Ursachen des „Fachkräftemangels“ sind systembedingt und hausgemacht (1) – Seit 55 Jahren wird eine verfehlte Berufsbildungspolitik betrieben

Wenn in den Unternehmen irgendetwas nicht rund läuft, wird sofort auf den vorgeblichen „Fachkräftemangel“ verwiesen, man zuckt mit den Schultern, meint damit, da „kann man nichts machen“, als wäre das Problem mit der geringen Zahl an Fachleuten wie ein Naturereignis vom Himmel gefallen.

Auch stimmt die Lobhudelei über das Duale Ausbildungssystem in Deutschland schon lange nicht mehr, mehr noch, dieses System scheint wohl völlig gescheitert zu sein. Die einzige Lösung wird in Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland gesehen, doch die Ursachen des Mangels an Fachkräften sind systembedingt und hausgemacht. Wer meint, dass die Unternehmen nun ihre Ausbildungsanstrengungen steigern und auch die Bundesagentur für Arbeit ihre Vermittlung junger Menschen in die Berufsausbildung hinterfragen würden, der ist auf dem Holzweg.

In Deutschland sind aktuell und offiziell 46 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie nie zuvor. Das entspricht einer Quote von 77 Prozent aller Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 35 Millionen von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, doch arbeitet die Hälfte der erwerbstätigen Frauen, meist unfreiwillig, in unterbezahlter Teilzeit oder Minijobs. Dagegen sind 3,5 Millionen Menschen erwerbslos bzw. unterbeschäftigt bei 750.000 gemeldeten offenen Stellen. Im vergangenen Jahr stieg die Arbeitsproduktivität gesamtwirtschaftlich um gut ein Prozent, im verarbeitenden Gewerbe um drei Prozent und in der Autoindustrie um mehr als fünf Prozent.

Während die Unternehmen lautstark einen Fachkräftemangel beklagen, bleiben 2,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne eine abgeschlossene Ausbildung zurück.

Laut Bundesinstitut für Berufsbildung gingen die Ausbildungsverträge 2024 um 0,5 Prozent gegenüber 2023 auf 486.700 zurück, gleichzeitig blieben aber fast 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. 2024 bildeten nur knapp 19 Prozent aller Betriebe aus.

Rund 250.000 Jugendliche begannen eine Maßnahme wie ein Betriebspraktikum, weil sie nach der Schule keinen Ausbildungsplatz fanden oder wichtige Voraussetzungen fehlten.

Deutschland hat die vierthöchste Quote an Schulabbrechern unter allen EU-Ländern.

Nach dem Ausbildungsreport 2024 der DGB-Jugend sieht es auch innerhalb der Berufsausbildungen recht düster aus: Ein Drittel aller Auszubildenden bricht eine Ausbildung vorzeitig ab. Als Gründe werden genannt: Kein Ausbildungsplan, ausbildungsfremde Tätigkeiten, keine Übernahmeperspektiven und Überstunden ohne Ausgleiche. Die Ausbildungsvergütungen schwanken sowohl regional wie nach Branchen erheblich von 710 Euro pro Monat im Frisörhandwerk in NRW bis zu 1.710 Euro im westdeutschen Bauhauptgewerbe. Wenn, wie z.B. im Frisörhandwerk solch geringe Löhne gezahlt werden, müssen sich diese Branchen nicht wundern, dass Jugendliche andere Bereiche suchen. Hier von Fachkräftemangel zu sprechen, ist unglaubwürdig.

Verfehlte Bildungspolitik

Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) von 1969 war ein Versuch zur teilweisen Vergesellschaftung der Berufsbildung. Damals hatte die sozialliberale Koalition – auch in Reaktion auf Lehrlingsproteste, investigative Presseartikel und kritische wissenschaftliche Studien – das Berufsbildungsgesetz und danach eine Reihe von Verordnungen (wie die Modernisierung der Ausbildungsordnungen oder die Ausbilder-Eignungsverordnung) erlassen. Ziel war eine Qualitätsanhebung der Ausbildung. Die Lehrlinge sollten von nun an nicht nur Auszubildende heißen, sondern auch sein.

Schon in den 1960er Jahren wurde ein Rückgang der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen befürchtet. Gegensteuern sollte eine überbetriebliche Finanzierung der Berufsausbildung, indem ein Ausbildungsfonds konzipiert wurde. Die organisierte Unternehmerschaft lehnte dies aber ab und versprach, dass es nicht zu einem Lehrstellenrückgang käme und die Politik verließ sich auf das Versprechen. Doch schon kurze Zeit später, wie vorausgesagt, kam es zu dem massiven Lehrstellrückgang.

Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976, das die Drohung einer Umlagefinanzierung der Berufsausbildung enthielt. Die gesetzliche Regelung sollte in den Jahren umgesetzt werden, in denen ein von der Bundesregierung erstellter Berufsbildungsbericht weniger als ein Überangebot von 112,5 pro 100 nachgefragten Ausbildungsplätzen feststellte. Das Gesetz ist 1980 durch eine Klage des Landes Bayern vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der fehlenden Zustimmung des Bundesrates zu Fall gebracht worden und der Ausbildungsplatzmangel wurde zu einer Dauereinrichtung in der Bundesrepublik.

Seit den 1980er Jahren bis in die 2000er Jahre wurde der Dauermangel mit den „geburtenstarken Jahrgängen“, später mit der mangelnden Ausbildungseignung der Jugendlichen begründet. Anschließend beließ man es bei einer hilflosen Appellpolitik an die Betriebe. Von einer Vergesellschaftung der Ausbildung sprach man nur noch selten, wie z.B. von der zaghaften Verlagerung von Teilen der Ausbildung in überbetriebliche Ausbildungsstätten, die Verlängerung des Berufsschulunterrichts oder von den Ausbildungsprämien.

Im Jahr 2023 gab es nur drei Prozent der gemeldeten Ausbildungsstellen als außerbetriebliche Angebote.

Der Ausbildungsmangel ist somit bis heute der ständige Begleiter junger Menschen.

Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wurde 2021 versprochen: „Mit den Ländern bauen wir die Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen flächendeckend aus. Wir wollen eine Ausbildungsgarantie, die allen Jugendlichen einen Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht, stets vorrangig im Betrieb. In Regionen mit erheblicher Unterversorgung an Ausbildungsplätzen initiieren wir bedarfsgerecht außerbetriebliche Ausbildungsangebote in enger Absprache mit den Sozialpartnern“.

Die von den Ampelparteien und der Bundesregierung beschlossene Ausbildungsgarantie ist aber an zahlreiche Bedingungen geknüpft, sodass man kaum noch von einer „Ausbildungsgarantie“ sprechen kann. Die Garantie soll sich keineswegs auf alle Jugendlichen erstrecken, sondern neben dem Nachweis „hinreichender Bewerbungsbemühungen“ nur für diejenigen gelten, die „in einer Region wohnen, in der die Arbeitsagenturen eine erhebliche Unterversorgung an Ausbildungsplätzen festgestellt haben“.

Die so definierte Unterversorgung liegt erst dann vor, wenn auf 100 gemeldete betriebliche Berufsausbildungsstellen mehr als 110 gemeldete Bewerber kommen. So eine Situation trifft nur auf 19 der insgesamt 150 Agenturbezirke zu, somit garantiert die Ausbildungsgarantie nur einem geringen Teil der bei der Ausbildungsplatzsuche leer ausgegangenen jungen Menschen einen Ausbildungsplatz.

Unter solchen Voraussetzungen wird sich am Ausbildungsmangel nichts Wesentliches ändern.

Erschwerend kommt hinzu, dass in den Ministerien, Behörden, Parteien und den Medien kaum noch Leute anzutreffen sind, die sich mit dem Ausbildungssystem und der praktischen Berufsausbildung auskennen. Sie glauben den Unternehmen einfach, dass sie Auszubildende „händeringend“ suchen.

 

 

 

 

 

 

Quellen: destatis, Ausbildungsmarktstatistik, Berufsbildungsreport, BA, BDA, Hans Boeckler Stiftung, WAZ, Junge Welt, TAZ, Makroskop, Berufsbildungsgesetz, Bundesinstitut für Berufsbildung, Berufsbildungsbericht 2023 der Bundesregierung, EU-Studie Berufsausbildung, DGB-Jugend

Bildbearbeitung: L.N.