Werden wir in Zukunft nur noch teil-krank?

urn-newsml-dpa-com-20090101-151119-99-04848-large-4-3In den vergangenen 10 Jahren sind die Ausgaben für das Krankengeld um rund 8,1 Prozent angestiegen, weil immer mehr Menschen den Arbeitsstress nicht mehr aushalten. Die zweithäufigste Krankschreibung erfolgt aufgrund seelischer Erkrankung, deren Genesung den Kostenträgern zu lange dauert.
Das kann die Bundesregierung so nicht tatenlos durchgehen lassen.
Sie beauftragte den Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld zu erstellen. Das Gutachten mit dem Namen „Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten“ ist nun fertig und rät, dass es in Deutschland möglich sein sollte, die im Rahmen einer Krankschreibung festgestellte Arbeitsunfähigkeit prozentual zu differenzieren. Auch möglich werden sollte, dass Arbeitnehmer zu 25 Prozent oder 50 Prozent krankgeschrieben werden und die Teilarbeitsunfähigkeit bzw. das Teilkrankengeld eingeführt werden.
Das läuft real auf Leistungskürzungen hinaus und war sicherlich auch Sinn der Übung.

Bis heute beläuft sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in der Regel auf 100 Prozent des Bruttoentgelts. Entweder ist man zu 100 Prozent krank oder zu 100 Prozent arbeitsfähig.

Doch nicht nur die Krankengeldzahlung, auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist in der Diskussion und vieles wird derzeit miteinander vermischt.

Zur Erinnerung sei noch mal gesagt, dass der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung 2011 von 14,9 auf 15,5 Prozent anstieg. Davon entfielen 8,2 Prozent auf die Arbeitnehmer, 7,3 Prozent auf die Arbeitgeber. Seitdem müssen die Beitragssteigerungen allein die Arbeitnehmer tragen, der Beitragssatz der Arbeitgeber wurde dagegen eingefroren. Schon Ende 2015 zahlten die Versicherten über zehn Milliarden Euro mehr als die Arbeitgeber, im laufenden Jahr wird die Differenz auf 13 Milliarden Euro ansteigen.
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer sagte gegenüber der Presse, dass immer außer Acht gelassen würde, dass die Arbeitgeber die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die ersten sechs Wochen ganz alleine übernehmen. Insgesamt gehe es dabei um 51 Milliarden Euro pro Jahr. Das wäre ein Vielfaches von dem, was die Arbeitnehmer insgesamt für Zusatzbeiträge in der Krankenversicherung aufbringen müssten. Dann wird weiter eine Drohkulisse aufgebaut und süffisant eine sogenannte Teilarbeitsunfähigkeit nachgeschoben. Will heißen, eine sogenannte Teilarbeitsunfähigkeit stuft die kranken Beschäftigten auf 75 oder 50 oder 25 Prozent Arbeitsunfähigkeit ein, was je nachdem eine Verringerung der Arbeitszeit und faktisch krank sein und trotzdem arbeiten, bedeutet. Das geminderte Einkommen würde dann durch ein Teilkrankengeld ergänzt, so Eric Schweitzer.

Immer wenn Einsparungen im Gesundheitswesen geplant sind, bekommen die Vorschläge den seriösen, wissenschaftlichen Anstrich durch den „deutschen Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“. Dieser Sachverständigenrat wurde erstmals 1985 berufen, damals unter dem Namen Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Nachdem die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung von 2003 abgeschafft wurde, erhielt der Sachverständigenrat 2004 seinen heutigen Namen. Der jetzige Sachverständigenrat wurde am 6. Januar 2015 von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe ernannt und liefert alle zwei oder drei Jahre Gutachten zur Gesundheitspolitik ab.
Die sieben Ratsmitglieder des Sachverständigenrats, meist Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, lieferten nun ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld ab.

Ihre Empfehlungen für eine „Reform“ des Krankengelds sehen vor:

• Einführung einer Teilarbeitsunfähigkeit und Teilkrankengeld, da nicht jede Verletzung oder Krankheit führe gleich zum Totalausfall eines Arbeitnehmers. Im Konsens zwischen Arzt und Patient solle die Arbeitsunfähigkeit graduell festgelegt werden können. Dies soll in Schritten zwischen 25 und 100 Prozent möglich sein.
• Die trotz Krankheit möglicherweise noch vorhandene Restleistung sei zu nutzen, da dies auch die sozialen und finanziell negativen Folgen einer unnötig verzögerten Wiederein-gliederung ins Erwerbsleben erleichtere.
• Die Zahlung eines Teilkrankengelds solle bereits während der ersten sechs Wochen der Krankheit, also während der Phase der Entgeltfortzahlung, möglich sein.
• Ab der siebten Woche sollten Arbeitnehmer bei einer graduellen Teilarbeitsunfähigkeit von zum Beispiel 50 Prozent zusätzlich zu dem ihnen zustehenden anteilig berechneten Arbeitsentgelt auch die Hälfte des Krankengelds erhalten.
• Damit das funktionieren kann, soll nur noch die Angabe einer einzigen arbeitsunfähig-keitsbegründenden Hauptdiagnose auf dem Krankschreibungsformular erscheinen. Bisher können Ärzte mehrere Diagnosen ohne Gewichtung auf dem Formular angeben.
• Die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt im Ungefähren und Unklaren, greifbar sind bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen noch mehr zunehmen und die Menschen werden krank.

Wie das in der Praxis laufen könnte, sieht vielleicht so aus: Der Arbeitnehmer kommt zum Arzt. Nach der Schilderung seiner Beschwerden geht es in die Verhandlungsphase: 100 Prozent oder lässt der Arzt sich vielleicht nur auf 75 Prozent ein? Vielleicht setzt er sich mit sogar nur 50 Prozent durch, weil er schon diesen Monat zu viele 75 Prozent ausgestellt hat? Wie viel soll’s denn nun sein?
Dann geht’s mit der Krankschreibung in den Betrieb, dort muss der kranke Beschäftigte sich bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter rechtfertigen: Denn mit nur 25 Prozent teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50 Prozent irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Was machen wir mit dem teil-kranken Kollegen. Keiner weiß mehr, wie krank er denn nun wirklich ist?

Den Mitgliedern des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Ferdinand Gerlach, Wolfgang Greiner, Marion Haubitz, Gabriele Meyer, Jonas Schreyögg, Petra Thürmann, und Eberhard Wille sollte dringend empfohlen werden, zum Arzt zu gehen und sich mal gründlich untersuchen zu lassen – bei solchen Vorschlägen, da kann doch etwas nicht stimmen.

 

Quelle: Ärzte Zeitung online
Bild: dpa.com