Stadt Dortmund will bis 2030 die Arbeitslosigkeit dauerhaft auf unter 8 Prozent senken – das schafft sie aber nicht mit dem „sozialen Arbeitsmarkt“

Im Mai 2019 traten die Sozialdezernentin und der Leiter der Wirtschaftsförderung der Stadt Dortmund vor die Presse und verkündeten, im Rahmen der „Arbeitsmarktstrategie 2020-2030“ die Arbeitslosenquote in den nächsten 10 Jahren dauerhaft auf 8 Prozent zu senken.

Der Geschäftsführer des Jobcenters Frank Neukirchen-Füsers kündigte an, dass Jobcenter und Arbeitsagentur gemeinsam mit der Stadt Dortmund daran arbeiten werden, dieses Ziel zu erreichen und brachte dann als einen wichtigen Baustein der Arbeitsmarktstrategie das „Teilhabechancengesetz“ ins Spiel.

Die Hoffnung, mit Hilfe dieses Gesetzes das Ziel der nachhaltigen Senkung der Arbeitslosenquote in Dortmund zu erreichen, scheint mehr als optimistisch zu sein, vor allem, wenn man es näher betrachtet und sieht, welchen Preis die Beschäftigten dafür zahlen müssen.

Die Regierungskoalition hatte Ende letzten Jahres im Bundestag das Teilhabechancengesetz  beschlossen, das am 1. Januar 2019 in Kraft trat. Sie stellt vier Milliarden Euro bereit, um Unternehmen, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen für langzeitarbeitslose Menschen anbieten, die Lohnkosten zu subventionieren. Ohne jedwede arbeitsmarkt- und sozialpolitische Diskussion wurde mit dem neuen Gesetz ein gravierender Wechsel in der Arbeitsmarktpolitik vollzogen. Neuerdings steht allen wirtschaftlichen Organisationsformen, auch der heimischen Privatunternehmen und -konzernen, staatliche geförderte Beschäftigung, ohne jedwede Einschränkung offen.

Der Staat zahlt den Unternehmen beim Zustandekommen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in den ersten zwei Jahren 100 Prozent sowie in den folgenden drei Jahren absteigend 90, 80 und 70 Prozent des Mindest- oder Tariflohns. Die Kriterien wie Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse und Wettbewerbsneutralität wurden über Bord geworfen, die bislang die geförderte Beschäftigung nur bei sozialen Trägern und öffentlichen Einrichtungen einschränkte.

Rund 800.000 erwerbslose Menschen werden bundesweit  voraussichtlich mithilfe dieses Programms eine Beschäftigung aufnehmen und damit soll der Niedriglohnsektor weiter ausgebaut werden, damit die deutschen Unternehmen weiterhin den Weltmarkt dominieren können.

Mit der Diskussion um das geltende Recht aus dem Sozialgesetzbuch II (SGB 2) bzw. Hartz IV hat die SPD sich besonders durch eine Wortakrobatik hervorgetan und ganz neue Begriffe erfunden. So redet man von „Starke-Familien-Gesetz“ oder „Sozialstaatskonzept 2025“.

Den Vogel schießt aber der Begriff „Gründungsmitglieder“ ab, mit dem man die Menschen bezeichnet, die seit der Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung immer noch als „Altfälle“ erwerbslos sind.

Geworben wird für dieses Teilhabechancengesetz auch mit Versprechungen für die Betroffenen, die sich bei genauerem Hinschauen aber eher als weitere Drohung entpuppen. Böse Zungen behaupten, dass die Politiker von SPD und CDU/CSU sich als Handelnde mit einer völligen sozio-ökonomischen Ahnungslosigkeit, die Lichtjahre von der konkreten Arbeits- und Lebenssituation der abhängig beschäftigten und erwerbslosen Menschen entfernt sind outen, doch könnte  man auch unterstellen, dass hier knallhart Menschen als billige und unfreiwillige Arbeitskräfte für den Niedriglohnsektor zugerichtet werden sollen.

Grundsätzlich wird den erwerbslosen Menschen unterstellt, dass sie an individuellen „Vermittlungshemmnissen – von „familiären Problemen über Fettleibigkeit bis hin zur Sucht“ leiden und die Sekundärtugenden wie frühes Aufstehen, Pünktlichkeit und regelmäßige Arbeitsabläufe einzuhalten erst wieder trainieren müssen. Dabei sollen sie von Coaches unterstützt werden.

Komischerweise sollen das die gleichen Coaches machen, die genau daran in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seit der Hartz-IV Einführung als Bewerbungstrainer und Individualcoaches in den immer gleichen Maßnahmen mit den gleichen Teilnehmern gescheitert sind. Jetzt sollen sie innerhalb von drei Monaten vor Beschäftigungsbeginn diese Menschen arbeitsfähig machen. In dieser Zeit werden dann plötzlich aus dem Menschen mit früheren Vermittlungshemmnissen ein abhängig Beschäftigter als vollwertiges, weil lohnarbeitendes Mitglied der Gesellschaft gemacht, das allerdings auch in der neuen Beschäftigung noch eines Coaches bedarf, wenn es bei der Verwertung seiner Arbeitskraft hakt.

Die neuen Beschäftigungsverhältnisse auf dem „Sozialen Arbeitsmarkt“

Das neue Gesetz sieht im Einzelnen vor, dass

  • die Dauer der Maßnahme fünf Jahre oder auch eine kürzere Befristung mit optionaler einmaliger Verlängerung explizit erlaubt ist.
  • nach 5 Jahren keine Verpflichtung für die Arbeitgeber zur Weiterbeschäftigung besteht und ein Großteil der Betroffenen wieder in den Hartz-IV-Bezug gehen wird.
  • der typische Arbeitsvertrag im Rahmen dieser Förderung voraussichtlich zunächst auf zwei Jahre angelegt sein wird und bei guter Führung und Leistung anschließend für drei Jahre verlängert werden kann.
  • es sich nur zum Teil um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung handelt. Da keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhoben werden, ist am Ende nur der Hartz-IV-Bezug möglich und das Hartz IV-System greift wieder. Es muss nicht Arbeitslosengeld 1 nach dem SGB III gezahlt werden und es fallen keine Vermittlungskosten an.
  • die Jobcenter zusammen mit den potenziellen Arbeitgebern entscheiden, welcher Mensch welche Stelle annehmen muss. Der Arbeitszwang seitens der Jobcenter steht dabei der Selbstbestimmung des Einzelnen entgegen.
  • ein Angebot nicht abgelehnt werden kann. Auf jegliche Verweigerung folgt die Sanktionierung durch die Jobcenter.
  • der Mindestlohn, selbst in Vollzeit sind das etwa 1.550 Euro brutto, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Schon gar nicht kann man davon seine Familie ernähren.
  • es sich um eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme handelt und sich damit kein Arbeitsverhältnis begründet. So sind Verstöße gegen Arbeitsrechte und Arbeitsschutz vorprogrammiert.
  •  im Zuge der Beschäftigung von Zusatzjobbern reguläre Beschäftigung in nicht zu vernachlässigendem Umfang verdrängt und der bestehende Wettbewerb beeinflusst werden.
  • Maßnahmeteilnehmer aus der Maßnahme durch die Arbeitsverwaltung abberufen werden können, z.B. für Bildungsmaßnahmen oder eine andere Arbeitsaufnahme

und

dass die Beschäftigten immer noch unter der Knute der Jobcenter stehen. Da es sich um eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme handelt, sind sie während der gesamten Laufzeit nicht nur ihren Unternehmen, sondern auch der „Betreuung“ durch die Jobcenter unterworfen.

Sanktionen können auch hier greifen

Im § 31 des SGB II wird unter dem Begriff „Pflichtverletzungen“ festgelegt, dass langzeitarbeitslose Menschen vom Jobcenter sanktioniert werden können, wenn sie z.B. eine Maßnahme nicht annehmen oder unterbrechen. Auf jegliche Verweigerung folgt die Sanktionierung durch die Jobcenter. Dies kann dazu führen, dass die Menschen gar kein Einkommen mehr erhalten, je nachdem, wie viel Prozent laut Vorgaben vom laufenden Bezug gestrichen wird.

Das Gothaer Sozialgericht war bundesweit das erste Gericht, das die Frage aufgeworfen hat, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es fragt, ob auch neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch Sanktionen berührt werden.

In der nächsten Zeit wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe darüber entscheiden müssen, ob die Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-IV-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

Grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit wird ausgehebelt

Die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit wird ebenfalls berührt, wenn die Menschen gezwungen werden, jede Arbeit, Beschäftigung oder Maßnahme anzunehmen.

Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt.

Die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.

Es wird hierbei die SGB II Vorschrift der § 10 Abs. 2 angewandt. Danach ist einem erwerbslosen Menschen jede Arbeit zumutbar und er kann nur ausnahmsweise Arbeitsangebote ablehnen, z.B. nur, wegen besonderer körperlicher Anforderungen oder wegen der Gefährdung der Erziehung des Kindes. Ausdrücklich kein „Wichtiger Grund“ zur Ablehnung eines Vermittlungsangebots sollte sein, dass die „Arbeitsbedingungen ungünstiger“ als die Bedingungen des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses sind. Das ist der Hebel, mit dem man die Beschäftigten mit staatlichem Zwang in den Niedriglohnsektor drängt.

Staatlich subventionierte Leiharbeit

Neu beim Teilhabechancengesetz ist auch, dass Zeitarbeitsfirmen nicht als Förderberechtigte ausgeschlossen werden. Die Branche, die schon jetzt größter Abnehmer von langzeitarbeitslosen Menschen und Profiteur der Agenda 2010 ist, trommelt für das Gesetz am Lautesten. Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. bietet bereits Seminare an und plant eine Broschüre, um seinen Mitgliedern Anleitungen für das Ausschöpfen des neuen Fördertopfs an die Hand zu geben. Denn das neue Gesetz macht die Träume dieser Branche wahr. Sie können ab sofort einen Menschen für 24 Monate anstellen, sich die kompletten Lohnkosten vom Staat bezahlen lassen und das Geld, das sie für die Verleihung der Angestellten erhalten, als Gewinn einstreichen. Der Leiharbeiter darf nicht mal kündigen, da ihm dann Sanktionen vom Jobcenter drohen.

Weiterer Ausbau des Niedriglohnsektors

Die Schaffung von voraussichtlich bis zu 800.000 zusätzlicher Beschäftigungs-/Maßnahme/- Arbeitsplätzen werden die Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen aller Beschäftigten beeinflussen. Sie wird eine Umschichtung in den Betrieben zur Folge haben und reguläre Stellen abbauen.  Die verbleibenden Beschäftigten entwickeln zunehmend Ängste um ihren Arbeitsplatz und leisten, wenn sie Glück haben, bezahlte Mehrarbeit. Dadurch verhindern sie Neueinstellungen und können ihre familiären und sozialen Beziehungen nicht mehr pflegen. Sie verzichten auf die notwendige Genesungszeit bei Krankheit, schädigen damit ihre Gesundheit und verursachen mehr Kosten für das Gesundheitssystem. Gesamtgesellschaftlich wird eine angstgetriebene Hoffnungslosigkeit erzeugt und die Konkurrenz bestimmt noch mehr den Alltag.

Immer mehr öffentliche und private Unternehmen ziehen sich weiter aus ihrer Verantwortung zur Schaffung von regulären Arbeitsplätzen zurück. Dies wird unter anderem dadurch erreicht, dass eine bewusst erzeugte Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte forciert wird: mit Hinweis auf die leeren Kassen wird eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz gefördert, notwendige Arbeiten durch Arbeitskräfte aus dem „Sozialen Arbeitsmarkt“ erledigen zu lassen.

 

Bisher war es so, dass die langzeitarbeitslosen Menschen systematisch vom ersten Arbeitsmarkt strikt ferngehalten wurden, auch weil sie für den Maßnahmeträgern gut eingearbeitete vollwertige Arbeitnehmer sind und in den sogenannten Zweckbetrieben der Wohlfahrtsverbände und gemeinnützigen Unternehmen für Profit sorgten. Weil sie aber immer noch unter Vermittlungshemmnissen litten, mussten sie wieder in eine Maßnahme mit sozialpädagogischer Begleitung. So gibt es Menschen die in den vergangenen 14 Jahren Hartz IV-System nur in Maßnahmen beschäftigt waren, wegen ihrer Vermittlungshemmnisse.

Mit dem neuen Gesetz werden nun die Vermittlungshemmnisse innerhalb von 3 Monaten durch die Coaches behoben und die Menschen können dann sofort auf den ersten Arbeitsmarkt in den Niedriglohnsektor geworfen werden.

 

Zynischer, aber auch entlarvender geht es kaum, wenn die SPD dieses Teilhabechancengesetz als Vorbild für das neue Sozialstaatskonzept ihrer Partei verkauft. Dabei ist es doch wohl eher ein Gesetz, das die Chancen und Teilhabe der Privatunternehmen und-konzerne am Weltmarkt fördert, mit staatlicher Lohnsubvention.

 

Quellen: SGB II, SGB III, konkret 4/19, Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V.,waz