aufrecht gehen – wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen

Durch den Aufbau aktiver Basisstrukturen in den Betrieben, die Stärkung von Vertrauensleuten und die Beteiligung von neuen Beschäftigtengruppen soll die Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit der IG Metall gestärkt werden.

Dieses Buch gibt einen Einblick in die Arbeit des GEP der vergangenen drei Jahre und zieht eine Zwischenbilanz. In zehn Reportagen werfen beteiligte Aktive und Hauptamtliche Schlaglichter auf eine breite Facette konkreter Erfahrungen und Probleme heutigen gewerkschaftlichen Organizings. Verantwortliche aus Geschäftsstellen und der Bezirksleitung diskutieren in drei ausführlichen Interviews Möglichkeiten, aber auch Grenzen des GEP.

Schließlich dient ein Auszug aus dem Klassiker der US-amerikanischen Organizing-Literatur »Secrets of an sucessful organizer« als Anleitung für betriebliche Aktive, gewerkschaftliche Gegenmacht aufzubauen.

»Im Kern beruht unsere Stärke auf der Handlungsfähigkeit gut organisierter Belegschaften, die sich, wenn es erforderlich ist, auf die Hinterbeine stellen, die in der Lage sind, Arbeitskämpfe zu führen. Nur wenn wir uns diese Stärke erhalten, werden wir auch künftig bestehen können.«
Dieses Buch trägt den Titel »aufrecht gehen«. Wer aufrecht geht, zeigt Selbstbewusstsein, Würde und Respekt. All das ist nicht selbstverständlich in der kapitalistischen Arbeitswelt. Es war nie selbstverständlich und ist es auch heute nicht. Die lohnabhängig Beschäftigten – ob ArbeiterInnen oder Angestellte – wissen, dass sie nichts geschenkt bekommen. Würde und Respekt müssen sie sich erkämpfen, und mancherorts wird heute mit härteren Bandagen gekämpft als noch vor ein, zwei Generationen.

Metallerinnen und Metaller in Baden-Württemberg erinnert der Titel vielleicht an den berühmten Ausspruch ihres früheren langjährigen Bezirksleiters Willi Bleicher: »Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken.« Das ist durchaus beabsichtigt. Es ist diese Widerständigkeit, die in Bleichers Worten zum Ausdruck kommt, die wir heute brauchen.

Diese Widerständigkeit zu befördern – im Maschinenraum der Bundesrepublik Deutschland –, ist unser Job als IG Metall Baden-Württemberg. Fast 40 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten arbeiten hier in Industrie und Gewerbe, mehr als irgendwo sonst in der Republik. Zugleich ist das Bundesland im Südwesten Deutschlands ein Hotspot technischer Innovation. In keiner anderen Region der Europäischen Union wird, gemessen an der Wertschöpfung, soviel für Forschung und Entwicklung ausgegeben wie hier. Vor allem der Maschinenbau, die Automobilindustrie und ihre Zulieferer sind traditionell stark vertreten. Die Stärke in diesen Bereichen macht die IG Metall in Baden Württemberg zu einer gesellschaftlichen Macht, an der niemand vorbei kommt. Und es ist die IG Metall, die den Beschäftigten eine laute Stimme gibt. In Unternehmen wie Bosch, Daimler, Porsche, Audi und vielen anderen sind wir eine Größe, mit der man rechnen muss.

Unsere Stärke gründet sich auf unser Wissen, unsere Erfahrung, Kompetenz und Tradition. Sie beruht auf der Handlungsfähigkeit gut organisierter Belegschaften, die, wenn es erforderlich ist, in der Lage sind, kollektiv für ihre Interessen einzustehen und Arbeitskämpfe zu führen.

Doch all das ist nichts, worauf wir uns ausruhen können. Die Arbeitswelt wandelt sich rasant. Digitalisierung und »Industrie 4.0« stellen uns vor neue Herausforderungen. Lag das Verhältnis von ArbeiterInnen und Angestellten in einem typischen Betrieb der Metall- und Elektroindustrie vor einer Generation noch bei 70 zu 30, liegt es heute vielfach schon bei 50 zu 50. In vielen Unternehmen sind EntwicklungsingenieurInnen, Verwaltungsangestellte und andere »white collar workers« inzwischen die Mehrheit. Doch auch das Bild des »klassischen Produktionsarbeiters« im Blaumann verliert seine klaren Konturen: Tätigkeiten, die gestern noch Kernbereich der industriellen Wertschöpfung waren, heißen heute »Logistikdienstleistungen«, Stammbelegschaften arbeiten Hand in Hand mit LeiharbeiterInnen und Werkvertragsbeschäftigten. Atypische Arbeitsverhältnisse, flexible Arbeitszeiten und Home Office sind auf dem Vormarsch. Traditionelle Industrien wie die Textilherstellung schwinden, neue Bereiche sind entstanden – wie die IT-Branche. Europas größtes Softwareunternehmen (SAP) hat seinen Sitz in Baden-Württemberg. Die Autoindustrie steht am Beginn eines gewaltigen Umbruchs – weg von den auf fossilen Treibstoffen basierenden Verbrennungsmotoren, hin zu neuen Formen von Elektromobilität. Wie genau diese aussehen wird, welche der Lösungsansätze, mit denen gegenwärtig experimentiert wird, sich langfristig durchsetzen, ist heute noch gar nicht absehbar. Klar ist aber: Die Wertschöpfungsketten werden in den nächsten Jahren erneut gründlich durcheinandergewirbelt werden.

Wie können wir uns als IG Metall in diesem Szenario behaupten? Fest steht: Wir müssen neue Mitglieder gewinnen, denn die demografische Entwicklung arbeitet gegen uns. Unsere erfahrensten und kampfstärksten Jahrgänge gehen schneller in Rente, als es uns bislang gelungen ist, neue Mitglieder zu gewinnen und handlungsfähige Strukturen zu organisieren. Wirtschaft und Zeitgeist haben sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt – und das nicht unbedingt zu unseren Gunsten. Arbeitsverhältnisse wurden kurz- und schnelllebiger, der gesellschaftliche Zusammenhalt schwächer, individuelle Verwirklichung statt Solidarität ist angesagt. Großorganisationen gelten vielen als nicht mehr zeitgemäß, das Wort »ArbeiterInnenbewegung« hat gerade für die Jüngeren einen befremdlichen Klang.

Und dennoch: Die Probleme, die zu beseitigen die Gewerkschaften im 19. Jahrhundert antraten, sind nicht vom Tisch. Das gilt für belastende Arbeitsbedingungen, ausufernde Arbeitszeiten, Prekarisierung genauso wie für die wachsende soziale Ungleichheit im Land. Abstiegsängste sind die Folge und bereiten den Boden für Rassismus und Hasspolitik. Europaweit sind rechtspopulistische Extremisten im Aufwind und gewinnen Terrain, nicht nur in den Parlamenten, sondern auch auf den Straßen und in den Betrieben. In diesem Szenario werden starke demokratische Gewerkschaften mehr gebraucht denn je. Unsere Antwort auf wachsende Ungleichheit und rassistische Spaltung ist gestern wie heute Solidarität.

Doch wie können wir neue Stärke gewinnen? Nur indem wir durch das, was wir tun, für die arbeitenden Menschen einen Nutzen stiften. Unsere Erfahrung zeigt, dass das mit traditioneller Stellvertreterpolitik immer weniger funktioniert. Die Beschäftigten wollen mitbestimmen. Auch in der Gewerkschaft. Die großen Zukunftsfragen unserer sich permanent wandelnden Arbeitswelt können nur in demokratischen, beteiligungsorientierten Prozessen angepackt werden – gemeinsam mit Belegschaften, die sich zum Anwalt ihrer eigenen Sache machen.

Im Herbst 2015 haben wir als IG Metall Baden-Württemberg unser »Gemeinsames Erschließungsprojekt« (GEP) gestartet. Erfahrene und geschulte Organizerinnen und Organizer unterstützen unsere Geschäftsstellen vor Ort in der Erschließungsarbeit. Gemeinsam mit den Geschäftsstellen organisieren sie erfolgreich bisher gewerkschaftsfreie Betriebe und arbeiten daran, vorhandene gewerkschaftliche Strukturen aktions- und konfliktfähiger zu machen.

Anders als bisherige Organizing-Projekte haben wir das GEP auf neun Jahre angelegt. Zudem wurden unsere Sekretärinnen und Sekretäre unbefristet eingestellt. Denn niemand, der sich für die Zukunft der IG Metall ins Zeug legt, soll sich um seine eigene langfristige berufliche Perspektive Sorgen machen müssen. Ein weiterer Unterschied zu früheren Organizing-Projekten ist die flächendeckende Koordinierung durch die zentrale Projektleitung. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nur so der angestrebte Transfer von Organizing-Erfahrungen in die gesamte Organisation sichergestellt werden kann.

Das GEP ist kein isoliertes Projekt – ist Teil einer Neuausrichtung der gesamten IG Metall Baden-Württemberg, der sogenannten Strategie 2025.

Im Kern geht es darum, alle Strukturen für die nächsten Jahre im Bezirk auf vier Themenfelder zu konzentrieren:

  • Durch den Aufbau handlungsfähiger betrieblicher Strukturen die Tarifbindung in unseren Branchen stärken
  • Konflikte beteiligungsorientiert führen und gewinnen
  • die Demokratie in den Betrieben ausbauen
  • die Durchsetzungs- und Konfliktfähigkeit unserer Organisation langfristig sichern.

 

Der vorliegende Band »aufrecht gehen. Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen« soll einen Einblick in die Arbeit des GEP der vergangenen drei Jahre geben. Betriebliche Aktive, OrganizerInnen und GewerkschaftssekretärInnen aus Geschäftsstellen und Bezirksleitung berichten von den Erfolgen, aber auch von den Rückschlägen ihrer bisherigen Bemühungen und ziehen eine kritische Zwischenbilanz. Das Buch nähert sich dem »baden-württembergischen Organizing« dabei von verschiedenen Seiten: In zehn Reportagen aus so unterschiedlichen Betrieben wie dem Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkheim, dem Holzverarbeiter Dold aus Südbaden oder dem Automobilzulieferer Magna in Neckarsulm werfen beteiligte Aktive und Hauptamtliche Schlaglichter auf eine breite Facette konkreter Erfahrungen und Probleme von heutigem gewerkschaftlichem Organizing. In drei ausführlichen Interviews diskutieren Bevollmächtigte und Erschließungsbeauftragte involvierter IG Metall-Geschäftsstellen sowie politisch Verantwortliche aus Bezirksleitung und Projektteam über ihre Sicht auf das GEP. Und schließlich haben wir einen Auszug aus einem Klassiker der US-amerikanischen Organizingliteratur, der uns für unsere Arbeit sehr inspiriert hat, mit ins Buch aufgenommen: »Secrets of a successful organizer« (Geheimnisse eines/r erfolgreichen Organizers/in) ist ein Ratgeber mit zahlreichen Anregungen und praktischen Tipps für den Aufbau von betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen, der sich dezidiert an betriebliche Aktive und diejenigen richtet, die es werden wollen.

Seit Projektstart im Herbst 2015 haben wir durch das GEP 8.776 neue Mitglieder für die IG Metall gewinnen können. Unsere Verantwortung ist es nun, mit diesen Kolleginnen und Kollegen weiterzumachen, sie zu stärken und ihnen das Rüstzeug zu geben, damit sie weiterhin erfolgreich für ihre Interessen und Bedürfnisse kämpfen und diese Kämpfe auch gewinnen können.

 

Bedanken möchten wir uns bei den zahlreichen Aktiven und unseren ErschließungssekretärInnen. Viele von ihnen haben uns ihre knappe Zeit zur Verfügung gestellt, um ausführlich über ihre Erfahrungen im GEP zu berichten. Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.

Roman Zitzelsberger Andreas Flach Bezirksleiter IG Metall GEP-Projektleiter Baden-Württemberg

Stuttgart, Mai 2018

 

 

Quelle und Bild:IG Metall Bezirk Baden-Württemberg 

Weitere Infos: 

https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/aufrecht-gehen/

und

www.vsa-verlag.de-IGM-BaWue-aufrecht-gehen.pdf1.2