Kleine Geschichte der Gewerkschaften in Frankreich

Die Gewerkschaften in Frankreich sind wichtige politische Akteure, wie sich auch an den aktuellen Protesten im Land zeigt. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist im internationalen Vergleich allerdings gering. Wie es zu dieser widersprüchlichen Situation kam, zeigt ein Blick zurück.

Die französische Gewerkschaftsbewegung nahm Ende des 19. Jahrhunderts Gestalt an. Wie in den anderen europäischen Ländern war sie zunächst eine Gründung der Arbeiterklasse, bevor sie sich auf andere Erwerbstätige ausdehnte: Angestellte, Beamte, Landwirte, mittleres Management, und schließlich auch auf die freien Berufe, so dass heute fast alle Berufsgruppen abgedeckt sind. Ausnahmen bilden lediglich einige Angestellte aus den Bereichen staatlicher Gewalt (Militär und Präfekten), denen eine gewerkschaftliche Organisation untersagt ist.

Wie auch anderswo ist die französische Gewerkschaftsbewegung ein Akteur der Geschichte, insbesondere der Sozialgeschichte, aber auch der politischen Geschichte – da die gewerkschaftlichen Aktivitäten erst sehr spät (1884) legalisiert wurden und die ersten Aktivisten einen langen politischen Kampf um das Recht auf Existenz führen mussten. Die französische Gewerkschaftsbewegung ist aber nicht nur Akteur, sondern auch Produkt der Geschichte: Die wesentlichen soziologischen und ideologischen Merkmale, die sie kennzeichnen, spiegeln die Besonderheiten der französischen Geschichte wider. Unter ihnen ragen vier besonders hervor: eine Arbeiterklasse, die lange Zeit eine gesellschaftliche Minderheit war; das Verständnis, dass die Macht der Arbeitgeber ein gottgegebenes Recht sei; ein sehr interventionistischer Staat und eine geschichtlich erst spät verfügbare Möglichkeit zu Tarifverhandlungen.

Legitimität durch kollektives Handeln

Nachfolgend werden im Wesentlichen nur die Gewerkschaften im Privatsektor behandelt. Es gibt acht Gewerkschaftsdachverbände unterschiedlicher Größe und daneben eine Reihe von autonomen oder unabhängigen Gewerkschaften mit nur geringem Einfluss. Die beiden größten Dachverbände sind die »CGT« und die »CFDT«, die »CGT-Force ouvrière« folgt auf dem dritten Platz. Dann kommt ein Dachverband mit vergleichsweise weniger Mitgliedern, die »CFTC«, und ein stark auf eine bestimmte Berufsgruppe bezogener Verband, die »CFE-CGC«. Sie richtet sich speziell an Personen in Leitungsfunktion (Ingenieure, mittleres Management, Führungskräfte). Zwei wesentlich später gegründete Organisationen, »Unsa« und »Solidaires«, haben nicht die Form eines Dachverbands, sondern bilden einen Bund mehrerer Gewerkschaften. Schließlich folgt noch der von Lehrkräften dominierte Verband »FSU«, der im Wesentlichen im Bildungsbereich vertreten ist.

Alle zusammengezählt geben diese Organisationen einen Stand von rund 2,5 Millionen Mitgliedern an, wodurch die offiziellen Statistiken in der Regel einen Organisationsgrad von etwa 8 Prozent der französischen Beschäftigten aufführen. Bei genauer Betrachtung ist die gewerkschaftliche Präsenz sehr ungleich verteilt: Mehr als 15 Prozent der Beschäftigten in den drei Bereichen des öffentlichen Dienstes (Zentralstaat, Gebietskörperschaften, e öffentliche Krankenhäuser) und in einigen großen öffentlichen (oder vor kurzem privatisierten) Unternehmen sind Gewerkschaftsmitglieder, hingegen nur etwa 5 Prozent im Privatsektor. In der Industrie, die zwischen 1945 und 1980 ein zentraler Ort der gewerkschaftlichen Verankerung war, ist heute die gewerkschaftliche Präsenz nicht mehr so stark, auch wenn bestimmte Traditionen kollektiven Handelns trotz einer reduzierten Mitgliederstärke beibehalten werden konnten.

Der Organisationsgrad lag Mitte der 1970er Jahre noch bei über 20 Prozent. Seitdem ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stark zurückgegangen, überwiegend in den 1980er Jahren. Das betraf alle Organisationen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Seit Mitte der 1990er Jahre ist das Niveau stabil geblieben: Dahinter verbergen sich Umverteilungen, wobei die Rückgänge in der Industrie durch Zuwächse in anderen Sektoren ausgeglichen wurden. Der Anteil der Frauen an der gewerkschaftlich organisierten Belegschaft entspricht inzwischen in etwa ihrem Anteil am Arbeitsmarkt, und dieser Anstieg spiegelt sich auch in ihrer Vertretung bei Vorständen und Führungskräften auf allen Ebenen der gewerkschaftlichen Organisationen wider. Insgesamt konnten die Gewerkschaften jedoch keine nennenswerte Zahl an Mitgliedern hinzugewinnen.

Obwohl Frankreich in Bezug auf den Organisationsgrad immer noch weit hinterherhinkt, liegt es in der Europäischen Union bei gewerkschaftlicher Präsenz in den Betrieben auf Platz zehn. Im Jahr 2011 meldeten 47 Prozent der Betriebe mit zwanzig oder mehr Beschäftigten die Anwesenheit von Gewerkschaftsdelegierten entweder vor Ort selbst oder in dem Unternehmen, zu dem der Betrieb gehört. Diese Betriebe beschäftigen 70 Prozent aller Beschäftigten. Hingegen sind die Gewerkschaften in kleinen und sehr kleinen Unternehmen kaum präsent, für die eine kollektive Vertretung zu organisieren eine große Herausforderung ist. Die Verbreitung variiert auch stark nach Branchen und Unternehmensgröße: stärker in der Industrie, schwächer im Baugewerbe und im Handel. Der Schwerpunkt liegt nach wie vor im öffentlichen Sektor und insbesondere im öffentlichen Dienst.

Die Legitimität der Gewerkschaften ergibt sich nicht nur aus der Zahl der Mitglieder. Sie wird auch durch die Beteiligung der Beschäftigten bei Einsetzung und Wiederwahl ihrer Vertretungen in den Unternehmen begründet: Das sind die Betriebsausschüsse und die Personaldelegierten im privaten Sektor sowie paritätische Kommissionen und Fachausschüsse in den drei Bereichen des öffentlichen Dienstes (Staat, Gebietskörperschaften, öffentliche Krankenhäuser). Die Wahlbeteiligung und das Votum für die Gewerkschaftslisten sind daher Indikatoren für die Unterstützung gewerkschaftlichen Handelns, während die Stimmenanteile selbst es ermöglichen, die relative Repräsentativität der einzelnen Gewerkschaften festzustellen. Im Jahr 2008 wurde durch eine Gesetzesänderung das Ergebnis der Wahlen als Hauptkriterium für die Bemessung der Repräsentativität (und damit Anerkennung als Verhandlungspartner) der Gewerkschaften festgelegt. Im Jahr 2013 wurde erstmals die Repräsentativität der Gewerkschaften im Privatsektor ermittelt, indem die Ergebnisse der betrieblichen Wahlen der vergangenen vier Jahren kumuliert wurden. Im Jahr 2014 wurde diese Erhebung durch Wahlen im öffentlichen Dienste ergänzt.

Staat, Gebietskörperschaften und öffentliche Krankenhäuser spielen eine wichtige Rolle für den Einfluss der Gewerkschaften. Mit Ausnahme der kleinen Gewerkschaften CFTC und der CFE-CGC findet sich dort ein bedeutender Anteil ihrer Mitglieder und Wähler. Die überwiegende Mehrheit der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst stimmt für die großen branchenübergreifenden Organisationen. Dies ist ein Erbe der historischen Verbindung zwischen den Gewerkschaften der Arbeiterschaft und der Gewerkschaftsbewegung der Beamten.

Eine zersplitterte Gewerkschaftsbewegung

Die Zersplitterung der Gewerkschaftsorganisationen in Frankreich resultiert aus Spaltungen innerhalb der beiden historisch bedeutsamen Traditionen des Gewerkschaftswesens: den Gewerkschaften laizistischen Ursprungs (sozialistisch im weitesten Sinne) und den Gewerkschaften christlichen Ursprungs. Die erste Strömung wird wesentlich von der CGT vertreten, dem ältesten französischen Gewerkschaftsbund (gegründet 1895). Bis 1914 durch den Einfluss des revolutionären Syndikalismus geprägt, wurde sie 1921 erstmals zwischen Revolutionären und Reformisten gespalten. Dann vereinigten sich die beiden Strömungen 1936 wieder, bevor sie sich am Vorabend des 2. Weltkrieges erneut trennten. Nach dem Krieg behielt die kommunistische Strömung, die inzwischen zur Mehrheit geworden war, die Kontrolle in der – im Rahmen der Resistance erneut wiedervereinigten – CGT in der Hand. Eine wahre Zerstückelung des Dachverbandes CGT erfolgte zwischen 1947 und 1948 durch die Gründung mehrerer neuer Organisationen: es entstand die CGT-Force ouvrière (FO), die die vor 1936 dominante reformistische Tradition in der Gewerkschaftsbewegung nun eigenständig fortsetzte; zudem die Fédération de l’Éducation nationale (FEN), früher die Gewerkschaft der Lehrkräfte in der CGT. Letztere wählte die Selbständigkeit, um nicht zwischen den Anhängern der CGT und den Anhängern der FO gespalten zu werden. Hinzu kam eine Vielzahl anderer Gewerkschaften, die den ebenfalls den Weg der Autonomie gingen (insbesondere im öffentlichen Dienst und im öffentlichen Sektor). Zu einem späteren Zeitpunkt teilte sich die FEN letztlich doch in zwei Teile, einen Zweig, der 1993 Unsa gründete, indem er sich mit anderen Gewerkschaften zusammenschloss, und einen anderen Zweig, der gleichzeitig die FSU gründete, mit einer sehr viel kämpferischeren Ausrichtung.

Auch die Gewerkschaftsbewegung christlicher Herkunft hat Erfahrungen mit Abspaltungen gemacht. Die Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC) wurde 1919 gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte sie einen Wandlungsprozess. Wie auch in anderen Gewerkschaften dieser Tradition in Europa (und Kanada) führte eine interne Debatte schließlich zum Verzicht auf christliche Bezüge im Titel und in der Grundsatzerklärung des Dachverbands und zur Annahme einer ausgeprägt linken Orientierung. 1964 wurde sie zur Confédération française démocratique du travail (CFDT). Eine Minderheit lehnte diese Entwicklung ab und führte die Organisation unter dem alten Kürzel CFTC fort. Die CFDT erlebte dann mit der großen sozialen Bewegung vom Mai 1968 eine Radikalisierung ihrer Positionen. Im Jahre 1970 begann sie, sich auf einen Selbstverwaltungssozialismus zu orientieren. Dies zog eine kämpferische Generation neuer Mitglieder an, die die Hoffnungen der Jahre nach 1968 hochhielten. In den späten 1970er Jahren nahm sie dann eine reformistische Wende und betonte fortan die Bedeutung sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen und die Suche nach Kompromissen. Interne Spannungen kennzeichneten die Zeit danach. Der konfliktorientierte Flügel verließ die CFDT in Etappen zwischen 1988 und 2003, von denen einige eine Reihe von Einzelgewerkschaften unter dem Namen »Solidaires Unitaires et Démocratiques« (SUD) gründeten, die sich 2004 mit weiteren zum Dachverband »Union syndicale Solidaires« zusammenschlossen.

Mit der Gründung des CGC im Jahr 1944 wurde eine Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten in der gewerkschaftlichen Vertretung eingeführt. Im Wettbewerb um Mitglieder mit den von den großen Gewerkschaftsdachverbänden gegründeten Fachbereichen für Führungskräfte und mittleres Management bemühte sich die CGC wiederum um die Erweiterung ihrer Basis in Richtung der Vorarbeiter und technischen Angestellten. 1981 wurde sie in « Confédération française de l’encadrement – Confédération générale des cadres » (CFE-CGC) umbenannt. Sie repräsentiert jedoch auch nur eine Minderheit der Beschäftigten mit Leitungsfunktionen.

Mehr eine Gewerkschaftsbewegung der Aktivisten als eine der Mitglieder

Wenn die gewerkschaftliche Zersplitterung als einer der Gründe für die geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Frankreich im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn angesehen werden kann, ist er bei weitem nicht der einzige. Es gab außer in einigen spezifischen Sektoren (Hafenarbeiter, Presse, Druckereien) und zu bestimmten Zeiten nie Mechanismen, die die Beschäftigung direkt mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft verknüpften: kein System der zwingenden Mitgliedschaft (closed shop, union shop) oder den Einzug der Beiträge durch den Arbeitgeber (check off). Abgesehen von einigen wenigen Fällen ist die Genossenschaftsbewegung von der Gewerkschaftsbewegung getrennt. Es gab daher in Frankreich nie ein umfassendes Angebot gewerkschaftlicher Dienstleistungen, welches den Aufbau einer breiten Gewerkschaftsbewegung wie in vielen europäischen Ländern unterstützt hätte. Ebenso gibt es kein ▸»Gent-System« für Arbeitssuchende (Anm. d. Übers.: Verwaltung der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkschaften), die in Frankreich daher auch nie von Gewerkschaften, sondern von Kommunen und dann von öffentlichen Institutionen betreut wurden. Die durch den Staat umfassend genutzte ▸Praxis der Allgemeinverbindlicherklärung hat den Nutzen von Tarifverträgen und Sozialpartnervereinbarungen von der Gewerkschaftsmitgliedschaft entkoppelt. Damit wird der gewerkschaftlichen Präsenz im Betrieb ein Teil der Notwendigkeit entzogen. Heute sind mehr als 90 Prozent der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag abgedeckt.

Unter diesen Bedingungen und trotz einiger Versuche jüngeren Datums, Angebote zu etablieren, hat die Mitgliedschaft wenig mit den Leistungen zu tun, die die Gewerkschaften anbieten. Die Mitgliedschaft begründet sich eher auf Überzeugung, was in der Vergangenheit zu einer Gewerkschaftsbewegung beigetragen hat, die viel stärker von den Aktivisten als durch eine große Mitgliederbasis getragen wurde. Die wichtige Rolle des Staates und der Öffentlichkeit in der Behandlung sozialer Angelegenheiten in Frankreich hat nur wenig Platz gelassen für die Entwicklung gewerkschaftlicher Dienst- und Versicherungsleistungen.

Heute hat ein dichtes Geflecht von Tarifverhandlungen seinen Platz gefunden, viele Vereinbarungen werden Jahr für Jahr auf Branchen- und Unternehmensebene abgeschlossen. Dennoch behält der Staat seinen Platz im Zentrum der industriellen Beziehungen, zumal die Arbeitgeber in Frankreich nie große Kompromissfähigkeit und -willen bewiesen haben.

Die Bedeutung des Erbes

Einige Besonderheiten der französischen Gewerkschaftsbewegung haben noch weit ältere Wurzeln: Im Gegensatz zu ihren wichtigsten Nachbarn wurde die französische Gewerkschaftsbewegung nicht von einer großen und räumlich konzentrierten Arbeiterklasse hervorgebracht. Frankreich war bis Mitte des 20. Jahrhunderts ländlich geprägt, nicht nur wegen der Bedeutung der Bauernschaft, sondern auch wegen der starken Präsenz der Industrie auf dem Lande. Die bäuerliche Welt wurde erst Ende der 1950er und 1960er Jahre und damit vergleichsweise spät in die Lohnarbeit der Industrie oder des Dienstleistungssektors integriert. Die nur schleppende Landflucht wurde durch zahlreiche aufeinanderfolgende Einwanderungswellen kompensiert, die die Vielfalt der Beschäftigten beständig erweiterte und eine dauerhafte Heterogenität in einer fragmentierten Arbeiterklasse ohne soziologische Einheit aufrechterhalten hat. Noch heute sind die Arbeiter, zusammen mit den Angestellten, die am wenigsten gewerkschaftlich organisierte soziale Gruppe in Frankreich.

Diese besondere Schwierigkeit bei der Zusammenführung von verschiedenen Gruppen von Beschäftigten wurde durch den umfangreichen Einsatz politischer Ressourcen weitgehend kompensiert. Dies geschah nicht so sehr in Verbindung mit den Parteien der Arbeiterbewegung, die die französische Gewerkschaftsbewegung in den ersten Jahren ihrer Entwicklung ablehnte, als vielmehr durch große soziale Projekte der gesellschaftlichen Transformation. Anhand ideologischer Bezüge konnte ein Klassengefühl geschaffen und eine Mobilisierung erreicht werden. Hierdurch gelang es, die Heterogenität zu überwinden und kollektives Handeln zu ermöglichen. Von der Gründung der CGT bis zum Ersten Weltkrieg nährte das revolutionäre Selbstverständnis der Gewerkschaftsbewegung ein Bild als Vorkämpferin sozialer Transformation, die sich als außerhalb des Feldes der politischen Parteien verortet verstand. Im Jahre 1906 verabschiedete der Kongress der CGT einen Text, der unter dem Namen der ▸»Charta von Amiens« bekannt wurde. In ihm wurde beschlossen, dass sich die Gewerkschaft von der Sozialistischen Partei fernhalten solle; stattdessen wurde eine doppelte Aufgabe für die Gewerkschaftsbewegung definiert: die alltägliche Lage der Arbeiter zu verbessern und gleichzeitig ihre soziale und politische Emanzipation vorzubereiten. Dieses doppelte Ziel hat lange Zeit die Politik der französischen Gewerkschaften geprägt, wobei jede Strömung es auf ihre eigene Art und Weise interpretierte.

Der Kommunismus spielte in der Folge eine führende Rolle und führte dazu, dass in den 1920er Jahren eine enge Beziehung zwischen der Partei und der Gewerkschaft CGT eingegangen wurde, die bis Anfang der 1990er Jahre andauerte. Der rasche Niedergang der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) in den 1980er Jahren trug teilweise zur Schwächung der CGT bei. Sie distanzierte sich dann von der Partei, zu der sie dennoch immer noch enge Verbindungen unterhält.

Im wechselseitigen Wettbewerb haben auch die anderen Gewerkschaftsdachverbände ideologische Bezüge mobilisiert, und sei es auch nur, um den kommunistischen Einfluss zu bekämpfen. Diese ideologisch-politische Dimension der französischen Gewerkschaftsbewegung wurde auch durch die intensiven politischen Momente geprägt, mit denen sie verbunden war: 1936 begleitete die gewerkschaftliche Einheit den Sieg der ▸Volksfront (Anm. d. Übers.: Regierung des Wahlbündnisses der linken französischen Parteien), die sowohl Ausdruck des Widerstands gegen den Aufstieg des Faschismus als auch die erste Gelegenheit zur Umsetzung eines umfassenden Sozialprogramms war. Ein Generalstreik vom Juni 1936 ermöglichte es, neue soziale Rechte zu erlangen, während gleichzeitig ungelernte Arbeiter massiv in die Gewerkschaften eintraten, wodurch die französische Gewerkschaftsbewegung zum ersten Mal in den Bereich der Massengewerkschaften vorstieß. Als Mitglieder des Nationalen Widerstandsrates (Conseil national de la Résistance) während des Zweiten Weltkriegs waren die CGT und die CFTC nach der Befreiung an der Umsetzung seines Programms zur Einführung der Sozialversicherung , des Statuts des öffentlichen Dienstes, der Verstaatlichung großer Teile der Industrie und des Finanzsystems sowie der Einrichtung der Betriebsausschüsse beteiligt. Im Jahr 1950 wurde durch Gesetz ein Mindestlohn und ein System von Branchentarifverhandlungen eingeführt. Erst am Ende einer Zeit des relativen Rückzugs der Arbeitgeberverbände, die sich während der deutschen Besatzung (1940-1945) kompromittiert hatten, wurde ein System der Arbeitsbeziehungen mit Spielraum für Verhandlungen geschaffen.

In diesem Zeitraum kam es auch zur Institutionalisierung der Arbeitnehmerbeteiligung in den Sozialversicherungen und zur Einführung der paritätischen Verwaltung der Zusatzrentenfonds. Seitdem wurden neue Rechte gewonnen (die gemeinsame Verwaltung wurde 1958 auf das Arbeitslosengeld ausgedehnt) und Bereiche der Verhandlung und des Dialoges hinzugefügt, in denen Gewerkschaften als handelnde Akteure maßgeblich wurden, insbesondere auf Ebene der Unternehmen seit den Auroux-Gesetzen von 1982 (Anm. d. Übers.: Reform des Arbeitsrechts mit unter anderem der Einführung eines Anspruchs auf alljährliche Verhandlungen über Lohn und Arbeitszeit sowie eines Budgets für den Betriebsrat).

Der Generalstreik vom Mai und Juni 1968 war notwendig, um den Arbeitgebern die rechtliche Anerkennung der gewerkschaftlichen Präsenz im Unternehmen und die Ausweitung der Themen aufzuzwingen, die in branchenübergreifenden Verhandlungen behandelt werden sollten. Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene spielen seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle. Dabei erhielten die Gewerkschaften und betrieblichen Gewerkschaftssektionen eine stärkere Verantwortungen in einer Zeit, in der die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder schrumpfte. Trotz eines leichten Wiedererstarkens des gewerkschaftlichen Organisationsgrades nach 1968 konnten die Gewerkschaften jedoch den Zuspruch und die Bedeutung, die sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit erreicht hatten, nicht wiedererlangen.

Die 1980er Jahre waren eine besonders schwierige Zeit für die Gewerkschaftsbewegung. Viele Faktoren ihrer Schwächung verflochten sich miteinander und verstärkten sich gegenseitig: ein massiver Rückgang der Beschäftigtenzahlen und damit ihrer Bastionen in der Industrie, eine Vertiefung der gewerkschaftlichen Spaltung und die ersten negativen Auswirkungen der neoliberalen Politiken. In etwa zehn Jahren verloren die Gewerkschaftsbewegung rund die Hälfte ihrer Mitglieder.

Seit den 1990er Jahren rufen Gewerkschaften im Rahmen sozialer Protestbewegungen die Beschäftigten regelmäßig zu Straßendemonstrationen mit hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen Beteiligten auf. Einige dieser Bewegungen waren siegreich, wie der vereinte Kampf gegen den ▸»Contrat première embauche« im Jahr 2006, der die Regierung veranlasste, ihren Plan zurückzuziehen, einen »erleichterten« Arbeitsvertrag für Jugendliche und Berufsanfänger einzuführen.

Die Legitimität der Gewerkschaften in Frankreich hängt in hohem Maße von ihrer Fähigkeit ab, soziale Fragen in der Öffentlichkeit als Thema zu setzen, sei es im Hinblick auf die Mobilisierung oder im Hinblick auf politische Debatten. Diese Kapazität beruht wesentlich auf der alltäglichen Arbeit in den Betrieben, in denen sie präsent sind, auch wenn ihre Tätigkeit dort nur auf einer dünnen Personaldecke aufbaut. Die Handlungsfähigkeit im Unternehmen – und insbesondere in kleinen Unternehmen – bleibt Gegenstand des Konflikts mit zahlreichen Arbeitgebern.

Die große Wirtschaftskrise der 1980er Jahre führte in Frankreich zu einem massiven Absinken des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, deren Auswirkungen auch dreißig Jahre später noch spürbar sind. Obwohl sehr früh und heftig, stand dieser Trend nicht im Widerspruch zur Entwicklung der Gewerkschaften in den anderen Ländern Europas und der Welt. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Frankreich bleibt heute auf einem niedrigen Niveau, was aber nicht bedeutet, dass der gewerkschaftliche Einfluss in der Gesellschaft gering wäre.

Die Gewerkschaften sind relevante Akteure im Unternehmen und in den Branchen, bei der Diskussion und Ausarbeitung der Politik und ganz allgemein im politischen und sozialen Leben auf nationaler und regionaler Ebene. Sie haben die Fähigkeit, die Beschäftigten zu mobilisieren, wenn sie die wichtigen Themen wahrnehmen, wie die großen Konflikte der vergangenen Jahre zeigen. In einem System der industriellen Beziehungen, in dem es keinen materiellen Anreiz gibt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, scheinen die Beschäftigten daran gewöhnt zu sein, sich auf Gewerkschaften zu verlassen, ohne sich als Mitglieder zu engagieren. Die französischen Gewerkschaften wollen sich jedoch nicht mit einer solchen Situation abfinden: Sie haben, wie alle Gewerkschaften in Europa, Kampagnen zu ihrer Stärkung gestartet, die in einem schwierigen Umfeld bisher allerdings noch nicht von Erfolg gekrönt sind.

 

 

 

Dieser Text wurde anlässlich des 13. Kongresses des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) im Herbst 2015 in Paris von einem Komitee der gastgebenden französischen Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO, CFTC und Unsa) unter Koordination des IRES (siehe: http://www.ires.fr/) verfasst. Daran mitgearbeitet haben Frédéric Imbrecht (CGT), Philippe Antoine (CFDT), Sébastien Dupuch (FO), Joseph Thouvenel (CFTC), Michel Guerlavais (Unsa), Elyane Bressol, David Chaurand, Jean-Marie Pernot, Frédéric Lerais und Udo Rehfeldt. Die Übersetzung fertigte Martin Ahrens an. Der Text kann im Original in französischer und englischer Sprache hier abgerufen werden: http://www.ires.fr/etudes-recherches-ouvrages/ouvrages-et-articles/item/4257-titre-de-l-ouvrage (Anm. d. Übers.: Dieser Text stammt von Anfang des Jahres 2015. Wesentliche politische Entwicklungen der vergangenen drei Jahre wie insbesondere die Reformen des Arbeitsrechts unter den Präsidenten Hollande und Macron konnten daher nicht berücksichtigt werden. Wie diese - und der Widerstand gegen sie - sich auf die Entwicklung der Gewerkschaften in Frankreich auswirken, wird zu einem späteren Zeitpunkt zu betrachten sein. - Eine faktenreiche Beschreibung der Situation der Gewerkschaften in Frankreich auf den Seiten des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI): http://de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Laender/Frankreich )

IRES und Gewerkschaften CGT, CFDT, FO, CFTC, Unsa : IRES (»Institut de Recherches Economiques et Sociales«) ist ein gemeinsames gewerkschaftliches Forschungsinstitut in Frankreich, CGT, CFDT, FO, CFTC und Unsa sind französische Gewerkschaften.

 Quelle: Erstveröffentlicht auf Blickpunkt WiSo - www.blickpunkt-wiso.de - Information und kritische Analyse, Herausgeber: Patrick Schreiner, 33615 Braunschweig. >> 

Bild: dgb.de