt, senkt unbeabsichtigt das Nationaleinkommen (die Summe der privaten und öffentlichen Ausgaben) – und somit zwangsläufig die eigenen Einnahmen. Damit wird auch das ursprüngliche Ziel der Defizitsenkung verfehlt.

Es muss also offenkundig eine andere, nicht-ökonomische Begründung für die Unterstützung der Austerität geben. Tatsächlich sind die Befürworter des strikten Sparens in drei sehr unterschiedliche Fraktionen aufgeteilt, von denen sich jede aus ihren eigenen Gründen für die Austerität ausspricht.

Die erste und bekannteste „Austeritätsfraktion“ betrachtet den Staat wie einen Betrieb oder Haushalt, der in schlechten Zeiten den Gürtel enger schnallen muss. Weil diese Fraktion dabei die entscheidende wechselseitige Abhängigkeit zwischen staatlichen Ausgaben und den (Steuer-)einnahmen übersieht – die die auf Firmen und Haushalte glücklicherweise nicht zutrifft – gelangt sie über einen fehlerhaften intellektuellen Sprung von privater Sparsamkeit zu öffentlicher Austerität. Freilich ist dieser Irrtum nicht zufällig, sondern sehr stark durch ein ideologisches Bekenntnis zu einem schlanken Staat motiviert, hinter dem sich das bedenklichere Klasseninteresse verbirgt, Risiken und Verluste auf die Armen umzuverteilen.

Eine zweite, weniger bekannte Austeritätsfraktion ist innerhalb der europäischen Sozialdemokratie zu finden. Um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen: Als 2008 die Finanzkrise ausbrach, lag das deutsche Finanzministerium in den Händen von Peer Steinbrück, damals ein führender Sozialdemokrat. Beinahe postwendend verschrieb Steinbrück Deutschland eine Dosis Austerität als optimale Reaktion auf die große Rezession.

Sparpolitik macht sinnvolle Entscheidungen unmöglich – auch für Sozialdemokraten

Darüber hinaus trat Steinbrück für eine Verfassungsänderung ein. Sie sollte alle künftigen deutschen Regierungen davon abhalten, von der Sparpolitik abzuweichen – und zwar ungeachtet dessen, wie tief der wirtschaftliche Abschwung auch sein mag. Warum, so fragt man sich, würde ein Sozialdemokrat während der seit Jahrzehnten schlimmsten Krise des Kapitalismus die kontraproduktive Austerität in der Verfassung festschreiben wollen?

Steinbrück lieferte die Antwort darauf im März 2009 im Bundestag. „Es ist die Demokratie, Dummkopf!“ wäre eine treffende Zusammenfassung seines verzerrten Arguments. Vor dem Hintergrund scheiternder Banken und einer starken Rezession meinte er, Haushaltsdefizite würden gewählten Politikern den Handlungsspielraum nehmen und den Wählern sinnvolle Entscheidungen unmöglich machen.

Obwohl Steinbrück es nicht so zum Ausdruck brachte, war die zugrunde liegende Botschaft klar: Auch wenn Austerität Arbeitsplätze vernichtet und gewöhnlichen Menschen schadet, ist sie notwendig, um Raum für demokratische Entscheidungen zu bewahren. Seltsamerweise kam ihm nicht in den Sinn, dass demokratische Optionen – zumindest während eines Abschwungs – am besten geschützt werden, indem man einfach die Steuern für die Reichen und die Sozialleistungen für die Armen erhöht.

Die dritte Austeritätsfraktion ist in Amerika beheimatet und ist die vielleicht faszinierendste von den dreien. Während britische Thatcheristen und deutsche Sozialdemokraten in wenig durchdachter Weise versuchen, das staatliche Haushaltsdefizit zu verringern, ist es den amerikanischen Republikanern weder wirklich wichtig, das Haushaltsdefizit zu begrenzen, noch glauben sie daran, dass es ihnen auch gelingt. Im Anschluss an ihre Wahl auf Grundlage von Wahlprogrammen in denen sie ihre Verachtung für einen starken Staat bekunden und versprechen, ihn in die Schranken zu weisen, treiben sie das Defizit des Bundeshaushaltes mit Steuersenkungen für ihre reichen Spender weiter in die Höhe. Obwohl ihnen die Defizit-Phobie der anderen beiden Fraktionen offenkundig völlig fehlt, ist ihr Ziel im Grunde austeritätsorientiert. Sie wollen die „Bestie aushungern“ – also das amerikanische Sozialsystem.

Die Republikaner in den USA sparen, um das Sozialsystem abzuschaffen

In diesem Sinne ist Donald Trump ein Republikaner in bester Tradition. Unterstützt durch die exorbitante Anziehungskraft des Dollars auf Käufer von US-Staatsanleihen, ist er sich einer Tatsache sicher: Je stärker er das Haushaltsdefizit erhöht, etwa durch Steuervergünstigungen für Seinesgleichen, desto größer wird der politische Druck auf den Kongress, Ansprüche auf Leistungen der Sozialversicherung, Medicare und staatliche Leistungen zu kürzen. Die üblichen Rechtfertigungen für Austerität (fiskalische Redlichkeit und Eindämmung der Staatsschulden) werden über Bord geworfen, um das tiefer liegende politische Ziel zu erreichen: die Unterstützung für viele Menschen zu beseitigen und stattdessen das Einkommen zu den wenigen Wohlhabenden umzuverteilen.

Unterdessen hat sich der Kapitalismus unabhängig von den Zielen der Politiker und ihrer ideologischen Ablenkungsmanöver weiterentwickelt. Die überwiegende Mehrheit der wirtschaftlichen Entscheidungen wird längst nicht mehr von Marktkräften bestimmt und heute in einem streng hierarchischen, wenn auch recht locker strukturierten Hyperkartell globaler Konzerne getroffen. Seine Manager legen Preise fest, bestimmen Quantitäten, steuern Erwartungen, produzieren Wünsche und spielen mit Politikern zusammen, um Pseudomärkte zu formen, die ihre Dienstleistungen subventionieren. Das erste Opfer dieser Entwicklung war das Ziel der Vollbeschäftigung aus der Zeit des New Deal. Es wurde von einer Wachstumsbesessenheit abgelöst.

Autokonzerne wie General Motors wurden zu spekulativen Finanzunternehmen

Später in den 1990er-Jahren finanzialisierte sich das Hyperkartell. Das heißt: Die Bedeutung von Einkommen aus Produktion und Lohnarbeit reduzierte sich zugunsten von Einkommen aus Finanzgeschäften. Unternehmen wie General Motors mutierten zu großen spekulativen Finanzunternehmen, die auch ein paar Autos herstellten. Das Ziel des BIP-Wachstums wurde durch das Ziel der „finanziellen Resilienz“ ersetzt: unablässige Vermehrung der Papierwerte für wenige und dauerhafte Austerität für viele. Diese schöne neue Welt wurde naturgemäß zum Nährboden für die drei Austeritätsfraktionen, wobei jede ihren speziellen Beitrag zur ideologischen Vorherrschaft der Austerität leistete.

Die Verbreitung des Spardiktats ist daher Ausdruck einer umfassenden Dynamik, die unter dem Deckmantel des marktwirtschaftlichen Kapitalismus ein kartellbasiertes, hierarchisches und finanzialisiertes Weltwirtschaftssystem schafft. Austerität dominiert das ökonomische Denken im Westen, weil drei mächtige politische Fraktionen es verfechten. Die Feinde des starken Staates verbinden sich mit europäischen Sozialdemokraten und den steuersenkungsverrückten US-Republikanern, die entschlossen sind, Amerikas New Deal ein für allemal ein Ende zu setzen.

Das hat nicht nur unnötige Härten für große Teile der Menschheit zur Folge, sondern auch einen Teufelskreis aus sich verschlimmernder Ungleichheit und chronischer Instabilität.


Yanis Varoufakis lehrt an der Universität in Athen Wirtschaftswissenschaften. Er war 2015 Finanzminister in Griechenland. Heute ist er aktiver Blogger und Autor mehrerer Sachbücher.

 

 

Quelle: GEGENBLENDE ist das gewerkschaftliche Online-Magazin für die Debatten zur Zukunft unserer Gesellschaft. http://gegenblende.dgb.de/

Bildbearbeitung: L.N.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

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