Dortmund, die strafende Stadt – wir brauchen etwas Besseres als höhere Strafen

Vor dem Hintergrund eines globalen Kapitalismus mit seinen sozialen Desintegrationsprozessen gibt es mittlerweile kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, auf das seitens der Politik mit der Verschärfung des Strafrechts reagiert wird.

Nicht nach den Ursachen fragen, sondern mit dem Strafgesetzbuch zu drohen, ist die neue Ausrichtung. Die Kriminalität wurde von der Politik für die Gunst bei den Wählern, der Machterhaltung und von den Medien für die Zustimmung ihrer Kunden und Konsumenten genutzt. Beide, Politik und Medien spielen sich die Bälle zu, bei dem Spiel werden spektakuläre Einzelfälle aufgebauscht, die öffentliche Erregung führt zur Verschärfung der politischen Rhetorik, auf die folgt dann der Ausbau der Überwachung, die strafrechtliche Kontrolle schon im Verdachtsfall und die strafende Kommune zeigt sich vorgeblich als Bewahrer des Gemeinsinns, real aber als aggressiver Hüter von Recht und Ordnung.

Das Autoritäre ist der Versuch, die Kontrollverluste, die entstanden sind, wiederherzustellen. In Dortmund zeigt sich dies beispielsweise an der geplanten Übernahme des bald erscheinenden „Bußgeldkatalog Umwelt“ der NRW-Landesregierung, in dem für Menschen, die eine Kippe wegschnippen, eine sechs Mal höhere Strafe als bisher verhängt werden soll.Die Folgen des Neoliberalismus zeigen sich als zunehmender Prozess der sozialen Zersplitterung der Gesellschaft, bei dem es immer mehr Verlierer gibt. Die Auswirkungen der „Reformen der Agenda 2010“ die von der rot-grünen Koalition Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurden, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert und der deutsche Niedriglohnsektor zum größten innerhalb der OECD aufgebaut. Parallel dazu wurde der Sozialstaat demontiert und eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht hat. Der sogenannten Mittelschicht ist deutlich gemacht worden, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. So reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab und die Zersplitterung der Gesellschaft wird von dem generellen Misstrauen gegenüber den Mitmenschen begleitet.

Die Kommune selbst sieht überall ein Sicherheitsproblem, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheitskräfte entschärft werden soll, die gefühlte Bedrohung wird dann real erlebt und nach einer noch stärkeren Ordnungsmacht gerufen. Bei diesem Prozess ist es erforderlich, Sündenböcke zu kreieren, die als Ursache für die wachsende soziale Ungleichheit dienen müssen und denjenigen, die nichts mehr haben, als strafender und disziplinierender Staat entgegen zu treten.

Der Ruf nach der Strafverschärfung und damit nach der Individualisierung der gesellschaftlichen Probleme soll den Menschen mit Abstiegsängsten und denen mit großen Vermögen einen starken Staat demonstrieren, der es versteht, die Ängste in Kriminalitätsfurcht zu kanalisieren.

Es ist kein Zufall, dass Arme härter bestraft werden als Reiche und für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren.

Strafende Stadt

Die enorme Wucht, mit der der Staat straft, wird beispielsweise besonders bei den folgenden Delikten und Sühnemaßnahmen deutlich:

  • Schwarzfahren und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind klassische Armutsdelikte und müssen mit Ersatzfreiheitsstrafen und länger Haft gesühnt werden.
  • Das Abriegeln ganzer Quartiere mit Personenkontrollen, keiner kommt rein, keiner geht raus, soll die Tatkraft der Ordnungskräfte unter Beweis stellen. Dazu gehört auch das martialische Auftreten von Polizei und Ordnungskräften und das öffentlichkeitswirksame Zelebrieren von Durchsuchungen mutmaßlicher Dealer. Hier werden elementare Grundrechte der Bewohner verletzt.
  • Die Vertreibung der an den Rand gedrängten Menschen aus der Fußgängerzone wird erforderlich, damit die Konsumenten ohne schlechtes Gewissen die Kassen der Geschäftsleute klingeln lassen.
  • Damit das Konsumerlebnis auch lustvoll gewährleistet ist, wurden Obdachlose mit einem Bußgeld wegen „Lagern und Campieren“ in Höhe von 20 Euro überzogen, zu überweisen innerhalb von 7 Werktagen. Geht das Geld bei der Stadt nicht ein, droht eine Ersatzfreiheitsstrafe.
  • Bei der Eintreibung von rückständigen Gebühren oder im Rahmen der Amtshilfe wird von der Stadt sofort das gesamte Marterpaket ausgerollt – die Lohnpfändung, die Kontopfändung und die Vermögensauskunft werden verhängt, mit dem Eintrag in das Schuldnerverzeichnis – und das auch bei Forderungen von unter 100 Euro.
  • Für zahlungsunfähige Menschen, gegen die die Stadt eine Forderung hat, wird neuerdings ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt, um sie unter Druck zu setzen. Obwohl sie nicht zahlen können und auch nicht zahlen müssen, sollen sie aus dem unpfändbaren Einkommensanteil Zahlungen an die Stadt leisten.
  • Nach der Einführung der Sperrbezirksverordnung im Jahr 2011 wurden Hunderte von Anzeigen gegen Prostituierte, die ihren Drogenkonsum so finanzieren müssen, ausgesprochen – einzelne Frauen erhielten mehr als 20 Anzeigen. Im Verbund mit typischen Drogendelikten wurden und werden immer noch Frauen zu Haftstrafen von mehreren Monaten bis hin zu vier Jahren verurteilt. Im Durchschnitt sind rund 20 Frauen, die als Prostituierte arbeiteten müssen, inhaftiert.
Politik und Verwaltung werden bei der Stimmungsmache von den Konzernmedien unterstützt

Als ein Beispiel dafür, wie Politik und Verwaltung Stimmung machen und von den Konzernmedien dabei unterstützt werden, zeigt der Beitrag der Ruhr Nachrichten des Lensing-Verlags vom 24.04.2019, gedruckt auch in der WAZ vom 06.05.2019, in dem der Redakteur Tobias Großkemper das Zigarettenkippen wegschnippen in Dortmund zu einem „großen Problem“ aufbauscht und dabei alle Register zieht, um für eine Lappalie, die drakonische Strafe droht, zu legitimeren.

Auf der ersten Seite der WAZ-Dortmund nahm der Artikel mit großem Foto fast 3/4 der Seite ein. Er wird im Folgenden wörtlich wiedergegeben.

„Zigarettenkippen wegschnippen: Pläne für sechs Mal höhere Strafe

Es gibt Pläne, das achtlose Wegschnippen von Kippen drastisch höher zu bestrafen. Auch, wenn konkrete Zahlen nicht zu kriegen sind: Kippen sind für Dortmund ein großes Problem.
von Tobias Grosskemper

Wenn man mit offenen Augen durch Dortmund läuft, dann ist die Stadt ein riesengroßer Aschenbecher. Versuchen Sie es einmal: Senken Sie Ihren Blick und zählen sie einmal, wie viele Kippenstummel Sie im Innenstadtbereich finden werden.

Sie werden sich wundern. Die EDG (Entsorgung Dortmund GmbH) weiß nicht, wie viele Zigaretten sie am Tag, im Monat oder im Jahr so einsammelt. Ihre Zahl oder deren Gewicht werden, so heißt es, nicht separat erfasst. Wer eine Idee davon bekommen will, was am Tag so in Dortmund weggeraucht wird, muss sich eine Zahl selber herleiten.

Die Statistiken differieren leicht, grob geschätzt gibt es zwischen 18 und 20 Millionen Raucher in Deutschland, das sind etwas mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Wahrscheinlich sind es in Dortmund ein paar Prozent mehr, was mit der Sozialstruktur der Stadt zusammenhängt: Arme Menschen rauchen häufiger. So oder so kann man aber davon ausgehen, dass in Dortmund gut 120.000 Menschen rauchen. Wenn die jetzt die eher gering angesetzte Zahl von zehn Zigaretten pro Tag rauchen, kommen am Tag 1.200.000 Kippenstummel alleine in Dortmund zusammen. Das ist ein Schätzwert, der nur eins verdeutlicht: Das Problem mit den kleinen Kippenstummeln ist in Dortmund ein ziemlich großes. Selbst wenn nur jede zehnte Kippe auf der Straße landet. Oder jede zwanzigste.

Bußgeld von 15 Euro

Wer unter den Augen des Ordnungsamtes eine Zigarette wegschnipst, muss mit einem Bußgeld von 15 Euro rechnen. Theoretisch zumindest. Sollte es sich um einen Folgeverstoß handeln, sind 25 Euro fällig. Ob dieses Bußgeld tatsächlich regelmäßig angewandt wird, kann angezweifelt werden. Die Stadt Dortmund kann keine Statistik dazu vorweisen, denn sollte es einmal zu einem Bußgeld gekommen sein, wird das unter „Abfallablagerung“ zusammengefasst und wäre nicht klar identifizierbar.

So oder so: Abschreckende Wirkung, dazu reicht ein Blick auf die Gehwege und Straßen in der Innenstadt, geht von diesem Bußgeld nicht aus.

Nicht unwahrscheinlich, dass das Abschreckungspotential bald höher werden dürfte: Aktuell arbeitet die Landesregierung an einem neuen „Bußgeldkatalog Umwelt“, er sieht eine Strafe von 100 Euro für das Wehschnippen von Kippen vor. Mehr als das Sechsfache dessen, was bisher in Dortmund fällig wird.

Die Stadt selber kann zu den Vorstellungen des Landes noch nichts sagen – denn noch sind es nur Planungen. Doch sollte es zu dieser Erhöhung kommen, ist laut Stadtsprecher Frank Bussmann davon auszugehen, dass „sich die Stadtverwaltung dann an dem vom Land empfohlenen Bußgeldrahmen orientieren wird“.

Man würde der Stadt wünschen, dass sie sich nicht nur an dem Bußgeldrahmen orientiert, sondern ihn auch konsequent anwendet. Denn dass Rauchen tötet, hat sich mittlerweile herumgesprochen.

Das Kippenstummel töten, eher noch nicht. Die Filter nehmen etwa 50 Prozent des Teers auf, der beim Abbrennen einer Zigarette entsteht. Auch Nikotin oder Schwermetalle landen hier. Die sind nicht nur schwer zersetzlich – eine Kippe braucht etwa zwölf Jahre, bis sie sich aufgelöst hat. Eine Studie aus dem amerikanischen Maryland wies 2011 zudem nach, dass eine Kippe pro Liter Wasser ausreicht, um darin befindliche Fische zu töten. Gewässer gibt es in Dortmund relativ wenige, doch Gift bleibt Gift. Egal, wo es sich verteilt. Ein Kippenstummel kann auch auf einem Spielplatz in einem Kleinkindkörper verheerende Wirkungen in Form von Vergiftungserscheinungen haben. Kippenstummel sind giftig und sollten auch so behandelt werden. Doch der Umgang mit ihnen, das lässige Wegschnipsen, wird immer noch als Kavaliersdelikt gesehen.

Laut der EDG gibt es in Dortmund im Innenstadtbereich aktuell 564 „Straßenpapierkörbe mit integrierten Aschenbechern“.

Dazu kommen noch einige separate Aschenbecher, die anders an den Papierkörben angebracht wurden und zahlenmäßig nicht erfasst sind. Gemeinsam mit dem anderen anfallenden Abfall werden die Stummel dann späten verbrannt. Petra Hartmann von der EDG sagt, dass Zigarettenstummel, die auf dem Boden landen, ein großes Problem sind.

Sie haften in Fugen und anderen Unebenheiten und könnten maschinell nicht oder nur sehr schwer erfasst werden. Hartmann weiter „Selbst beim manuellen Kehren bereiten sie Probleme“.

Natürlich werden nicht alle Stummel, die in Dortmund am Tag anfallen, einfach so fallengelassen. Wahrscheinlich landet der größere Teil in Aschenbechern. Aber was ist der „wahrscheinlich größere Anteil“ von über einer Million Zigarettenstummeln? Die kleinen Stummel sind, je länger man darüber nachdenkt, so etwas für die Städte, was das Mikroplastik für die Meere sind: Kaum zu sehen, lange Zeit überhaupt nicht beachtet und in den Folgen schwer abzuschätzen. Sicher ist nur: Gesund kann das alles nicht sein. So wie das Rauchen eben auch. Aber während der Raucher sich selber schadet, schadet der Schnipser allen. Die EDG empfiehlt allen Rauchern, unbedingt Aschenbecher, Straßenpapierkörbe oder andere Abfallbehälter zu nutzen – und die Kippen vorher gut ausdrücken“

Das Selbstverständnis von Tobias Großkemper:

„Ich wurde 1973 geboren und schreibe seit über 10 Jahren als Redakteur an verschiedenen Positionen bei Lensing Media. Als problematisch sehen viele meiner Kollegen oft die Länge meiner Texte an. Aber ich schreibe am liebsten das auf, was ich selber bevorzugt lesen würde – und das darf auch gerne etwas länger sein“.
Meinungsmache

Die Leser fragen sich nicht, warum Tobias Großkemper so lange Texte schreibt, sondern ob er keine anderen Probleme hat. Aber auch diese Frage stellt sich nicht, weil solche Texte schon ihren Sinn haben. In diesem Fall sollen die Raucher vorgeführt, als schädliche Gemeinschaftsmitglieder identifiziert und ein Klima hergeschrieben werden, das förmlich nach drakonischen Strafen schreit.

Er kokettiert damit, ausführliche, lange Texte zu schreiben, er braucht diese Länge aber, um pseudowissenschaftlich einem Zigarettenstummel in eine ungeheuerliche Gefährlichkeit zu rücken. Er muss irgendwelchen Quatsch, wie die Maryland-Untersuchung über tote Fische bringen, um die Schwere des Vergehens „Kippe wegschnippen“ aufzubauen und auszumalen, denn obwohl „es wenige Gewässer in Dortmund gibt-bleibt Gift Gift“

Oder wenn er auf die „verheerende Wirkung in einem Kleinkindkörper“ für den der Schnipser eine Kippe auf dem Spielplatz ausgelegt hat, hinweist, weiß Tobias Großkemper, dass das Kindeswohl bei redlichen Bürgern zumindest verbal an der ersten Stelle steht.

Und den ärmeren Menschen in der Stadt wird durch die Blume unterstellt, die Stütze nicht den Kindern zugutekommen zu lassen, sondern sie zu verqualmen.

Auch ist ein Schutz vor Kippen nicht durch die „564 Straßenpapierkörbe mit integrierten Aschenbechern“ gegeben, laut Fachfrau der EDG „bereiten“ die Stummel „selbst beim manuellen Kehren Probleme“.

Während Tobias Großkemper noch nach längerem Nachdenken auf den Vergleich mit Mikroplastik für die Meere kommt, wird im Dortmunder Hafen die Giftküche stetig weiter ausgebaut.

Zum Schluss kommt der Ratschlag: „Die EDG empfiehlt allen Rauchern, unbedingt Aschenbecher, Straßenpapierkörbe oder andere Abfallbehälter zu nutzen – und die Kippen vorher gut ausdrücken“, wer sich daran nicht hält und weiter schnippst, der soll eine sechs Mal höhere Strafe, als bisher bekommen – immer feste druff.

Kippe wegschnippsen war und ist cool

Das lässige wegschnippen der verrauchten Kippe war auch beim Autor dieser Zeilen, als er noch rauchte, immer eine coole Geste und stand nie zur Disposition – aber mehr steht das WAZ-ABO zu Disposition, die ja den Lokalteil von der RN einkauft und es in Dortmund keine Alternative zur RN gibt.

Nicht besseres Strafrecht, sondern etwas Besseres als das Strafrecht wird gebraucht

Grundsätzlich sollte nicht jedes Verhalten, das man prinzipiell bestrafen könnte, auch bestraft werden. Sanktionen und die Strafe selbst sind nur dann legitim, wenn sie insgesamt einen positiven Nutzen für die Gesellschaft bringen.

Überlegt werden sollte, ob eine Lösung nicht in einem besseren Strafrecht, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht bestehen könnte.

Es könnte beispielsweise eine frühe Konfliktlösung im und durch das soziale Umfeld von Schädigern und Geschädigten gesucht werden, die sich an Wiedergutmachung und Entschuldigung orientiert. Bekannt geworden ist das Konzept der „Restorativen Justice“ nach dem insbesondere das Opfer an der Suche nach alternativen Formen der Konfliktlösung beteiligt wird. Das Konzept könnte eine Alternative zu gängigen gerichtlichen Strafverfahren darstellen oder auch gesellschaftliche Initiativen außerhalb des Staatssystems entwickeln. Untersuchungen ergaben, dass dadurch der Rückfall reduziert und die Zufriedenheit der am Konflikt Beteiligten erhöht werden kann.

Aber es darf nicht um die brutale Ahndung von Armutsdelikten gehen, das bringt niemanden weiter, sondern verdirbt das Verhältnis der an den Rand gedrängten Menschen zur Verwaltung, Politik und zu den Ordnungskräften noch weiter, als es heute schon ist.

Bei der Alternative zur strafenden, autoritären Stadt muss es um eine Politik gehen, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss gerichtet ist.

So eine Politik umzusetzen, kommt im weltweit expandierenden Neoliberalismus schon der Quadratur des Kreises gleich. In einer Stadt wie Dortmund sollte man einfach den Versuch wagen und damit beginnen, eine solche Politik zu betreiben.

 

 

Quellen: WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, RN, zeit-online, monitor.de, Volkmar Schöneburg

Bild: pixabay cco