Den Fortschritt nutzen: Migrationsabwehr als angewandte Wissenschaft

Von Norbert Pütter

In der Forschungsförderung unterstützen Europäische Union und deutsche Bundesregierung die Abwehr unerwünschter Einwanderung: Die Entdeckung von unerlaubt Einreisenden oder Eingereisten soll verbessert, Grenzen sollen effektiver überwacht und Netzwerke der Grenzsicherungsbehörden sollen gestärkt werden. Die Forschungen legitimieren sich mit Lücken im Grenzschutz, deren Existenz sie zugleich aufdecken und schließen wollen. Sie versprechen, soziale Probleme mit den Mitteln fortgeschrittener Informations- und Naturwissenschaft zu lösen – mit negativen Wirkungen weit jenseits der Migrationsabwehr.

Öffentlich wenig bekannt ist, woran die Unternehmen der Informations-, Kommunikations- und Überwachungstechnologien in ihren Laboratorien und Forschungsabteilungen gegenwärtig arbeiten. Erkennbar ist nur jener Ausschnitt an Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, die über staatliche Förderprogramme unterstützt werden.

Der Blick auf diesen Ausschnitt erlaubt zwei Hinweise: Erstens kann er anzeigen, mit welchen Verfahren, welche Teilziele zur Umsetzung der politisch gewünschten Migrationsabwehr verfolgt werden sollen. Weil es hier um Forschungsvorhaben geht, handelt es sich regelmäßig um vollmundige Versprechen über die praktische Nützlichkeit des durch die Forschung Entwickelten; insofern ist deren tatsächliche Wirkung für die Zukunft ungewiss. Zweitens erlaubt die Forschungsförderung einen Blick auf den Zustand der Migrationsabwehr: Denn die Projekte verdanken ihre Förderung dem Umstand, dass sie in ihren Anträgen erfolgreich bestehende Überwachungs- und Kontrolldefizite behaupten, die sie zu schließen versprechen. Da die Abwehr unerwünschter Migration seit Jahrzehnten zum Kern europäischer Grenzpolitik gehört, wird in den Forschungsprojekten zugleich deutlich, welchen Umfang und welche Eingriffstiefe das Grenzkontrollparadigma mittlerweile erreicht hat.

Auch wenn es zahlreiche nationale und europäische Förderlinien gibt und auch wenn in Rechnung gestellt wird, dass Auftragsforschungen von Regierungen und Behörden damit nicht erfasst werden können, so erlaubt der Blick auf die großen Forschungsförderprogramme Hinweise auf Zustand und Zukunft der Migrationskontrolle mit technisch-wissenschaftlichen Mitteln.

Die entsprechenden Forschungen sind in Deutschland gebündelt im Rahmenprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“[1] (kurz: Sicherheitsforschung (SiFo)) der Bundesregierung;[2] auf Ebene der Europäischen Union (EU) finden sie unter dem Dach des Horizon-Rahmenprogramms statt.[3] Beide Programme funktionieren ähnlich: Für eine mehrjährige Zeitspanne werden allgemeine Förderschwerpunkte vorgegeben, die dann in spezifizierten Ausschreibungen bzw. Calls umgesetzt werden. SiFo besteht seit 2007 mit jeweils fünfjähriger Laufzeit, gegenwärtig läuft die dritte Förderperiode (2018-2023). Geförderte Projekte zur Migrationskontrolle finden sich nicht nur unter dem Aufruf „Fragen der Migration“, der dem Querschnittsthema „Gesellschaft“ zugeordnet ist, sondern auch in anderen Säulen des Programms. Horizon, mit siebenjähriger Laufzeit, setzt seit 2014 die „Forschungsrahmenprogramme“ der EU fort. In der aktuellen Förderperiode (2021-2027) wird die „zivile Sicherheit für die Gesellschaft“ als ein Feld der Forschung benannt. Unter den fast 130 Calls, die bislang unter diesem Titel veröffentlicht wurden, galten zehn dem „Effektiven Management an den Außengrenzen der EU“. Daneben finden sich migrationsrelevante Forschungen in anderen Horizon-Förderlinien.

Bei der Durchsicht der von diesen Programmen geförderten Vorhaben wurden im Folgenden nur jene laufenden oder in den vergangenen Jahren abgeschlossene Projekte berücksichtigt, die einen eindeutig technischen Fokus aufweisen und die Bezüge zur illega(lisiert)en Migration aufweisen. Das so entstehende Bild zeigt deshalb in zeitlicher und sachlicher Hinsicht nur einen Ausschnitt.[4] Es werden auch Vorhaben gefördert, die einen sozial- oder rechtswissenschaftlichen Fokus haben oder die Zusammenarbeit der beteiligten Behörden verbessern wollen. So finanziert die EU gegenwärtig das Projekt CRiTERIA[5] mit knapp 5 Mio. Euro. In dem bis 2024 laufenden Projekt soll „eine Methode zur Risikobewertung“ entwickelt werden, die mit „umfassenden Risikofaktoren“ arbeitet, indem „Erzählungen, Ereignissen und Einstellungen sowie der Anfälligkeit von Grenzen und Menschen“ Rechnung getragen wird. Im Projekt MEDEA (Mediterranean practitioners‘ network capacity building for effecitive response to emerging securiy challenges, dt.: Netzwerk der Praktiker*innen aus dem Mittelmeerraum zur Bildung effektiver Antworten auf wachsende Sicherheitsherausforderungen, Fördersumme 3,5 Mio. Euro) soll ein stabiles Behördennetzwerk aufgebaut werden, das u. a. jährlich eine Forschungs- und Innovationsagenda entwickeln und die gemeinsame Herstellung von Sicherheitstechnologien und Fähigkeiten durch Praktiker*innen und „Anbietern von Innovationen“ befördern soll. Hier sind die Grenzen zur repressiven migrationspolitischen Verwendung fließend.

Bezogen auf die auf Migrationsabwehr fokussierten Projekte lassen sich drei Zielrichtungen oder Kontrollorte feststellen: 1. Die Aufdeckung von illegal einreisenden Personen im Moment des versuchten Grenzübertritts. 2. Die großräumige Überwachung der Grenzlinie auf Land und See. 3. Die Kontrolle im Innern, um jene, die die Grenze unerlaubt überwunden haben, zurück- oder abschieben zu können.

DETEKTION

Wenn von der „Festung Europa“ die Rede war bzw. ist, dann war schon immer die Abwehr unerwünschter Menschen aus der EU gemeint und keineswegs die Verhinderung des Warenverkehrs. Denn der (auch Außen‑)Grenzen überschreitende Handel gilt als Garant von Wohlstand und Fortschritt im Innern. Die Logik, Grenzen für Waren durchlässig und zugleich für unerwünschte Einwanderer*innen undurchdringlich zu machen, liegt allen Anstrengungen zugrunde, mit den Waren versteckt Einreisende aufzuspüren. Namentlich geht es bei diesem Aufdecken (Detektion) um die Verstecke in Containern, Kühltransportern oder anderen verschlossenen Behältnissen. Angesichts des Umfangs des internationalen Warenverkehrs ist es praktisch unmöglich und kontrollstrategisch illusorisch, alle infrage kommenden Lieferungen nach versteckten Personen zu durchsuchen. Den Ausweg aus diesem Dilemma bieten die Verfahren der „non-intrusive inspection“ (nicht eindringende Untersuchung), deren Optimierung verschiedene Forschungsvorhaben dienten.

Im deutschen Förderkontext gehört das Projekt STRATUM in diese Rubrik. In der „Analyse über rechtliche, gesellschaftliche und technische Aspekte und Maßnahmen zur Aufdeckung illegaler Migration und Bekämpfung der Schleusungskriminalität“, so der offizielle Titel, sollten „u. a. Wärmebild- sowie Terahertzkameras zum Einsatz kommen und auf ihre Eignung untersucht werden, im fließenden Straßenverkehr Fahrzeuge auf versteckte Personen zu detektieren“. Das Projekt, Laufzeit von 2019 bis 2022, wurde mit 1,9 Mio. Euro gefördert; das Konsortium bestand aus vier Hochschulen und zwei Fraunhofer-Instituten, die Bundespolizei und das Polizeipräsidium Ludwigsburg waren als „assoziierte Partner“ dabei.[6]

Auf EU-Ebene war das größte in diesem Bereich geförderte Projekt C-BORD.  Mit einer Laufzeit von 2015 bis 2018 wurde das Vorhaben mit dem Titel „effective Container inspection at BORDer control points“ mit über 11,8 Mio. Euro gefördert. Unter Leitung des französischen Forschungszentrums für Kernenergie waren weitere 17 Einrichtungen beteiligt. Obwohl auch illegale Einwanderung als ein relevantes Problem benannt wird, war das Programm auf die Detektion von Sprengstoffen, gefährlichen Substanzen und illegalen Drogen ausgerichtet. Durch die Kombination fünf unterschiedlicher Detektionsinstrumente sollte das Aufspüren effektiver und effizienter gestaltet werden: Röntgenaufnahmen, radiologische Untersuchungsmethoden, Geruchsspuren und Einsatz verschiedener Sensoren. Menschen werden durch diese Verfahren eher zufällig entdeckt.

Hier setzt das Projekt TRACK an. Einsatzfähig gemacht werden soll ein „Tragbares duales GC-IMS mit Multielement-Sensorsystem zur schnellen und zuverlässigen Detektion versteckter Personen und Waren“ (so der offizielle Titel). Das deutsch-österreichische Kooperationsprojekt wurde in den Jahren 2020-2022 mit 620.000 Euro aus SiFo-Mitteln gefördert. Unter Koordination der Airsense Analytics GmbH waren zwei Universitäten (Hannover, Innsbruck), zwei weitere private Firmen, Johanniter aus beiden Ländern, das österreichische Innenministerium sowie als „assoziierte Partner“ die Generalzolldirektion und die Bundespolizei beteiligt. Im Projekt sollte ein „tragbares Messsystem“ erforscht werden, „das in der Luft kleinste Konzentrationen charakteristischer Merkmale von menschlichen Ausdünstungen wie Atemluft oder Schweiß detektieren“ kann. Durch das Ansaugen der Luft über die Dichtungen von Lastwagen oder Containern soll deren Untersuchung im geschlossenen Zustand möglich sein.

GRENZÜBERWACHUNG

Der Kern der Migrationsabwehr besteht in der Sicherung der Land- und Seegrenzen. Mit knapp 5 Mio. Euro fördert die EU das Projekt NESTOR (aN Enhanced pre-fontier intelligence picture to Safeguard The EurOpean boRders, offzieller deutscher Titel „Ganzheitliches Überwachungssystem der EU-Grenzen“). Koordiniert von der griechischen Polizei sind neben einigen Innenministerien vor allem private IT-Firmen unter den Projektbeteiligten vertreten. Das Projekt verspricht „ein voll funktionsfähiges, umfassendes Grenzüberwachungssystem der nächsten Generation“, das „auch über See- und Landgrenzen hinaus eine Lageerkennung im Grenzvorbereich ermöglicht“. Aufgedeckt werden sollen die „von kriminellen Netzwerken genutzten Routen“, die wegen „geografische(r) Herausforderungen“ gegenwärtig noch unerkannt bleiben.

Wie ein solches System aussehen kann, zeigt das bereits abgeschlossene Projekt FOLDOUT (Through-foliage detection, including in the outermost regions of the EU, dt.: Aufdeckung unter Laub(bäumen), auch in den äußersten Regionen der EU). Mit 8,2 Mio. Euro wurde das Projekt gefördert, in dem 21 privatwirtschaftliche Sicherheitsanbieter und -institute zusammenarbeiteten. FOLDOUT versprach nicht nur effektivere und weniger aufwändige Kontrollen in schwer kontrollierbaren Grenzregionen, sondern auch „Leben zu retten“. Entwickelt werden sollte ein System, das verschiedenen Daten erhebt und zu einer „Aufdeckungs-Plattform“ zusammenfügt. Die über verschiedene Sensoren gewonnenen Informationen sollen mit Daten über die Verkehrsentwicklung oder Ereignisse jenseits des unmittelbaren Grenzbereichs zusammengeführt werden, um auf dieser Grundlage eine Bewertung drohender Gefahren und Szenarien für mögliche Reaktionen zu entwickeln.

In den Ergebnisdokumenten findet sich eine Abbildung, die die durch FOLDOUT angestrebte Überwachungsstruktur zeigt. Sie beginnt mit der Satelliten-Überwachung oberhalb der 20 km-Entfernung von der Erdoberfläche, die stundengenaue Angaben liefern, bis zu einer Höhe von 20 km soll eine Echtzeit-Überwachung durch Luftschiffe („Stratobus“) ermöglicht werden. Die aus diesen Höhen erfolgende permanente Datensammlung soll ergänzt werden durch anlassbezogene Überwachungsflüge mit Drohnen oder Hubschraubern. Schließlich wird im Grenzgebiet eine Reihe von Sensoren installiert: thermische (Temperaturen), seismische (Erderschütterungen), hyperspektrale (elektromagnetische Wellen), elektrooptische (Vergrößerung des Sichtbaren), auch der Einsatz von Lasern und die Analyse von Radio-Frequenzen ist vorgesehen. Projektiert wird ein umfassendes Überwachungssystem, das vom Weltraum bis zur lokalen Identifizierung einzelner Lebensäußerungen reicht.

SEEGRENZEN

Besonderes Augenmerk gilt der Überwachung der Seegrenzen. Mit 5,1 Mio. Euro förderte Horizon in den Jahre 2016 bis 2018 das Projekt SafeShore (System for detection of Threat Agents in Maritime Border Environment, dt.: System zur Aufdeckung von Gefahren an den Seegrenzen). Koordiniert von der belgischen Militärschule waren Hersteller von Sicherheitstechnik aus Bulgarien, Rumänien, Tschechien und Israel beteiligt. Die neuen Gefahren werden in kleinen Wasserfahrzeugen und Drohnen gesehen, die von „Menschenhändlern … Terroristen oder Drogenhändlern“ genutzt würden. Weil diese Objekte für die herkömmliche Radarüberwachung zu klein seien, entwickelte SafeShore ein Detektionssystem, das die lichtgestützte Objekterkennung mit Abstandsmessung (LiDAR) mit akustischen Sensoren, Funkerfassung sowie visueller und thermischer Videoauswertung kombiniert. Durch die Koppelung von Stationen, die jeweils nur einen begrenzten Raum abdecken, soll die Überwachung entlang größerer Küstenlinien möglich werden. Die Prototypen wurden in der Nordsee, im Schwarzen und im Mittelmeer erfolgreich getestet.

Von 2017 bis 2020 förderte Horizon das Projekt MARISA (Maritime Integrated Surveillance Awareness, dt.: Integrierte Meeres-Überwachung) mit knapp 8 Mio. Euro. Dass das Meer einen Raum vielfältiger Gefahren darstelle, ist der Ausgangspunkt des Projekts: illegale Migration, Menschenhandel, Terrorismus, Piraterie, Waffen- und Drogenschmuggel. Die vielen Daten und Erkenntnisse, die bei den zuständigen Behörden im Kampf gegen diese Gefahren anfallen, sollen durch MARISA verknüpft und zugänglich gemacht werden: All jene Behörden, die mit der Sicherheit auf See befasst sind, sollen mit einem Werkzeug („data fusion toolkit“) ausgestattet werden, das „unterschiedliche Methoden, Techniken und Module in Beziehung setzt zu verschiedenen heterogenen und homogenen Daten und Informationen aus zahlreichen Quellen, einschließlich Internet und Sozialen Netzwerken, mit dem Ziel, den Informationsaustausch, die Aufmerksamkeit, Entscheidungsprozesse und Reaktionsfähigkeiten zu verbessern“. Unter den 21 beteiligten Einrichtungen waren nicht nur private Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten und Forschungseinrichtungen (aus Deutschland das Fraunhofer-Institut aus München), sondern auch die Verteidigungsminis­terien Spaniens, Italiens und Portugals. Beteiligt waren zudem die Forschungsorganisation der NATO sowie Rüstungsfirmen aus Spanien (GMV Aerospace and Defense) und Frankreich (Airbus Defense and Space). In fünf Regionen (Nordsee, Mittelmeer) wurde das System erprobt.

Die Ergebnisse von MARISA sind ausführlich dokumentiert – allein 47 begleitende Teil- und Zwischenberichte sowie 31 Veröffentlichungen. Das Projekt, so dessen Koordinator, werde „die Früherkennung von irregulärer Einwanderung und Menschenhandel verbessern und eine rasche Reaktion durch eine Zusammenarbeit zwischen Behörden, Ämtern und Frontex … bei Such- und Rettungsmissionen möglich machen“. Aufschlussreich sind auch die erhofften Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems. Demnach sollen künftig weitere Datenquellen eingebunden werden: Satellitenüberwachung, die Globale Ereignisdatenbank, Systeme der allgemeinen Schifffahrtsüberwachung etc.

IDENTITÄTSPRÜFUNGEN AN DER GRENZE UND IM INLAND

Neben der versteckten Einreise kann illegale Einwanderung auch durch die Nutzung gefälschter Identitätsdokumente erfolgen. Es liegt deshalb nahe, dass Anstrengungen unternommen werden, um gefälschte Dokumente bei der Einreise als solche zu erkennen. Zwischen 2018 und 2020 flossen knapp 2,1 Mio. Euro an Horizon-Mittel in das Projekt Smart-Trust (Secure Mobile ID for Trusted Smart Borders, dt.: Sichere mobile Identifizierung für vertrauenswürdige intelligente Grenzen). Die „Mobile ID“-Software ermöglicht die Prüfung digitaler Ausweisdokumente durch die Verbindung mit biometrischen Verfahren. „Unter Verwendung von Mobilgeräten“ soll das System „Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen eine vollständige papier- und kontaktlose Identifizierung bei der Abfertigung“ an Grenzen ermöglichen. Damit stellt das System einen Baustein für die vollständige Ein- und Ausreisekontrolle (auch) von EU-Bürger*innen dar; zugleich ist es ein Mittel unberechtigte Einreiseversuche aufzudecken.

Eine fast schon klassische Linie verfolgte das SiFo-Projekt Smart­­Identification (Smartphone-basierte Analyse von Migrationstrends zur Identifikation von Schleuserrouten).[7] Von 2018 bis 2020 mit 950.000 Euro gefördert, koordiniert von der Technischen Universität in Aachen (als Projektpartner neben anderen das Bundespolizeipräsidium und als assoziierter Partner SAP Deutschland SE & Co. KG) zielte dieses deutsch-österreichische Kooperationsvorhaben auf verschiedene Zwecke: Anhand der Auswertung ihrer Smartphones und anderer mitgeführter Dokumente sollten die Angaben von Migrant*innen ohne Identitätsdokumente überprüft werden, auf dem Smartphone befindliche Bilder für die Altersbestimmung genutzt und zugleich mithilfe der Positionsdaten „Schleuserrouten“ identifiziert und „alternative Kommunikationsplattformen zur Entdeckung der Schleuser analysiert werden“.

Der leichteren Aufdeckung gefälschter Identitätsdokumente im Inland dient das SiFo-Projekt MEDIAN (Mobile berührungslose Identitätsprüfung im Anwendungsfeld Migration). Das Vorhaben wurde in den Jahren 2018 bis 2021 mit 2,7 Mio. Euro gefördert. Koordiniert von der Bundesdruckerei waren zwei Hochschulen und zwei private IT-Firmen direkt, die Landeskriminalämter Bayerns und Berlins als assoziierte Partner beteiligt. Im Rahmen von MEDIAN sollte eine technische Lösung entwickelt werden für die „schnelle und berührungslose Erfassung sowie einen automatisierten Abgleich von Fingerabdrücken und Gesichtsbildern“. Die erhobenen Daten sollten „mit polizeilichen Hintergrundsystemen“ abgeglichen werden.

Die Prüfung der Identität von Migrant*innen, die ohne Berechtigung nach Deutschland eingereist sind, ist für deren Rechtsstatus und den Umgang der Behörden mit ihnen von Bedeutung. Denn sie umfasst nicht allein die Echtheit mitgeführter Dokumente und ob diese die überprüfte Person ausweisen, sondern sie erstreckt sich auch auf die Bestimmung des Herkunftslandes und des Alters. Das SiFo-Projekt AUDEO (Audiobasierte Herkunftslanderkennung von Migranten) zielte darauf, die Herkunft von Menschen, die sich im Asylverfahren befinden, zu klären. Im Asylverfahren ist das Herkunftsland besonders wichtig: Von ihm hängt ab, ob das Asylverfahren überhaupt eröffnet wird, welche Chancen auf Anerkennung bestehen, welche Rechte während der Dauer des Verfahrens gewährt werden, ob subsidiärer Schutz möglich ist oder Abschiebehindernisse bestehen. AUDEO wollte die Herkunft durch eine „software-basierte Sprach- und Dialektanalyse“ bestimmen, die mit einer „stimmlichen Emotionserkennung“ gekoppelt wird. Anhand von „Mikrotremor, Verzögerungen und stimmlichen Anomalien“ sollten Täuschungsversuche erkannt werden. Versprochen wurde eine über 90-prozentige und justiziable Erfolgsquote. An dem vom Bundespolizeipräsidium koordinierten, von 2019 bis 2021 mit 932.000 Euro geförderten Projekt, waren neben einer privaten Hochschule, Ausländerbehörden aus Bayern und Berlin sowie Sony Mobile Communication beteiligt.

Mit nur 173.000 Euro fördert Horizon das Projekt UMAFAE (Unaccompanied Minors Automatic Forensic Age Estimation, offizieller deutscher Titel: Bestimmung des biologischen Alters von Minderjährigen durch künstliche Intelligenz). Das Projekt läuft noch bis Februar 2024; es wird von einer spanischen IT-Firma betrieben. Die Altersfeststellung von Menschen ohne Ausweisdokumente ist aus verschiedenen Gründen von Bedeutung: In Art. 24 der Aufnahmerichtlinie der EU werden besondere Schutzbestimmungen für Minderjährige festgeschrieben, die Abschiebung Minderjähriger ist erschwert; für Deutschland bestimmt die Volljährigkeit darüber, ob das Asyl- oder das Kinder- und Jugendhilferecht angewendet werden. UMAFAE möchte die Praxis der Altersfeststellung in den Mitgliedstaaten vereinheitlichen, indem mit den Mitteln Künstlicher Intelligenz ein einheitliches Verfahren etabliert wird.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Die vorgestellten Projekte im Feld der Forschungsförderung lassen sich durch vier Merkmale charakterisieren:

  1. Weil sich mit Migrationsabwehr Geld verdienen lässt, entsteht ein kooperatives Geflecht aus privatwirtschaftlichen Anbietern, öffentlichen oder privaten Forschungseinrichtungen und den Behörden, die an technologischen Lösungen ihrer Aufgaben interessiert sind.
  2. Migrationsabwehr wird als ein technisch zu lösendes Problem konzipiert. Dabei wird einerseits daran gearbeitet, stabile, vereinheitlichte oder zumindest kompatible Standards und Verfahren zu entwickeln. Andererseits werden technologische Verfahren so kombiniert, dass sie jederzeit und überall vorher definierte Auffälligkeiten entdecken können. Hightech wird eingesetzt, um die Unüberwindbarkeit der Grenzen zu erhöhen – sei es als Ersatz für Zäune und Mauern, sofern diese aus topografischen Gründen nicht möglich oder aus politischen Gründen nicht opportun erscheinen, oder sei es als technologische Verstärkung der physischen Barrieren.
  3. Mit dem technischen Fokus ist quasi automatisch verbunden, dass die Forschungen die Abschottungslogik als unhinterfragte Basis ihres Tuns (und Geldverdienens) bekräftigen und die Migrant*innen als zu polizierende Objekte behandeln. Auch der Bezug auf „Schleuser“ oder auf die Rettung von Menschenleben kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die rigide Abschottung erst zu jenen Fluchtrouten und -verhalten führt, die mit aufgerüsteter Technik verhindert werden sollen.
  4. Schließlich wird in einigen Projekten (FOLDOUT, MARISA) deutlich, dass sie weit über die Migrationskontrolle ausstrahlen. Kurz: Sie bergen das Potenzial zu einer totalitären Überwachung der gesamten Gesellschaft. Was erfolgreich getestet wird, um Flüchtende in unzugänglichen Grenzregionen zu entdecken, das wird auch tauglich sein, Demonstrierende zu beobachten oder Einzelpersonen im städtischen Raum zu lokalisieren. Die Forschung(sförderung) verstärkt nicht nur die Ignoranz gegenüber dem Leiden der Flüchtenden, sondern sie schafft zugleich Instrumente, die die gesamte Gesellschaft technologisch gestützter Kontrolle unterwerfen.

 

Anmerkungen:

[1]   Die durch das Rahmenprogramm geförderten Projekte sind in der SiFo-Datenbank erfasst, s. www.sifo.de/SiteGlobals/Forms/sifo/projektsuche/projektsuche_formular.html. Alle Angaben zu den Projekten beziehen sich auf die hier hinterlegten Informationen.

[2]   s. Töpfer, E.: Entwicklungsauftrag „Zivile Sicherheit“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 94 (H. 3/2009), S. 21-27. Ich danke Eric Töpfer für seine hilfreichen Hinweise zu diesem Beitrag.

[3]   Als Nachfolger von „Horizon 2020“ läuft das Programm ggw. unter dem Titel „Horizon Europe“. Die von der EU geförderten Projekte sind in der CORDIS-Datenbank verzeichnet: https://cordis.europa.eu/projects/de. Alle Angaben zu den Projekten beziehen sich auf die hier hinterlegten Informationen.

[4]   s. zur EU-Förderung: Hayes, B.: In den Fußstapfen von Uncle Sam, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 94 (H. 3, 2009), S. 14-20; Die großen Brüder von INDECT, www.telepolis.de v. 28.11.2011; Jones, C.: Europäische Sicherheitsforschung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 115 (April 2018), S. 59-66; Andres, J.: Migration und Militarisierung, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 128 (März 2022), S. 48-55

[5]    Üblich ist, die Projekte durch Akronyme zu kennzeichnen. Gerne wird versucht, das durch die Abkürzung ein bekanntes Wort entsteht, zumindest soll sie lesbar sein. CRiTERIA wurde gebildet aus dem offiziellen Projekttitel „Comprehensive data-driven Risk and Threat Assessment Methods for the Early and Reliable Identification, Validation and Analysis of migration-related risks“, offizielle deutscher Titel „Grenzüberschreitende, verbesserte Risikobewertungen“.

[6]    Zu den mit dieser Art von Detektion verbundenen rechtlichen Problemen s. den Beitrag von Clemens Arzt in diesem Heft.

[7]   S. a. den Beitrag von Lucie Audibert in diesem Heft.

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.cilip.de/ Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V.
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