DGB-Studie entzaubert das Märchen vom Azubi-Mangel – wie die öffentliche Ausbildungsstatistik die Lage auf dem Ausbildungsmarkt verschleiert

Der DGB und einige Einzelgewerkschaften schlagen Alarm: Mehr als 1,9 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss.

Wie immer, wenn Ende September jeden Jahres die Lehrstellenbilanz gezogen wird, beginnt rituell das Jammern der Unternehmer. Sie suchen händeringend nach Auszubildenden, aber es würde immer schwerer, welche zu finden. Bei dieser immer gleichen Aussage der Firmenchefs zur Lage auf dem Ausbildungsmarkt werden sie von Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) unterstützt.

Der DGB hat nun die Daten analysiert und kritisiert: Die Zahlen verschleiern demnach, wie es wirklich ist. Von einem Bewerbermangel kann schon anhand dieser Zahlen überhaupt keine Rede sein.

Die BA hat für das Jahr 2015/2016 einen Anstieg der gemeldeten Ausbildungsstellen von drei Prozent gegenüber dem Vorjahr gemeldet – bei einem Rückgang der Zahl der Bewerberinnen und Bewerber um 0,6 Prozent.

Ende September 2016 gebe es der BA-Statistik zufolge 43.500 freie Ausbildungsplätze. Dem stünden rund 20.000 Bewerber ohne Lehrstelle gegenüber. Die Zahlen suggerieren: Es gibt mehr freie Plätze als Bewerber. Aber stimmt das?

Die Geschichte vom bundesweiten Auszubildenden-Mangel entpuppt sich bei Licht betrachtet aber als Märchen, denn zahlreiche Jugendliche ohne Ausbildungsplatz werden der DGB-Analyse zufolge gar nicht in den Daten der BA berücksichtigt:

  • Rund 20.000 junge Bewerber haben in diesem Jahr weder eine Lehrstelle noch eine Ersatzmaßnahme abbekommen. Sie sind nach den BA-Zahlen offiziell als „unversorgt“ geführt. Die Agentur zählt hier aber nur diejenigen mit, die als „ausbildungsreif“ gelten. Die anderen jungen Menschen fallen unter den Tisch.
  • Zehntausende Jugendliche, die zwar formal ausbildungsreif sind, aber trotzdem noch keine Lehrstelle haben, gelten nach den BA-Zahlen als „versorgt“. In Wahrheit hängen sie in einer Art Warteschleife, weil sie etwa ein Praktikum oder berufsvorbereitende Maßnahmen absolvieren.
  • Rund 283.000 Jugendliche, die von der BA als ausbildungsreif eingestuft wurden, haben aber keinen Ausbildungsplatz bekommen, weil nur 43.478 offene Ausbildungsplätze zur Verfügung standen.
  • Mehr als 1,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren haben keinen Berufsabschluss. Immerhin haben noch rund 60.000 dieser Menschen bei der BA 2016 angezeigt, dass sie akut noch einen Platz suchen. Eigentlich müssten auch diese Jugendlichen und junge Erwachsene als unversorgt eingestuft werden. Insgesamt blieben damit allein in diesem Jahr mehr als 80.000 Bewerber ohne Ausbildungsplatz. Das übersteige die Zahl der offenen Ausbildungsplätze von rund 43.500 deutlich.

Von einem Bewerbermangel kann anhand dieser Fakten keine Rede mehr sein.

Diese Einschätzung teilt auch der Nationale Bildungsbericht 2016, das ist die wohl profundeste Sammlung von Bildungsdaten in Deutschland. Dort wird festgestellt:

  • Seit mehr als zwanzig Jahren liegt bei den betrieblichen Ausbildungsplätzen das Angebot unterhalb der Nachfrage.
  • Die steigenden Studierendenzahlen sind nicht für den Sinkflug bei den Ausbildungsverträgen verantwortlich.
  • Das Schrumpfen der Berufsbildung ist „angebotsinduziert“, will heißen: Die Betriebe bilden nicht genug aus.
  • Die Unternehmen schöpfen das traditionelle Potenzial der Jugendlichen nur unzulänglich aus. Rund 270.000 Jugendliche steckten in den zahllosen Maßnahmen im Übergang von der Schule in die Ausbildung fest. Die Mehrheit von ihnen hat einen Hauptschulabschluss (47,7 Prozent) oder einen mittleren Abschluss (26,8 Prozent).
  • Das Potenzial der leistungsstarken Jugendlichen wird von den Betrieben zu wenig genutzt. Bei den gewerblich-technischen oder den kaufmännischen Berufen, die von Jugendlichen mit Abitur oft nachgefragt werden, gibt es kein ausreichendes Angebot.

Wenn dennoch seitens der Unternehmerverbände zu einem anderen Schluss gekommen wird, stellt sich die Frage der Seriosität ihre Aussagen, umso mehr, da sich z.B. die Autoren des Nationalen Bildungsberichts als auch die Spitzenverbände der Wirtschaft auf ein und dieselbe Statistik berufen, nämlich auf die Ausbildungsbilanz der BA.

An die Art der Ausbildungsbilanzierung kann man noch mehr Fragen stellen. Vor allem, dass die Bilanz Jahr für Jahr zum 30. September gezogen wird: Bis zu diesem Zeitpunkt sind aber bereits viele erfolglose Ausbildungsstellenbewerber in teilqualifizierende Bildungsgänge des Übergangssystems eingemündet. Diese Jugendlichen zählen zum Bilanzierungsstichtag zu den versorgten Ausbildungsstellenbewerbern, auch dann, wenn sie noch auf Ausbildungsplatzsuche sind. Da diese jungen Menschen nicht zu den erfolglosen Ausbildungsplatznachfragern gerechnet werden, erscheinen die Bilanzen dann, selbst in den Jahren des größten Ausbildungsplatzmangels, weitgehend ausgeglichen.

Die Frage der Ausbildungsstatistik ist für die Unternehmen politisch sehr bedeutend. Sie haben ein großes Interesse daran, den Kreis der zu versorgenden „ausbildungswilligen und -fähigen“ Jugendlichen rechnerisch möglich klein zu halten.

Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Gruppen ist ihnen noch präsent, dass 1980 das Bundesverfassungsgericht urteilte, der Staat müsse, auch wenn er den praktischen Teil der Berufsausbildung an die Arbeitgeber delegiert habe, von diesen erwarten, dass alle Jugendlichen die Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Selbst dann, wenn das freie Spiel der Kräfte nicht mehr ausreichen sollte, müssen die Arbeitgeber somit ein auswahlfähiges Angebot für die Jugendlichen vorhalten.

Vor allem aber fürchten sie die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe wie der Teufel das Weihwasser.

Genau deshalb muss die Ausbildungsplatzabgabe wieder auf die Agenden der Gewerkschaften.

 

 

 

Quellen: BA, DGB, Nationaler Bildungsbericht

Bild: dgb