Tausende Geflüchtete im Kindes- und Jugendalter werden in Deutschland vermisst

Im Sommer 2020 sind rund 80 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie zuvor. 90 Prozent der Geflüchteten werden von Nachbarländern aufgenommen und bleiben auch dort, lediglich 10 Prozent mach sich auf den Weg nach Europa. Erstmals kommen mehr Frauen und Kinder als Männer zu uns. Im Vergleich zu der Situation vor einem halben Jahr hat sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen auf der Flucht verdreifacht, insgesamt waren es weltweit über 30 Millionen Menschen unter 18 Jahren.

Kaum bekannt ist, dass eine hohe Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten bei den Behörden als vermisst gemeldet ist. Im Frühjahr 2020 galten in Deutschland 1.785 unbegleitete minderjährige Geflüchtete bei den Behörden als vermisst, im Oktober 2016 hatte diese Zahl sogar bei 8.020 gelegen. Die meisten der vermissten Kinder und Jugendlichen stammen aus Afghanistan, Syrien, Marokko, Guinea und Somalia.

Obwohl klar geregelt ist, dass die jungen Menschen Angebote der Jugendhilfe in Anspruch nehmen, fachkundig begleitet und behördlich erfasst werden, kann nur spekuliert werden, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben sind.

Anfang 2019 galten in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts 3.192 minderjährige Geflüchtete als vermisst. 884 von ihnen waren Kinder bis 13 Jahre, 2.308 waren Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren.

Offiziell benannt werden die Kinder und Jugendlichen als „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)“

Weltweit sind derzeit über 30 Millionen Menschen unter 18 Jahren auf der Flucht. Auch in Deutschland reisen minderjährige Geflüchtete alleine, das heißt ohne Begleitung durch die Eltern ein. Sie kommen aus Kriegs-, Krisen- und Armutsgebieten der gesamten Welt. Der Anlass und die Hintergründe ihrer Flucht differieren je nach politischer und ökonomischer Lage im Heimatland.

Erreichen sie Deutschland und sind unter 18 Jahre alt, sind für ihre Betreuung und Förderung das örtliche Jugendamt und die Einrichtungen der Jugendhilfe zuständig.

Schutzmaßnahmen für die jungen Menschen sind nach deutschem Recht die Inobhutnahme nach § 42 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) und die Bestellung eines Vormundes nach den §§ 1693, 1773 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), da die im Ausland lebenden oder verstorbenen Eltern die elterliche Sorge nicht ausüben können.

In der Regel werden die Kinder und Jugendlichen, die über keinerlei Kontakt zu Verwandten, Bekannten etc. verfügen, in einer Clearingstelle zur Klärung ihres individuellen Jugendhilfebedarfs untergebracht. Wenn die jungen Geflüchteten bei der Registrierung angeben, minderjährig zu sein, werden sie dem Jugendamt vorgestellt. Nach erfolgtem Clearing werden diese Kinder und Jugendlichen dann in einem Kinder- oder Jugendwohnheim untergebracht.

Seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovellierung am 01.11.2015 nimmt das Jugendamt die jungen Menschen nur noch vorläufig in Obhut, meldet sie der Landesverteilstelle und gibt sie anschließend an die aufnehmende Kommune ab. Wenn alles gut läuft, sind sie innerhalb der vorgegebenen Fristen von zwei bis vier Wochen auf die einzelnen Orte verteilt.

Wer es schafft in das Jugendhilfesystem zu kommen, erhält einen Vormund und eventuell gute Aussichten auf Schulunterricht, Ausbildungsplatz, Therapien, Wohnung, Gesundheitsversorgung und einen einigermaßen geregelten Alltag.

Soweit die Theorie.

In der Praxis geht es aber meistens um das Geld bzw. um die Kostenerstattung für den Aufenthalt der jungen Menschen. Dabei ist die Frage wichtig, wer „zuständig“ ist und die Kosten zu tragen hat. Die Jugendhilfe ist bis zur Vollendung des 18 Lebensjahres im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) verantwortlich und deshalb gibt es harte Auseinandersetzungen um das Alter der jungen Geflohenen in „Zweifelsfällen“.

Altersfeststellung von minderjährigen Geflüchteten

Unbegleitete Minderjährige dürfen in der Regel nicht abgeschoben werden – selbst nicht in andere EU-Länder. Das haben sowohl der Europäische Gerichtshof (2013) als auch das Bundesverwaltungsgericht (2015) klargestellt. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres erlischt jedoch das Anrecht auf Jugendhilfe und Abschiebeschutz. Aus diesem Grund, so wird den jungen Menschen unterstellt, würden manche erwachsene Geflüchtete ihr wahres Alter bewusst niedriger angeben.

Nach Angaben des Kommunalverbandes Jugend und Soziales (KVJS) haben die Jugendämter zuletzt 36 Prozent derer, die sich als unter 18 Jahren vorstellten, für volljährig erklärt. Werden die Betroffenen aber als unbegleitete minderjährige Ausländer, kurz „Uma“, eingestuft, erhalten sie einen Sonderstatus.

Die gesetzliche Grundlage zur Altersfeststellung durch das Jugendamt findet sich in

  • 42f SGB VIII: Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung (Auszug):

„(1) Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. […]

(2) Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Ist eine ärztliche Untersuchung durchzuführen, ist die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären. Ist die ärztliche Untersuchung von Amts wegen durchzuführen, ist die betroffene Person zusätzlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären; die Untersuchung darf nur mit Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters durchgeführt werden. Die §§ 60, 62 und 65 bis 67 des Ersten Buches sind entsprechend anzuwenden“.

Für die Altersbestimmung junger Geflüchteter sind die Jugendämter zuständig. Liegen keine Ausweispapiere vor, soll das Jugendamt das Alter des Geflüchteten mittels einer „Inaugenscheinnahme“ schätzen. Dazu begutachten zum Beispiel zwei Mitarbeiter des Jugendamts während eines Gesprächs die mentale Reife sowie die körperliche Erscheinung der Person. Falls die Mitarbeiter die Angaben des Geflüchteten in Zweifel ziehen, kann das Jugendamt eine „ärztliche Untersuchung“ anordnen. Der Betroffene muss jedoch einverstanden sein.

Weigert sich die Person, kann das Jugendamt die Leistungen der Jugendhilfe stoppen.

Ist sie einverstanden, folgt eine rein körperliche Untersuchung, wie etwa die Begutachtung der Zahnreife. In Berlin und Hamburg dürfen dazu auch die Geschlechtsorgane begutachtet werden. Eine weitere Methode ist die Vermessung der Handwurzel, des Gebisses oder des Schlüsselbeins per Röntgenstrahlen. Im Landkreis Hildesheim wurde bei einem afghanischen Geflüchteten zur Altersbestimmung sogar einmalig ein DNA-Test durchgeführt.

Bei allen Methoden müssen die jungen Menschen und ihre gesetzlichen Vertreter jedoch vorab über mögliche gesundheitliche Risiken aufgeklärt werden und der medizinischen Altersfeststellung zustimmen. Die Altersfeststellung muss eindeutig dokumentiert werden.

Häufig wird die Frage gestellt, warum sich der Gesetzgeber nicht für ein zuverlässiges medizinisches Verfahren entschieden hat. Die Antwort darauf ist, dass es schlichtweg kein anerkanntes medizinisches Verfahren gibt, um das Alter eines Menschen eindeutig zu bestimmen.

Alle bekannten Methoden haben einen begrenzten Aussagewert und geben nur einen Rahmen an, innerhalb dessen sich das tatsächliche Alter bewegt. Der Gesetzgeber hat sich daher dazu entschieden, verschiedene Verfahren stufenweise miteinander zu kombinieren.

Die Altersfeststellung von jungen Geflüchteten ist also genau geregelt und niemand geht im Netz der Behörden dabei verloren. Deshalb ist es kaum zu glauben, dass niemand sagen kann, wo die im Oktober 2016 hohe Zahl von 8.020 oder im Frühjahr 2020 die niedrigere Zahl von 1.785 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die als vermisst gemeldet wurden, verblieben sind.

Von den betreffenden Behörden, Initiativen und Nichtregierungsorganisationen werden auf die Frage zum Verbleib der jungen Menschen nur Mutmaßungen oder Annahmen als Antworten geäußert.

Mögliche Ursachen für das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“

Die Verwirrung über die Ursachen für das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“ der Kinder und Jugendlichen wird immer größer, je mehr man danach fragt, so

  • hat der Europol-Chef Brian Donald vor einer ausgefeilten, europaweiten „kriminellen Infrastruktur“ gewarnt, die ihr Augenmerk auf die jungen Geflüchteten gerichtet hätte. Er hatte nicht ausschließen wollen, dass manche der vermissten Kinder und Jugendliche Opfer organisierter Kriminalität geworden waren. Er musste aber einräumen, dass auch seine Behörde keine Ahnung hat, wo und bei wem sie sich aufhalten und wie es ihnen geht.
  • sieht der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, „keinen Anlass, an dem Bericht von Europol zu zweifeln“, dass Kriminelle die verzweifelte Lage der Kinder ausnutzten. Dabei seien Kinder, die in Deutschland ankommen, bis zu ihrer Inobhutnahme durch das zuständige Jugendamt nicht weniger gefährdet als auf der Fluchtroute in Europa.
  • fürchtet auch der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), dass es einen „Kinderhandel“ gibt, den die Behörden gar nicht bemerken. Das gelte aber wohl nur in Einzelfällen für die in Deutschland offiziell vermissten minderjährigen Geflüchteten. Die meisten von ihnen seien vermutlich in andere Länder weitergezogen oder schlicht bei Verwandten und Freunden untergekommen. Aber es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der als vermisst gemeldeten Minderjährigen in Ausbeutungssituationen gelandet sei. So gebe es Hinweise, dass Minderjährige zur Prostitution und Diebstahl gezwungen würden, weil sie noch Schulden an Schlepper zurückzahlen müssten. Das Ausmaß sei aber nicht bekannt.
  • haben Kinderrechtsorganisationen wie „Save the Children“, Hinweise dafür, dass Banden solche Kinder versklavten, um sie sexuell auszubeuten oder für Hungerlöhne arbeiten zu lassen, Die Kinder wurden häufig von ihren Eltern auf die Reise geschickt – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch nicht allen gelingt dies, viele strandeten, gerieten unterwegs in die Fänge von Schleppern und würden ausgebeutet.
  • schließt das BKA nicht aus, dass ein Teil der verschwundenen Minderjährigen Verbrechern in die Hände gefallen sein könnte. Viele von ihnen wurden in Kinder- und Jugendheimen betreut, sind dann aber „verschwunden“.
  • betont die Bundesregierung, dass es sich bei den Zahlen um Vermisstenmeldungen handele und nicht um tatsächlich vermisste Personen. Daher könne aus den Daten keine pauschale Bewertung der Versorgungs- und Betreuungssituation unbegleiteter minderjähriger Geflüchtete in Deutschland abgeleitet werden. Auch würden unbegleitete Minderjährige zum Teil als vermisst gemeldet, wenn sie eigenständig zu ihren Familien weiterreisten. Anschließend gebe es häufig keine Rückmeldung, wenn die Kinder bei ihren Verwandten angekommen seien. Die Betreffenden würden dann dauerhaft als vermisst gelten. Auch komme es häufig zu Mehrfachregistrierungen (Bundestagsdrucksache 18/11540, S. 57 bis 58).
  • ist das Deutsche Kinderhilfswerk besorgt, dass bei als vermisst gemeldeten Kindern und Jugendlichen grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen werden müsse. Das Hilfswerk fordert vor diesem Hintergrund, intensiver als bisher nach den als vermisst gemeldeten Minderjährigen zu suchen. Außerdem würden gut ausgestattete Kinder- und Jugendhilfesysteme sowie verlässliche Aufenthaltsperspektiven und ein Anspruch auf Familiennachzug benötigt.
  • warnt die Organisation Missing Children Europe davor, dass kriminelle Netzwerke sich immer stärker auf unbegleitete Flüchtlingskinder konzentrierten und psychischen oder physischen Druck auf sie ausübten, damit sie die Betreuungseinrichtungen verlassen
  • meint der „Mediendienst Integration“, die Vermisstenzahlen seien nicht verlässlich. Grund seien beispielsweise „Mehrfacherfassungen bedingt durch unterschiedliche Schreibweisen eines Namens, fehlende Personalpapiere oder eine fehlende erkennungsdienstliche Behandlung“.
  • sagt das Jugendamt Dortmund, dass sie lautlos von der Bildfläche verschwinden, die Behörden erfahren nichts über ihren Verbleib. Es komme immer wieder vor, dass Jugendliche vor oder nach der Registrierung oder nach einem Gespräch mit dem Jugendamt abtauchen. „Manchmal nur für kurze Zeit, manchmal komplett.“ Wie oft das passiert und wie viele Jugendliche es betrifft, ist unbekannt. „Zahlen haben wir nicht“. Auch über mögliche kriminelle Strukturen wisse man nichts.

 

Wenn man nur die vergangenen 10 Jahre als Grundlage der Betrachtung nimmt, kann man davon ausgehen, dass rund 20.000 minderjährige Menschen auf der Flucht, die in Deutschland angekommen sind, offiziell von den Behörden als vermisst gelten, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Dafür, dass dies eine riesige Tragödie, oftmals mit tödlichem Ausgang ist, zeigt das geringe Öffentliche Interesse daran unverhohlen, wie wenig Wert dem Leben der minderjährigen Menschen auf der Flucht beigemessen wird.

 

 

Quellen: Stat. Bundesamt, Unicef, WAZ, PRO ASYL, KJHG, SGB, Stadt Dortmund

Bild: nord.dgb.de