Tarifbewegung Entlastung – aus der Tarifbewegung muss eine Streikbewegung werden!

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat mit der „Tarifbewegung Entlastung“ für die Beschäftigten nun die Möglichkeit des gemeinsamen Widerstands gestartet. Das wurde auch nötig, da  ver.di bisher auf die Einsichtsfähigkeit der politischen Parteien, eine gesetzliche Personalbemessung einzuführen setzte, ohne Erfolg. Um ein Gesetz können Gewerkschafter bei uns nur bitten, nicht aber streiken. Solange man auf die Politik setzte, waren den Pflegekräften die Hände für Arbeitskampfmaßnahmen gebunden.

Mit ihrem Kampf um mehr Personal haben die Kolleginnen und Kollegen der Berliner Charité vorgemacht, wie es gehen könnte. Mit einem „Bettenschließungsstreik“ haben die Beschäftigten dort dafür gesorgt, dass das Klinikum Stationen schließen musste und Betten nicht belegen konnte. Weil Krankenhäuser von den Kassen nur für behandelte Patienten bezahlt werden, kann so wirtschaftlicher Druck aufgebaut werden.

ver.di hat in den letzten Tagen sieben ausgewählte Krankenhäuser in privater und öffentlicher Trägerschaft zu Verhandlungen über einen Tarifvertrag Entlastung aufgefordert.

Die Aufforderungen von ver.di zu Tarifverhandlungen sind Teil einer bundesweiten Bewegung der Gewerkschaft für mehr Personal und Entlastung im Krankenhaus. Derzeit fehlen bundesweit 162.000 Stellen, 70.000 allein in der Pflege. Nacht für Nacht fehlen mindestens 19.500 Vollzeitstellen, um eine angemessene und sichere Versorgung zu gewährleisten. 64 Prozent der Pflegekräfte müssen nachts allein durchschnittlich 26 Patientinnen und Patienten pflegen und versorgen, auch in anderen Bereichen der Krankenhäuser ist die Belastung enorm. Die aus dem Personalmangel resultierenden Mängel in der Krankenhaushygiene führen jährlich zu etwa 500.000 Krankenhausinfektionen mit bis zu 15.000 vermeidbaren Todesfällen.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz (DSP) hat auf der Datengrundlage des Statistischen Bundesamtes das Ausmaß der Misere in ihrem Bericht deutlich gemacht. Die Zahl der Pflegekräfte in hiesigen Krankenhäusern ist seit Anfang der 90er Jahre leicht auf 325.000 zurückgegangen. Gleichzeitig müssen heute pro Jahr im Schnitt aber fast eine halbe Millionen Menschen mehr in Kliniken betreut werden als damals. Das entspricht einem Anstieg und damit einer Erhöhung der Belastung des Pflegepersonals um 34 Prozent. Dazu kommt, dass immer mehr Patienten hochbetagt und chronisch krank sind, jeder sechste im Krankenhaus Betreute ist über 80 Jahre alt.

Die Misere ist hausgemacht und das Ergebnis der jahrzehntelangen Umverteilung von öffentlichen Mittel und Sozialversicherungsgeldern in die Taschen von Privatpersonen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dem Wiederaufbau des Gesundheitswesens in der BRD nur auf das Nötigste beschränkt.

Der ambulante Bereich wurde privatwirtschaftlich mit den ärztlichen Einzelpraxen organisiert und die Krankenhäuser waren überwiegend in öffentlicher Trägerschaft. Die Pflegekräfte waren kaum ein großer Kostenfaktor, da sie aus den kirchlichen Schwesternorden generiert wurden.

In den Krankenhäusern in den ländlichen  Gebieten waren nachts in der Regel nur eine ausgebildete Pflegekraft pro Klinik tätig, häufig wurde auch in den Städten auf Hausfrauen und Studenten als Nachtdienste gesetzt. Um den Personalmangel abzufedern, wurden dann gezielt weibliche Arbeitskräfte aus Korea, Taiwan und Indien von der Arbeitsverwaltung angeworben. Bei den Ärzten konnte man leicht auf die gut ausgebildeten Ärzte aus den sozialistischen Ländern zurückgreifen.

Zu Beginn der 1970er Jahre konnten die Krankenhäuser von den kommunalen Trägern nicht mehr finanziert werden. Das 1. Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) sollte es 1972 richten, indem die Bundesländer dazu verpflichtet wurden, die Investitionskosten für alle Krankenhäuser zu übernehmen, die im Krankenhausbedarfsplan des Landes aufgenommen waren und die Krankenkassen mussten für die Betriebs- bzw. Behandlungskosten der Krankenhäuser nach dem Prinzip der Selbstkostendeckung aufkommen. Gewinne zu machen, war verboten.

Das brachte etwas Luft und auch die personellen Engpässe konnten kurzzeitig behoben werden.

Obwohl der Anteil des Gesundheitswesens, vor allem der Krankenhausausgaben, am Bruttosozialprodukt weitestgehend konstant blieb, wurde ein Kostendämpfungsgesetz nach dem anderen erlassen. Doch sollte die Stabilität der Krankenkassenbeiträge im Vordergrund stehen, ein Anliegen der Gewerkschaften, vor allem der IG Metall, das bei der Politik auf offene Ohren stieß.

1985 wurde dann im KHG das Verbot, in Krankenhäusern Gewinne zu machen, zunehmend gelockert, bis es mit Einführung der DRGs (deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen = Fallpauschalen) dann ganz wegfiel. Die DRGs als Festpreissystem beflügelte ein Denken und Verhalten in Markt- und Wettbewerbskategorien. Als Brandbeschleuniger diente der besondere Schutz und die Förderung von Privatkrankenhäusern, die Verpflichtung zur Übernahme von Investitionskosten durch die Bundesländer mit deren Steuergeldern, in Verbindung mit der Möglichkeit, Gewinne zu erwirtschaften. Parallel dazu bestand die Verpflichtung zur Beitragssatzstabilität nach wie vor und dieses Gemisch führte zu der explosionsartigen Entwicklung privatkapitalistischer Klinikkonzerne, die dann den ökonomischen Konkurrenzdruck gegenüber den öffentlichen Häusern dramatisch verschärfte.

So konnten Anfang der 1990er Jahre vor allem durch Personaleinsparung und besondere Angebote für zahlungskräftige Patienten und teurer Behandlungsmethoden die neuen Konzerne wie Sana, Helios, Asklepios und Rhön-Kliniken Gewinne in Höhe von 12 bis 15 Prozent pro Jahr erwirtschaften, was einer totalen Zweckentfremdung von Krankenkassengeldern bedeutete.

Hinzu kam, dass rund die Hälfte der staatlichen DDR-Krankenhäuser privatisiert bzw. von den Konzernen übernommen wurde.  Riesige Abschreibungsmöglichkeiten und Steuersenkungen der rot-grünen Regierung in der Größenordnung von fast 100 Milliarden Euro  gab es für die Großunternehmen unter dem Vorwand der Standortsicherung.

Wie heute alle wissen, hat dies zur selbstorganisierten Verarmung der öffentlichen Hand geführt.

2010, auf dem Höhepunkt der bundesdeutschen Überschuldung der öffentlichen Haushalte kam dann die Schuldenbremse, bei der die Kapitalseite sogar noch am Abtragen der Schulden verdiente. Dagegen wurden vor allem die Städte und Gemeinden in Beteiligungsgesellschaften, in öffentlich-private Partnerschaften getrieben. Die undurchsichtigen aber teuren Partnerschaften rechnen sich bis heute vorzüglich für die Privatwirtschaft, während die öffentlicher Güter wie Wasser, Verkehrsinfrastruktur, Abfallwirtschaft, und auch die öffentlichen Krankenhäuser buchstäblich verkommen.

Die Entwicklung im Krankenhausbereich in den vergangenen Jahrzehnten ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kosten nach und nach auf die Versicherten, Beschäftigten und Kranken selbst übertragen wurden und die öffentlichen Mittel bzw. die gezahlten Steuern der Bevölkerung, Beschäftigten und Kranken selbst, in die Taschen der Inverstoren geflossen sind.

Die folgenden Beispiele zeigen diese Entwicklung noch einmal auf:

  • Die Zuzahlungen zu Arzneimitteln, medizinischen Hilfsmitteln und Krankenhausaufenthalt haben inzwischen die 2-Milliarden-Grenze pro Jahr überschritten.
  • Der Beitragsanteil der sogenannten Arbeitgeber zu den Krankenkassen wurde auf 7,4 Prozent eingefroren, die Versicherten dagegen mit Zusatzbeiträgen belastet.
  • Der Bundesangestelltentarif (BAT) wurde durch den Absenkungstarifvertrag Tarifvertrag Öffentlicher Dienst (TVÖD) ersetzt.
  • Die Folgen für die Versorgung in den Krankenhäusern sind katastrophal. Seit Mitte der 1990er Jahre kommen die Bundesländer ihren Investitionsverpflichtungen immer weniger nach, 6 Milliarden Euro an Investitionskosten fehlen. Mit Einführung des DRG- bzw. Fallpauschalensystems 2004 wurden die Behandlungskosten nicht mehr ausreichend gedeckt, viele „Fälle“ waren in diesem System gar nicht abgebildet (Start mit ca. 450 Fällen, inzwischen sind es über 1.200).
  • Fast 50 Prozent der Krankenhäuser schreiben inzwischen rote Zahlen, ca. 500 der 2.400 bundesdeutschen Krankenhäuser wurden geschlossen, 35 Prozent den privaten Klinikkonzernen zugeschoben.
  • Gespart wird nicht nur durch Einkaufsverbund und Billigmaterial, gespart wird angesichts von ca. 70 Prozent Personalkosten vor allem am Personal.
  • Bau- und Instandhaltungskosten werden mit Krankenkassengeldern finanziert. Baustellen statt Personalstellen.
  • Nicht patientennahe Tätigkeitsbereiche werden dem Outsourcing ausgeliefert mit z.T. höherer Arbeitsbelastung, teils ohne Tariflohn und Zusatzversorgung.
  • Über 30.000 Stellen im Pflegedienst wurden seit 1996 gestrichen.
  • Die Verweildauer der Patienten in Krankenhäusern wurde bis auf durchschnittlich 7,4 Tage reduziert.
  • Die Anzahl der Patienten mit Krankenhausaufenthalt ist auf 19 Millionen Menschen gestiegen, trotz fehlendem Personal.
  • Die Arbeitsbelastung im Pflegedienst hat ca. um ein Drittel zugenommen.
  • Nach Erhebung der Gewerkschaft ver.di fehlen 162.000 Arbeitskräfte in den Krankenhäusern, davon inzwischen 70.000 im Pflegedienst.

Für die Patienten kann dies böse Folgen haben. So sind Medikamentenverwechslungen, Stürze mit Verletzungen und Harnwegsinfekte in den Krankenhäusern an der Tagesordnung.

Immer mehr Patienten kommen noch behandlungsbedürftig in die Reha. Der ärztliche Ermessensspielraum wird durch ökonomische Überlegungen überlagert, z.B. für einen Kaiserschnitt gibt es ca. 1.000 Euro mehr Vergütung als für eine normale Geburt. Inzwischen kommt ein Drittel der Kinder durch Kaiserschnitt zur Welt, obwohl laut Hebammenverband höchstens 10 Prozent gerechtfertigt wären. Ganze Landstriche haben keine Kreißsäle mehr. Patienten mit psychischen Erkrankungen bekommen, bedingt durch das Rabattsystem, nicht die erforderlichen passgenauen Medikationen. Der Krankenhausvirus ist fast zur Epidemie geworden…

Das Verhältnis von Pflegepersonal zur Anzahl Patienten, die von einer ausgebildeten Pflegekraft zu versorgen sind, liegt in Deutschland bei 1 zu 10, das Schlusslicht in Europa.

An dieser Stelle will ver.di und die Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern mit der „Tarifbewegung Entlastung“ ansetzen.

Aus der Tarifbewegung muss eine Streikbewegung werden!

Bei der Unterstützung werden wir alle gebraucht, wir, das sind das Pflegepersonal, Ärzte, Versicherte, Patienten und Angehörige . . .

 

 

 

Quelle: DSP, ver.di, junge welt, Monika Münch-Steinbuch, Nurse-to-Patient RatioRegulations der Hans-Böckler Stiftung
Bild: ver.di