Staat spart mit Hartz-IV-Sanktionen fast 2 Milliarden Euro – mit fatalen Folgen für die Betroffenen

In den vergangenen zehn Jahren haben Deutschlands Jobcenter mehr als zwei Milliarden Euro im Rahmen ihrer Sanktionspraxis einbehalten, die der Bund somit eingespart hat.

Allein im vergangenen Jahr wurden die Zahlungen um mehr als 178 Millionen Euro gekürzt. Rund 137.000 Menschen waren davon betroffen, das entspricht 3,1 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger.

Diese Daten beruhen auf eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit, die die Behörde auf Anfrage der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, DIE LINKE, Sabine Zimmermann, zusammengestellt hat.

Im Oktober 2015 lehnte der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungskoalition die Abschaffung von Sanktionen bei Hartz-IV-Bezug ab. Auch die Gewerkschaften konnten sich bisher nicht dazu durchringen, sich eindeutig gegen die Sanktionspraxis zu positionieren.

Dabei sind die Sanktionen im Rechtskreis Sozialgesetzbuch II (SGB II) weiterhin verfassungsrechtlich und ethisch äußerst umstritten. Auch das Sozialgericht Gotha hatte die Sanktionsregeln bei Hartz-IV als verfassungswidrig eingestuft und den Sachverhalt dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, dessen Entscheidung steht noch aus.

Die Jobcenter werden also auch weiterhin Sanktionen verhängen, wenn die Erwerbslosen gegen ihre Pflichten verstoßen, mit fatalen Folgen für die Betroffenen.

Sozialberatungsstellen berichten zunehmend von Menschen, die aufgrund der Sanktionen in Nöte geraten, die ihre Existenz bedrohen oder von jüngeren Ratsuchenden, die eine Zeit lang obdachlos und ganz unten angelangt waren. Wenn man sich deren Biografie genauer anschaut, sind viele von ihnen Opfer der Sanktionen, die von den Jobcentern auf der Grundlage des SGB II ausgesprochen wurden. Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können die zusammengerechneten Sanktionen bewirken, dass gar keine Auszahlung mehr erfolgt und diese Menschen über keinerlei Einkommen mehr verfügen.

Allein vergangenen Jahr wurden die Zahlungen um mehr als 178 Millionen Euro gekürzt. Rund 137.000 Menschen waren davon betroffen, das entspricht 3,1 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger.

Bei den unter 25-jährigen liegt der Anteil der „Sanktionierten“ bei 26 Prozent und hier wird die Frage der Legitimität der Strafmaßnahmen für diese Gruppe der Leistungsbezieher besonders deutlich. Bei den jungen Leuten will man verhindern, dass Arbeitslosigkeit besonders schwere Folgen für das weitere Erwerbsleben hat, die auch langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten führen können.

Die einzelnen Regelungen sehen vor, dass Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen möglich sind:

Zu den Pflichtverletzungen gehören beispielweise

  • Weigerung zur Erfüllung der Pflichten, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt wurden,
  • nicht genug Bewerbungen schreiben,
  • Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dürfen nicht abgelehnt werden,
  • Ablehnung, Abbruch oder Vereitelung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder geförderten Arbeit,
  • Ablehnung, Abbruch oder Veranlassung für den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Arbeitseingliederung.

Weitere Minderungstatbestände sind beispielsweise

  • Zielgerichtete Verarmung,
  • Forstsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens

und Sperrzeiten.

Für die unter 25-jährigen wird das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt, bei der ersten Wiederholung wird die Regelleistung ganz gestrichen. Nach Ermessen kann wieder für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, wenn der junge Mensch sich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen.

Sanktionen für ein Meldeversäumnis können ausgesprochen werden, wenn der Leistungsberechtigte einen Termin beim Jobcenter oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst ohne wichtigen Grund versäumt. Hier werden für drei Monate um zehn Prozent und bei weiterem Verstoß weitere zehn Prozent für weitere drei Monate einbehalten.

Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können auch die zusammengerechneten Sanktionen keine Auszahlung mehr bewirken. Auch wenn man die Meldung nachholt, führt das nicht zur Beendigung des Sanktionszeitraums. Die Meldeversäumnisse haben den größten Anteil mit 68 Prozent an den Sanktionen.

 

Mittlerweile wehren sich die Betroffenen gegen die menschenfeindlichen Sanktionen. Mehr und mehr Erwerbslose organisieren sich und gehen gegen die Sanktionen auf die Straße, wie die Initiative „AufRecht“ es tut. Sie machen darauf aufmerksam, dass vom „Fördern und Fordern“ nur noch das „Fordern” übriggeblieben ist, auch weil die Mittel für Eingliederungshilfen fast halbiert wurden.

Das Sozialgericht in Gotha ist der Meinung, dass einem Hartz-IV-Bezieher das Arbeitslosengeld nicht gekürzt werden darf, wenn er ein Arbeitsangebot abgelehnt hat und erklärt die bisherige Praxis als verfassungswidrig, weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antastet, sowie Leib und Leben gefährden kann. Das Gericht ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gleich gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen.

Das Gothaer Gericht ist bundesweit das erste Gericht, das die Frage aufwirft, ob auch neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Sanktionen ausgehebelt wird.

Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt. Die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.

Jetzt wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe darüber entscheiden müssen, ob die Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

 

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-4-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

Fallen Sanktionen weg, fallen auch die Strafen und die Legitimität von Hartz-IV weg. Auch deshalb gibt es für das Ende der Sanktionen im Bundestag derzeit keine Mehrheit.

 

 

 

Quellen: tacheles, Sozialgericht Gotha, BA

Bild: Wilfried Kahrs (WiKa) / QPress