Beendet diesen Krieg

Von Max Klein

Was ist das für ein Krieg? Er ist seinem Wesen nach eine lokale Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine, die beide vor 100 Jahren die eigentlichen Gründungsmitglieder der Sowjetunion waren, neben Belorussland und Ordshonikidses Transkaukasien. Es ist bisher kein Krieg Deutschlands und keiner der NATO mit Russland. Man wird daran erinnert, daß es eine fundamentale These gibt, wonach von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen darf.

Dieser Krieg hat eine Geschichte, die jetzt oft erzählt wurde, von der Gründung der Ukraine, der Hungersnot Anfang der 1930er Jahren in der Kornkammer der Welt, die Geschichte der Gulag-Verbrechen, des 2. Weltkriegs, der friedlichen Koexistenz im Kalten Krieg, des Zusammenbruchs der UdSSR, gefolgt von der Ausdehnung der NATO nach Osten, der Suche nach einer neuen Ordnung des Hauses Europa, dem wenig aufgeklärten Maidan-Ereignis, der Besetzung der Krim, des Krieges in der Ukraine gegen die Russland nahen Gebiete im Osten des Landes und schließlich der entsetzliche Angriff von Putins Armee auf die Ukraine, nun nahezu vor einem Jahr. Diese ganze Geschichte ist komplex und verstörend. Sie muss einbezogen werden, wenn man nun nach Lösungen sucht. Das ist kein Schwarz-Weiß-Konflikt, den man durch den Sieg über eine Seite im Stile der Kursker Panzerschlacht wird lösen können.

Dieser Krieg ist ein moderner Krieg. Das betrifft glücklicherweise (noch?) nicht so sehr die Waffen, sondern eine durch Medien laut verstärkte und bewußt betriebene, nach außen gerichtete Schlacht um die Deutungshoheit, mit dem offensichtlichen Versuch, das direkte Kriegsgeschehen zu beeinflussen und insbesondere Deutschland in diesen Krieg zu verwickeln, in der Hoffnung, diesen dann militärisch gewinnen zu können. Nach innen wurde auch früher gleichgeschaltet, in Deutschland im ersten wie im zweiten Weltkrieg. Putins Propaganda im Inneren nutzt die Erzählung von den zu befreienden Menschen in der Ukraine und verfolgt das strategische Ziel, die Kernsowjetunion ohne den Bolschewismus wieder entstehen zu lassen. Dieses Bild findet offenbar auch Zustimmung im eigenen Land. Selenskyj wehrt sich täglich mit oft überzogenen Darstellungen, denkt man an seine Rede in der Knesseth, wo er den Holocaust mit der Lage seines Landes verglich. Aus einem zu unterstützenden Aggressionsopfer macht er sich immer öfter zum Richter, insbesondere über die Bundesrepublik Deutschland, die doch, und zu Recht, eine herausragende solidarische Unterstützung gewährt. Hierzulande ist aus der „Schwerter-zu-Pflugscharen-Partei“ eine treibende Kraft hin zur Einbindung des eigenen Landes in eine eskalierende militärische Auseinandersetzung geworden.

Die Beurteilung der Propagandaschlacht um den Krieg Russlands gegen die Ukraine hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob dies ein Krieg Putins gegen (West)-Europa ist oder nicht. Wer ihn als einen Angriff auf Europa deutet, ist der Idee verbunden, mit aller möglichen Gewalt das Schlachtfeld zu gewinnen, in Kauf nehmend, dass die dann benutzten Waffen wenig übriglassen könnten von ganz Europa, und schon gar nicht von der Ukraine, die das erste, große Schlachtfeld wäre. Es ist unklar, warum die Möglichkeit dieser Perspektive nicht klarer gesehen wird. Ein Blick auf die Landkarte zwischen London und Wladiwostok würde helfen, das zu begreifen.

Die Panzerschlacht am Kursker Bogen 1943 war eine Schlacht von etwa zehntausend Panzern, begleitet von riesigem Artillerie-, Infanterie- und Luftwaffeneinsatz, mit etwa 100.000 Toten. Dem jetzt beschlossenen Einsatz von einigen zehn „Leoparden“ wird die Forderung nach noch mehr Panzern, mehr Artillerie, mehr Luftwaffe, mehr Infanterie sogleich nachfolgen, ganz abgesehen vom Ausbau einer Software- und Versorgungsinfrastruktur, da jeder „Leopard“ 60 Tonnen wiegt und einen 1200-l-Tank für knapp 300 km Reichweite hat, eine Verpestung auch der Natur, wenig verehrte Grüne, die ihr so laut seid und so gewiss tut.

So betrachtet, ist das wohl vor allem ein Test des Panzers (Stückpreis etwa 15 Millionen Euro) unter Gefechtsbedingungen, willkommen bei Rheinmetall als Information für dessen weitere Entwicklung, und doch ein Schritt immer tiefer in einen großen Krieg. Das Konzept jener, die diese Entscheidung befürworten, lautet „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen“, und ist also fortgesetzter Krieg, der wie ein schwarzes Loch alles verschlingen wird. Es nützt dann nichts zu wissen, dass Putin ihn begann. „Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich“, sang Wolf Biermann früher.

Wer diesen Krieg als eine ihrem Ursprung nach lokale Auseinandersetzung sieht, der wird anders denken, zurückhaltend reagieren, und muss zur Zeit in Kauf nehmen, wie Kanzler Scholz, übel bedrängt zu werden, heute verunglimpft als ein Zögerer, morgen vielleicht dargestellt als ein Verräter? Der Gedanke an Walter Rathenau liegt auf einmal nicht fern. „Eine widerliche Hexe“ nannte der Bandera verehrende Herr Melnyk dieser Tage Sahra Wagenknecht, die nichts anders tut als sich öffentlich sorgen. Die Fesseln der Zivilisation werden lose. Man unterschätze nicht die verheerende Kraft der Kriegspropaganda, die Rüstungsindustrie, ideologisches Sendungsbewusstsein, Unbildung und Opportunismus zusammen entfalten können. Dieser Kampf um die Deutungshoheit hat eine gänzlich andere, internationale Dimension und Wirkung als früher, und darum wird er auch so erbittert geführt. Man lese etwa den SPIEGEL, um das zu erkennen: große Aufmachungen zum Krieg, gegenwärtig täglich zu Panzern, und ganz klein einmal ein Kommentar wie der von Thomas Fischer vor einigen Tagen, der meinte, man solle „trotzdem zweimal überlegen bevor ausgerechnet deutsche Kampfpanzer an der Spitze der Guten gen Osten ziehen“.

Dieser Krieg bedroht in immer erheblicherem Maß die deutsche Gesellschaft, ihren Zusammenhalt, die Wirtschaft, die Kultur, die Wissenschaft. Als Reaktion auf den Überfall auf die Ukraine hat die deutsche Regierung als Teil einer EU-Politik, diese aber sehr wohl stark beeinflussend, Sanktionen beschlossen, um Russland zu ruinieren (Baerbock). Wie erwartet, jedenfalls von denen, die Russland kennen oder die wirklich auf die Landkarte schauen, kann man Russland so eher einen, aber nicht ruinieren, allenfalls sich selbst, bis hin zum gesellschaftlichen Bruch. Jene, die nun wirklich beschossen werden, müssen solche Betrachtungen kleinlich finden, aber sie sind trotzdem berechtigt, weil das ganze Haus Europa zusammenbrechen kann, wenn nicht endlich Friede herrscht.

Außenministerin Annalena Baerbock hatte neulich die geniale Idee, wie man diesen Krieg sofort beenden könne, nämlich durch den Abzug der russischen Armee. Das wäre gut, das Töten beendet. Es gab tatsächlich so eine Kriegslösung, als Deng Xiaoping im Jahre 1979, nach einem einmonatigen Krieg mit Vietnam, die Besetzung im Norden Vietnams aufgab und die Sache zum Sieg erklären ließ. Jedoch ist Putin leider nicht Deng. Zur Beendigung dieser in Russland so genannten „Spezialoperation“ bedarf es tatsächlicher diplomatischer, außenpolitischer Aktivität, mehr, als den anderen ruinieren zu wollen, mehr als Posen an der Front, mehr als lockere Sprüche wie den eben zitierten. Der deutsche Kanzler ist umgeben von unerfahrenen, aber auch zur Eskalation treibenden Politikern, und nur sein norddeutsches Gemüt und eine vielleicht noch verantwortlich verfaßte SPD mögen ihn davor bewahren, darin nicht ein- sondern damit umzugehen.

Dieser Krieg tötet ständig Leben in der Ukraine, vernichtet tausende russische junge Menschen und bedroht ganz Europa, Russland inklusive, in seiner Existenz. Das deutsche Volk hat noch immer die Wahl, was es einbringen will: seine Solidarität, seine Unterstützung der Ukraine, sein diplomatisches Gewicht, die Anerkennung und Erkenntnisse seiner fatalen und dann ermutigenden Geschichte oder ein ungebremstes Waffenarsenal, mit dem Deutschland schließlich Krieg gegen Russland führen würde, 80 Jahre nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad. Man mag emotional für große Waffenlieferungen sein, aber sie führen in den Abgrund.

Wie auch immer, es ist höchste Zeit, zur friedlichen Koexistenz zurückzufinden. Dieser Krieg kann nicht militärisch beendet werden, ohne daß die ganze europäische Zivilisation zerstört wird. Das Beharren auf Gefechten führt zur unvorstellbaren Eskalation auf beiden Seiten. Kursk war hundertmal größer als das, was gerade ausgetragen wird. Noch ist Zeit. Und doch, ein Jahr Krieg, das waren schon mehr als 300 Tage Tod, Zerstörung, Vertreibung, Verluste und Militarisierung des Denkens und Handelns. Es ist Zeit für die UNO, deren größter Erfolg ein Getreideabkommen war, wirklich einzugreifen, Zeit für Washington, das auch wußte, wie die Kubakrise beendet werden konnte, sich zurückzunehmen, Zeit für Deutschland, das die Beteiligung am Irakkrieg verweigerte, zu vermitteln, Zeit für China zu helfen, Zeit für die Ukraine, wieder zu leben und aufzubauen, Pflicht für Russland, die Waffen ruhen zu lassen. Die Pläne für Kompromisse gibt es seit März 2022. Jürgen Habermas wies schon im Mai darauf hin, dass es ohne Kompromisse nicht gehen würde. Politiker aller Länder, hört auf die Signale Eurer Völker, die ohne Frieden keine Zukunft haben.

Es gibt aus der Ansicht auch dieses Krieges keine Alternative zu „Frieden schaffen ohne Waffen“, dazu muss man leise und klug arbeiten. Im Blaettchen 10/2022 vom 9. Mai vorigen Jahres erinnerte Paul Bahlenger an das Russell-Einstein-Manifest, das schon 1955 feststellte: „Wir müssen lernen, auf neue Art zu denken. Wir sollten nicht mehr danach fragen, welche Mittel und Wege dem militärischen Siege der von uns bevorzugten Partei offen stehen. Solche Möglichkeiten gibt es nämlich gar nicht mehr. Erinnert Euch Eures Menschseins und vergeßt alles andere!“

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Der Autor ist der Erstunterzeichner des Aufrufes einer Gruppe internationaler Wissenschaftler an die Politiker der Welt, der sich gegen den Ersteinsatz von Nuklearwaffen und für einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine einsetzt.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft (das-blaettchen.de)  und wird mit freundlicher Genehmigung  der Redaktion hier gespiegelt.
Bildbearbeitung: L.N.