Digitalisierung II: „A Cloudy Day in Europe“ – Industriepolitik und digitale Infrastrukturen

Das digitale Wettrüsten hat begonnen. Weltweit investieren Staaten wieder aktiv in industriepolitisch relevante Vorhaben. Dafür gibt es neue Strategiepapiere, Regulative und Instrumente, die die Technologie- und Wirtschaftsentwicklung steuern sollen und nicht nur die europäische, sondern die globale Wettbewerbsordnung grundlegend verändern werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf digitaler Hochtechnologie – der Entwicklung künstlicher Intelligenz, dem Ausbau hochleistungsfähiger Netzinfrastruktur, der Chip-Produktion, des Edge-, Quanten- und Hochleistungs-Computings sowie den Cloud-Infrastrukturen. Rechenpower bedeutet dabei vor allem eines: politökonomische Macht. Um Souveränität und Marktmacht geht es auch beim Großprojekt einer europäischen Cloud.

Wettbewerbsvorsprung durch Prozessorleistung und Digitalinfrastruktur

Die Vorreiter der digitalen Wirtschaft setzen auf ein neues Produktionsmodell: Daten, Rechenleistung und IT-Know-how sind notwendige Bedingungen für Profit geworden. Denn die Spitzentechnologien „Künstliche Intelligenz“, maschinelles Lernen und Co erfordern, dass Daten in großem Stil gespeichert und verarbeitet werden können. Um in der Produktion mithalten zu können, sind diese Technologien bald unabdingbar. Bessere Rechenleistung bedeutet zum Beispiel, dass ein Unternehmen einen fehlerhaften Prozess in wenigen Stunden anpassen kann, während ein anderes Unternehmen dafür zwei Wochen benötigt. Das braucht erstens Speicherplatz, der heutzutage in riesigen Serverfarmen oder „Clouds“ bereitgestellt wird. Zweitens wird Rechenleistung benötigt, also leistungsstarke Prozessoren. Drittens erfordert die Übertragung von großen Datenmengen schnelle Leitungen.

Die industriellen Kapazitäten und Infrastrukturen bereitzustellen, um diese Erfolgskriterien zu erfüllen, ist zu einer staatlichen Aufgabe geworden. Fast alle Industrieländer haben begonnen, aktive industriepolitische Maßnahmen zu setzen. Manche Staaten, wie zum Beispiel Südkorea, investieren rund 450 Milliarden US-Dollar, um ein „Halbleiter-Powerhouse“ aufzubauen; China errichtete eine „Digital Silk Road“, die neben Glasfaser- und Unterseekabelleitungen, Satelliten und Navigationssystemen und „Smart Cities“ auch Datenzentren und Cloud-Computing beinhaltet – mit dem Ziel und Anspruch, transnationale Netzinfrastrukturen zu schaffen und globale digitale Standards zu setzen. Der Vorstoß der Europäischen Kommission, eine eigene Cloud-Infrastruktur aufzubauen, ist der Versuch, bei diesem Rennen um die technische Vorreiterschaft nicht abgehängt zu werden.

Neuausrichtung der europäischen Industriepolitik und „IPCEI“

Die Europäische Union hat erkannt, dass ein aktiver und strategischer Ansatz in der Industriepolitik notwendig ist, um die Herausforderungen zu bewältigen, die sich durch Digitalisierung, Dekarbonisierung und die Neuaufstellung von europäischen Wertschöpfungsketten in einem sich verschärfenden geoökonomischen Umfeld stellen. Dies zeigt sich in den Verordnungen und Richtlinien im Zusammenhang mit dem „Europäischen Grünen Deal“, der „Europäischen Datenstrategie“, der Initiative zur „European Digital Decade“ und auch der (aktualisierten) Europäischen Industriestrategie (inkl. der Überarbeitung) sowie der intensiveren Anwendung des Förder- und Beihilfeninstruments der „Important Projects of Common European Interest“, kurz IPCEI.

Mit den IPCEI sollen einerseits Schlüsseltechnologien in Mitgliedstaaten-übergreifenden Kooperationen, sogenannten „Industrieallianzen“ (die wiederum über das 2020 eingerichtete europäische Industrieforum koordiniert werden sollen und von der angewandten Forschung, über Entwicklung und Innovation bis hin zur erstmaligen industriegewerblichen Nutzung reichen) gefördert sowie andererseits Infrastrukturvorhaben in den Bereichen Umwelt, Energie und Verkehr vorangetrieben werden. Beihilfen, die als IPCEI-Förderungen gelten, sind vom generellen Verbot staatlicher Beihilfen ausgenommen, weil sie einem übergeordneten europäischen Interesse dienen. Hiermit möchte die europäische Politik die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft verbessern, die strategische Autonomie Europas und die Resilienz der „industriellen Ökosysteme“, d. h. das Funktionieren des Binnenmarktes, die Sicherstellung der Lieferketten und die digitale Widerstands- und Leistungsfähigkeit, stärken.

Die Regierungen bzw. öffentlichen Verwaltungen unterstützen IPCEI-Vorhaben aufgrund ihrer strategischen Relevanz in der Konzeptionsphase, in der Vernetzung von Unternehmen und Stakeholdern sowie in der Umsetzung und bei der – durchaus aufwendigen – Administration. Da Unternehmen über entsprechende Mittel verfügen müssen, um ambitionierte IPCEI-Projekte mitfinanzieren zu können, das nötige Know-how einzubringen und langfristige, länderübergreifende Kooperationen zu organisieren, wird es voraussichtlich für größere Unternehmen, vor allem in institutionell und finanziell gut ausgestatteten Staaten, wesentlich leichter sein, im Beihilfenwettbewerb mitzumischen und nationale zu europäischen Champions aufzurüsten. Es ist daher auch anzunehmen, dass Prozesse der Unternehmens- und Kapitalkonzentration zunehmen.

Es handelt sich also um nichts weniger als eine neue, selbstbewusste Form europäischer Standortpolitik: Ein förderliches Umfeld soll hochinnovative Leitbetriebe stärken, neue Leitmärkte kreieren und Wertschöpfung in den Bereichen Batteriezellfertigung, Mikroelektronik, vernetzte, saubere und autonome Fahrzeuge, „Smart Health“, CO2-arme Industrien, Wasserstofftechnologien und -systeme, Internet of Things, Cybersecurity sowie Hochleistungs-Computing und Cloud-Infrastrukturen hervorbringen. Das IPCEI „Industrial Cloud“ (ein Projekt zum Aufbau der nächsten Generation von Cloud-Infrastrukturen und -Services in Europa, kurz „IPCEI-CIS“), das vor allem vom Machtblock rund um Deutschland und Frankreich politisch und organisatorisch vorangetrieben wird, ist vor Kurzem in eine neue Phase eingetreten. Im März 2021 haben die Europäische Kommission und die deutsche Ratspräsidentschaft gemeinsam verkündet, dass alle 27 Mitgliedstaaten in einer „Joint Declaration“ ihren politischen Willen zur Beteiligung am Großprojekt „next generation cloud for Europe“ bekundet hätten. Damit soll neben GAIA-X ein weiterer Baustein für die Errichtung eines digital souveränen Europas gelegt werden.

GAIA-X, die Cloud nach „europäischen Werten“?

Der Cloud-Markt ist extrem konzentriert. Der riesige Marktanteil der Amazon-Cloud zeigt, wie bedeutend das Unternehmen für die digitale Weltinfrastruktur ist. Als 2017 einmal vier Stunden lang die Server von Amazon Web Services offline waren, waren tausende Services wie Netflix, Spotify, Tinder, Dropbox nicht erreichbar. Auch Unternehmen der deutschen „Industrie 4.0“ hatten Daten bei Amazon (BMW und VW), aber auch die NASA, die UNO oder das US-Verteidigungsministerium. Eine solche Marktmacht aufzubauen wird vor allem dadurch ermöglicht, dass die Cloud-Unternehmen die Daten bei sich verschlossen halten und verhindern, dass ihre Dienste mit anderen kombiniert werden können. Dadurch erlangen Private eine monopolartige Macht über Informationen, Verwaltungen, Wirtschaft und Menschen.

Das Projekt „GAIA-X“, in dessen Standard die EU-Industrial Cloud eingebaut („einsychronisiert“) werden soll, soll ein europäisches Alternativmodell sein, um die Unabhängigkeit europäischer Verwaltungen und Unternehmen zu fördern. Die Daten sollen nicht auf einer Cloud „eingesperrt“ sein, sondern „interoperabel“ auf einer Cloud-übergreifenden Infrastruktur liegen. Dabei bleibt die Handhabe über die Daten bei den Unternehmen. In den Grundlagenpapieren werden vor allem die „europäischen Werte“ stark betont: Es geht um Souveränität und Datenschutz.

Dass das Projekt vor allem industriegetrieben ist, erkennt man an den Gründungsmitgliedern, unter ihnen BMW, Bosch, Fraunhofer, SAP oder Siemens. Überraschend ist nun, dass auch US-amerikanische Internetgiganten wie Amazon, Microsoft und Google in diesem Projekt involviert sind. Am brisantesten ist wohl die Beteiligung des „Big Data“-Riesen Palantir, die von Bürger*innnenrechtsorganisationen als „Schlüsselfirma der Überwachungsindustrie“ gesehen wird und tief in den militärisch-industriellen Komplex der USA verstrickt ist. Diese Unternehmen sind wohl an einer europäischen Zertifizierung – einer Art „Gold Standard“ für Cloud-Anbieter – interessiert. Dafür unterwerfen sie sich immerhin auch strengeren europäischen Regulierungen, allen voran die oben erwähnte „Interoperabilität“.

Arbeitnehmer*innenvertretungen sowie Konsument*innen- oder Datenschutzorganisationen sind in das Projekt bislang gar nicht eingebunden. Der Fokus scheint darauf zu liegen, die GAIA-X-basierten Anwendungen mittels IPCEI-CIS im industriellen Maßstab zu skalieren. Dementsprechend gelten die Vorteile der „europäischen Variante“ auch nur für Unternehmen. Arbeitnehmer*innen und Verbraucher*innen profitieren nicht davon, denn ihre Daten können nach wie vor ungehindert von Unternehmen erfasst und zu Geld gemacht werden.

Mission: Demokratisierung und Ökologisierung von Clouds und Co

Cloud-Technologie ist jedoch in ihrer Bedeutung als Infrastruktur ernst zu nehmen und muss dringend unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Die Technologien der Industrie 4.0 haben auch drastische ökologische Auswirkungen – durch Energieverbrauch und Rohstoff(über)nutzung, die spezielle industrielle Kreislauflösungen und damit progressive industriepolitische Interventionen erfordern.

Die Herausforderungen, sei es die Digitalisierung, der „Digital Divide“ oder die Klima- und Gesundheitskrise, können vor diesem Hintergrund als Missionen verstanden werden. Missionen, die es unter struktureller Berücksichtigung der sozialen Frage zu erfüllen gilt. Denn: Digitalisierung und Dekarbonisierung sind soziale Prozesse. Der Staat muss dabei von seinem wirtschaftspolitischen Repertoire Gebrauch machen, um private Monopolmacht zu brechen, Versorgungssicherheit, Grund- und Menschenrechte zu garantieren, wirtschaftliche Aktivitäten in demokratisch verantwortlicher Weise zu fördern und auch selbst Maßnahmen zu setzen, die zur Lösung dieser großen gesellschaftlichen Missionen beitragen. Digitale Technologien wirken oft disruptiv auf althergebrachte Geschäftsmodelle und Märkte und verändern, verschieben oder verfestigen bisherige Abhängigkeitsverhältnisse. Dabei ist die Veränderung nicht per se als negativ oder dystopisch zu sehen. Im Gegenteil: Die Veränderung bietet auch neue Möglichkeiten und Chancen für regionale bzw. europäische Wirtschaftskreisläufe und Beschäftigung. Digitale Technologien können dabei unterstützen, Wertschöpfungsketten unter Wahrung von Sozial- und Umweltstandards (zum Beispiel durch Monitoring der Rohstoffherkunft mittels Blockchain) stabiler, sicherer, resilienter und nachhaltiger zu machen. Ob diese Chancen genutzt werden oder nicht, hängt dabei vom politischen Commitment zur Gestaltung ab.

Progressive Industriepolitik muss jedenfalls mehr sein als Unternehmensförderung bzw. Förderungen für große Unternehmen. Gerade weil die Notwendigkeit (auch) solcher Förderungen besteht, braucht es Mitsprache der Beschäftigten und der Konsument*innen zur Wahrung ihrer – und letztlich auch gesamtgesellschaftlicher – Interessen. Bemerkenswert ist – erkennbar auch an den beschriebenen Beispielen –, dass das Dogma „Markt“, der die Dinge zum allgemein Besten regeln sollte, ausgedient hat. Im Gegenteil braucht es Instrumente der staatlichen Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik, die über marktbasierte Interventionen hinausgehen und die das Potenzial des Öffentlichen und Kooperativen ausschöpfen. Bis Ende 2021 sollen IPCEI-CIS-Projekte bei der Europäischen Kommission schon vorangemeldet werden; in der ersten Hälfte des Jahres 2022 beginnt die Genehmigungsphase der Einzelprojekte. Es gibt demnach noch die Möglichkeit, ökologische, soziale und beschäftigungspolitische Ziele sowie die Einbindung  der Arbeitnehmer*innenvertretungen, Konsument*innen und Datenschutzorganisationen sicherzustellen. Genau dieses Vorgehen der Einbeziehung aller Stakeholder wäre dann „europäisches Matchmaking“ im besten Sinne!

 

 

 

 

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