Auto-Korrektur: Digitalisierung, Elektromobilität, Industrie 4.0 – ein Blick in die Gegenwart und die Zukunft der deutschen Automobilindustrie

Von Peter Schadt

In Deutschland sind etwa 800.000 Menschen in der Automobilindustrie beschäftigt – zählt man die indirekt Angestellten hinzu, kommen schnell zwei Millionen Arbeitsplätze zusammen. Zum hiesigen Bruttoinlandsprodukt hat diese Branche in den letzten Jahren zumeist etwas mehr als vier Prozent beigetragen; seit neun Jahren ist das Auto Deutschlands Exportprodukt Nummer eins. Die Automobilbauer gelten als Impulsgeber für Produkt und Produktionsinnovationen; das jährliche Investitionsvolumen im Bereich Forschung und Entwicklung lag bereits 2016 bei über 20 Milliarden Euro. Einige der größten Kapitale Deutschlands – und damit Europas – finden sich in der Automobilindustrie.

Dabei ist die Konkurrenz dieser Kapitale untereinander folgenreich. Mit Audi, BMW, Daimler, Porsche, VW und Ford Europe gibt es nur noch sechs deutsche Autohersteller. Auf seiten der Zulieferer finden sich drei deutsche Firmen — Bosch, Continental und ZF Friedrichshafen -, die zusammen schon 2016 einen Umsatz von deutlich mehr als 100 Milliarden Euro machten. Das Wachstum dieser Megazulieferer ging auf Kosten der kleinen und mittelständigen Zulieferer in der BRD und anderen Teilen der Welt: 1988 waren es noch insgesamt 30.000 Betriebe, 1998 gab es bereits weniger als 8.000, im Jahr 2000 war ihre Zahl weltweit auf 5.600 gesunken. Demgegenüber entstehen allerlei Start-ups neu, die zumeist kleiner digitale Dienstleistungen für die Branche übernehmen.

Verfolgt man die aktuellen Debatten zur Zukunft der Automobilindustrie, dann „erschüttern“ verschiedene „Trends“ oder sogar „Megatrends“ die gesamte Branche: die Umstellung vom Brennstoff- auf den Hybrid- oder Elektromotor einerseits, die Digitalisierung anderseits.

Hinzu kommen nun die Auswirkungen der Corona-Krise und der von ihr zwar nicht verursachten, aber forcierten kommenden kapitalistischen Krise. Schon seit einigen Jahren liest man regelmäßig: „Autoindustrie vor größtem Umbruch aller Zeiten („Süddeutsche Zeitung“).

„Die Digitalisierung“ verlange von den Unternehmen alles Mögliche an Reaktionen – eine merkwürdig passive  Interpretation dessen, was das Kapital dort gerade ins Werk setzt. Denn die Unternehmen sind selbst die Vorreiter der neuen Technologie, die sie einsetzen, um sich in der Konkurrenz gegen andere Unternehmen durchzusetzen. „Betroffen“ sind sie höchsten von Konkurrenten, die dabei erfolgreicher sind als sie.

Wenn heut Autoteile produziert werden, dann liegen sie zumeist in doppelter Form vor: einmal physisch und einmal als Datensatz. Damit der Weg eines jeden Teils nachvollzogen werden kann, ist die gesamte Produktion via RFID-Chip vernetzt. Erstens lässt sich so die Produktionsgeschwindigkeit erhöhen, da durch das cyberphysische System unnötige Pausen in der Produktion minimiert werden. Zeit ist bekanntlich Geld, und jede Sekunde, die das konstante Kapital der Fabriken dem Zweck der Geldvermehrung nicht nachgehen kann, ist eine verlorene. Für die Beschäftigten stellt sich das Ganze umgekehrt dar: Die Reduzierung von »Leerlauf« bedeutet für sie eine stärkere Verdichtung der Arbeit. Zweitens wird die Produktion von Autos dadurch noch weiter individualisiert. Die Informationen über Sonderwünsche der Kunden können direkt in den Chips der Produkte gespeichert werden. So nähert man sich dem Ideal der sogenannten Losgröße 1 an: Kein produziertes Auto soll mehr dem anderen gleichen, eine vollständig individualisierte Produktion soll massenhaft eingeführt werden. Kein Auto soll nach der Produktion in Autohäusern auf den Käufer warten, sondern gewissermaßen on demand, also auf direkte Nachfrage des Kunden, hergestellt werden.

Es entstehen zudem ganz neue Produkte. Dabei handelt es sich nicht nur um die neuen Antriebsarten, die schlicht eine Erweiterung der bestehenden Produktpalette darstellen. Die digitale Technik selbst hält nicht nur Einzug in die Produktion, sondern auch in das Produkt, das Auto, und meldet im Cockpit allerlei Besonderheiten über Autofunktionen, die durch diverse Sensoren und Kameras im Fahrzeug permanent überwacht werden. Mehr noch: Die Autos selbst sammeln nun haufenweise Daten, die — zusammengefasst als »Big Data« – die notwendige Bedingung für Techniken wie das autonome Fahren sind. Das Produkt wird zum Produktionsmittel, und die gesammelten Daten werden ihrerseits zu Waren, um die konkurriert wird.

Die Digitalisierung der Branche führt aufgrund von verkürzten Produktionsabständen für die Beschäftigten zu einer Verdichtung der Arbeit. Die lückenlose Erfassung der Metadaten der Produktion dient zugleich der Überwachung der Belegschaft. Verdichtung und Datenerfassung treffen dabei aber nur den Teil der Lohnarbeiter, der überhaupt diese Welle des Fortschritts als Teil der Belegschaft erlebt – denn selbstverständlich produziert die technische Rationalisierung ein Heer von Überflüssigen. Der kapitalistische Fortschritt sorgt auf der einen Seite für höheren Profit, auf der anderen für Arbeitsverdichtung, Arbeitslosigkeit und daraus resultierenden Stress.

Empirisch sind diese Wirkungen inzwischen gut erforscht und die Ergebnisse wenig überraschend: »Der digitale Stress nimmt offensichtlich  vor allem aufgrund der Intensivierung der Arbeit sowie häufiger Störungen und Unterbrechungen zu — umso stärker, je länger und flexibler die Arbeitszeiten ausfallen«, heißt es zum Beispiel in Hans Jürgen Urbans Studie Gute Arbeit in der Transformation.

Zweierlei ist ihr zu entnehmen: Die Digitalisierung ist kein Trend, der die Kapitale der Automobilindustrie dazu nötigen würde, ihre Produktion auf den neuesten Stand zu bringen, weil sie – leider, leider! – sonst in der Konkurrenz unterliegen würden. Die Digitalisierung ist kein Subjekt, dem die Branche ausgeliefert wäre, sondern selbst Ergebnis der Interessenverfolgung der Kapitale innerhalb der Branche. Wer allerdings von ökonomischen Interessen nichts wissen will, für den wird die neue Technik zur fremden Macht, welche die Arbeit der Beschäftigten verdichtet und erkleckliche Teile von ihnen überflüssig macht.

Denn weder cyberphysische Systeme, RFID-Chips, 3D-Drucker, vernetzte Produktionen noch smarte Fabriken entlassen Arbeitskräfte oder steigern von sich aus die Arbeitsintensität. Dass jede neue Technologie, welche immer auch die Potenz birgt, die Arbeit für alle zu reduzieren, zielsicher das Gegenteil hervorruft, ist Folge des Zwecks, für den sie eingeführt wird.

Entsprechend ist die Phrase von den »Chancen und Risiken« der Digitalisierung irreführend. Etwa wenn die Rede ist von einer Reduktion der Arbeit, von einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf usw. Hier wird in der Regel die Rechnung ohne die Sachzwänge der kapitalistischen Ökonomie gemacht, wonach sich die Einführung neuer Technik zuerst für ihren Anwender zu lohnen hat. Was für die Kapitalseite eine Chance ist, ist für die Arbeiter ein Risiko.

So sicher die angeblich ergebnisoffene Digitalisierung durch die Steigerung der Produktivität der Arbeit das Verhältnis vom Lohn zum Wert der hergestellten Autos für die Unternehmen verbessert – also die Lohnstückkosten senkt -, so sicher tun sich neue Kampffelder in der Autoindustrie auf, deren Sieger noch nicht feststehen. Die IT-Branche versucht, ihre Rolle als bloßer Zulieferer zu überwinden, indem sie Daimler und Co. zu bloßen »Hardwarelieferanten« ihrer Smartcars degradiert. Es geht um die Frage, wo die Wertschöpfung in Zukunft stattfindet: im Silicon Valley oder im Schwabenland. Den Autobauern hilft es wenig, wenn ihre Motoren und Getriebe zwar nach wie vor gefragt sind, das Herzstück der Produktion jedoch in Übersee liegt.

Aber die Konkurrenz wird nicht nur von anderen Branchen durcheinandergewirbelt, sondern auch von der Automobilbranche selbst: Kapitalintensive Projekte wie Carsharing-Dienste erfordern Summen, die selbst deutsche Autohersteller nur gemeinsam aufbringen können. Daimler und BMW haben daher den Widerspruch praktisch gemacht und sind auf diesem Markt eine Partnerschaft eingegangen. Als Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen sieht sich Daimler in der Pflicht, seinen Kunden ein »umfassendes Mobilitätsangebot« (Dieter Zetsche, 2018) zu machen, wobei der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Daimler dafür auch neue Partnerschaften mit anderen Autoherstellern als notwendig ansah: »Über das alte Freund-Feind-Schema hinaus sehen wir auch die Möglichkeit, gleichzeitig (!) Partner und Rivalen zu sein. Deshalb bündeln wir unsere Kräfte mit einem vielleicht unerwarteten, aber eben auch höchst kompetenten Partner.« Das Kapital beherrscht die Dialektik ganz ohne Hegel-Studium.

Im Kampf gegen Uber und den chinesischen Fahrdienstleister Didi Chuxing um das Carsharing-Angebot sind also Daimler und BMW mit den Diensten Car2go und Drive Now zusammengegangen. Und zwar ohne dabei die Konkurrenz aufzuheben. Es soll nämlich nicht nur in anderen Sparten weiter konkurriert werden, sondern Daimler kündigt gleichzeitig an, auch seine Rolle als führender Mobilitätsdienstleister gegen BMW weiter ausbauen zu wollen. So rückt das Feld der deutschen Automobilindustrie gegen die Angriffe der IT-Giganten enger zusammen, ohne die Konkurrenz ganz aufzugeben. In anderen Bereichen wiederum, beispielsweise beim autonomen Fahren, gibt es Kooperationen zwischen BMW, Daimler, VW, Zulieferbetrieben und der IT-Branche.

Ein weiterer Aspekt, der eine Neustrukturierung der Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Branche begünstigt, hängt mit der Weiterentwicklung der großen Zulieferer der Autoindustrie zusammen. Die haben sich im Bereich Sensorentechnik und Datenmanagement so weit von den Autobauern emanzipiert, dass sie selbst als Endhersteller autonomer Fahrzeuge fungieren können. Jeder der großen Zulieferer arbeitet an autonomen Shuttles und Taxis, womit diese Lieferanten in die Konkurrenz um die Produktendherstellung einsteigen. Wie erfolgreich diese Strategie sein wird, bleibt abzuwarten. Fest steht allerdings, dass die Megazulieferer ihr Verhältnis zu kleineren Zuliefererbetrieben inzwischen in ähnlicher Autonomie gestalten können wie die Autohersteller selbst.

Diese Fortschritte in der Konkurrenz bringen neue Konflikte mit sich. Dass der Fortschritt der Industrie auf ihrer Verschmelzung mit der Informationstechnologie beruht, bietet vor allem hierzulande Anlass zur Klage. Je weit- und tiefgreifender die Leistungen der IT-Kapitale genutzt werden, desto größer wird ihre Macht, denn die Autoindustrie verdankt ihr die Mittel ihres eigenen industriellen Fortschritts. So hat man sich hierzulande die Globalisierung nicht vorgestellt: Das amerikanische IT-Kapital sollte als Zuliefererindustrie für die deutsche Autoindustrie benutzt werden und nicht umgekehrt deutsche Firmen zu bloßen »Hardware«-Lieferanten machen.

Bereits 2002 lag der Anteil der Elektronik in Relation zur gesamten Wertschöpfung beim Auto bei sieben Prozent, inzwischen ist er nicht selten doppelt so hoch. Elektronische Systeme im Fahrzeug waren 2015 bereits die Basis für 80 Prozent aller Innovationen. Und auch der deutsche Staat ist mit seinem Programm »Industrie 4.0« aktiv geworden und hat mit Infrastrukturprojekten ein politökonomisches Konkurrenzprogramm aufgelegt: sowohl gegen amerikanische IT-Unternehmen wie auch gegen ausländische Automobilkonzerne, wobei hier besonders die chinesische E-Auto-Industrie im Fokus steht.

Derlei Schützenhilfe vom deutschen Staat nimmt die Automobilindustrie in ihrer weltweiten Konkurrenz nicht nur gerne an, sondern fordert sie auch aktiv ein. Und diese Konkurrenz findet nicht nur auf der Ebene der Produktion sowie der Endproduktmärkte statt. Für die Herstellung von SUVs und Co. sind Rohstoffe und seltene Erden notwendig, die nur zum kleineren Teil in Deutschland vorkommen. So betonte bereits 2011 der Verband der Automobilindustrie im Hinblick auf künftige Elektromobilität: »Auch in Zukunft ist der sichere Zugang zu Rohstoffen wie Kobalt oder Neodym fundamental.« Von der Politik forderte man »verlässliche Rahmenbedingungen durch eine integrierte nationale und europäische Energiestrategie, um die Versorgung mit kostengünstiger und umweltfreundlicher Energie für die Elektromobilität langfristig sicherzustellen«.

Entgegen den eigenen Behauptungen in den Hochglanzbroschüren, die neue digitale Technik würde weniger Rohstoffe verbrauchen, ist der deutschen Automobilindustrie sehr wohl bewusst, wie der Rohstoffverbrauch 4.0 aussieht: »Für die Technologie von morgen brauchen wir mehr Rohstoffe — für ein Elektroauto zum Beispiel 60 Kilogramm mehr Kupfer, 50 Kilogramm mehr Aluminium, 20 Kilogramm mehr Stahl und zehn Kilogramm mehr Nickel als für einen herkömmlichen Verbrenner. Bei erneuerbaren Energien und der Telekommunikation spielen Aluminium, Kupfer, Magnesium, Nickel, Zink, Blei und andere Metalle ebenfalls eine wichtige Rolle.« Auch hier hat der deutsche Imperialismus in den Jahren 2020 ff. also Großes vor.

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Peter Schadt ist Gewerkschaftssekretär des DGB.

 

 

Der Beitrag erschien zuerst in konkret 9/2020 und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion gespiegelt. Weitere Infos:  https://www.konkret-magazin.de/

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