Der progressive Alltag – linksalternatives Leben in den siebziger Jahren

Im Laufe der 1970er Jahre entstand in der Bundesrepublik, wie in vielen anderen Ländern, ein von jungen Menschen getragenes alternatives Milieu.

Anders als noch bei der 1968er Generation, bei der der Kampf gegen die repressiven Institutionen noch im Vordergrund stand, ging es nun um die Gründung von neuen, lebenswerten und auf Dauer angelegten Institutionen, die sich an den vitalen Lebensbedürfnissen und der konkreten Lebenssituation der jungen Menschen orientierten. Vieles was die autoritäre Nachkriegsgesellschaft ausmachte, wurde nicht mehr hingenommen. Es war nicht die Mehrheit der jungen Menschen, die diesen Aufbruch wagte, aber es waren so viele, dass man sie nicht totschweigen oder ignorieren konnte. Mehr noch, der Staat fühlte sich herausgefordert und reagiert mit massiven Einschüchterungen.

Auch um den modernen Entfremdungserfahrungen etwas entgegen zu setzen, strebte diese Szene von Gleichgesinnten nach Idealen wie Selbstverwirklichung, Solidarität, Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit. Sie verfolgte das Ziel, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Überall, vor allem in den größeren Städten, war die Rede vom eigenen Projekt, bei dem in der Praxis auf der Grundlage von kollektivem Eigentum, Selbstbestimmung und Überschaubarkeit ganz neue basisdemokratische Formen des Arbeitens und Lebens ausprobiert werden konnten. Dabei wurde nicht mehr zwischen Arbeit, Freizeit, politischem Engagement und Privatleben in den Wohngemeinschaften, Cafés, Buchhandlungen oder Frauenzentren ebenso wenig unterschieden, wie zwischen Hand- und Kopfarbeit.

Aus dem linksalternativen Milieu entstanden ganz neue Formen des radikalen Einspruchs, die dann oft selbst Institutionen wurden, wie die Tageszeitung (taz), die Partei der Grünen, das Netzwerk Selbsthilfe, die Antiatombewegung und die wissenschaftliche Gegenöffentlichkeit wie das Öko-Institut in Freiburg.

In Folge der Proteste der Studenten hatten sich Anfang der 1970er Jahre vier politische Strömungen herausgebildet.

Es gab

  • die kommunistischen Gruppierungen, die sogenannten K-Gruppen,
  • die terroristische Szene mit der Hauptorganisation der RAF, 2. Juni und Revolutionäre Zellen
  • gewerkschaftsnahe und der SPD assoziierte Gruppierungen wie JUSOS, Sozialistischer Hochschulbund und die Jugendorganisation die Falken

und

ein eng mit den Teilen der Neuen Sozialen Bewegungen verbundenes linksalternatives Milieu, das gegen Ende der siebziger Jahre zwischen 300.000 und 600.000 Aktivisten umfasste. Dazu kamen noch die Sympathisanten, so dass die gesamte Szene auf rund 5,6 Millionen Personen geschätzt werden kann.

Die Abgrenzungen waren nicht immer eng gefasst, eine Mitarbeit in mehreren Gruppierungen war möglich, der Wechsel von einer zur anderen ebenfalls. Das linksalternative Milieu sah sich selbst als politisch undogmatische Alternative zu der klassischen sozialdemokratischen Parteipolitik, zu den terroristischen Aktivitäten und zu den festgefügten kommunistischen Kadergruppen.

Organisatorisch war dieses Milieu ohne feste Strukturen, ganz bewusst antiinstitutionell, gegen Partei und Staat eingestellt und basisdemokratisch aufgebaut. Zusammen gehalten und gelebt wurde diese Szene durch Versammlungen und Demos, personale Netzwerke, Bewegungszeitschriften, regelmäßige Treffen, Kongressen und Plenen. Vor Ort in den Städten gab es eine komplette lokale Infrastruktur von Kollektivprojekten, Kneipen, Wohngemeinschaften und Selbstorganisations- bzw. Selbsthilfegruppen.

Eine wichtige Klammer war die alternative Presse mit ihren kritischen Blättern, die auch mithalfen, dass sich soziale Praktiken und kulturelle Richtungen schnell verbreiteten und sich ein bestimmter Lebensstil entwickeln und ausbreiten konnte.

Die jungen Menschen empfanden sich als gemeinsamen soziokulturellen Raum, der sich von den älteren Menschen klar abgrenzte. Es gab verschiedene Untergruppen und Gruppenstile und trotz aller Buntheit eine von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzte Subkultur. Die politische Grundlage bildete das gemeinsame Protestpotential der Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegung, mit dem Bekenntnis zum Pazifismus, Umweltschutz und die Ablehnung der Atomenergie. Allen gemeinsam war auch das Muster der Lebensführung, der Wohn- und Arbeitsformen, der Erziehungsmethoden und Fragen der Geschlechterverhältnisse, Familienmodelle, Körpersprache, Kleidungsstil, Konsummuster, Erkenntnis und Bewusstseinsmodelle, Öffentlichkeitsvorstellungen und der Gebrauch von eigenen Ritualen und Symbolen.

Es wurde eine funktionierende Infrastruktur von Institutionen und Medien (Projektarbeiten, politische Treffen, Wohngemeinschaften und Kleidungsstile, linke Kneipen und Kulturinstitutionen, Zeitungen und Bücher) aufgebaut, die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung und Identitätsfindung anbot. An diesen Orten gab man seine politischen Bekenntnisse ab, entwickelte Verhaltens- und Redeweisen, bis hin zur besonderen Mimik und Gestik und studierte seinen linken Habitus ein.

Betroffenheit, Vergemeinschaftung, Authentizität und Selbstorganisation wurden zu den zentralen Begriffen.

Die neuen Begriffe wie „Betroffenheit“ und eine „Politik in der ersten Person“, die für einen aktiven Prozess der Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung standen und sollte auch die intimen Bereiche des Lebens politisieren. „Vergemeinschaftung“ wurde mit solidarischen und basisdemokratischen Verkehrsformen gelebt, wobei Gefühl, Intuition und Emotion einerseits, Provokation und Humor andererseits das Selbstbild und die öffentliche Kommunikation bestimmten. Die „neue Unmittelbarkeit“ meinte Spontaneität und die Vorstellungen vom ganzheitlichen und naturverbundenen Leben. Selbsterfahrungsformen und Selbstverwirklichungsgruppen gaben die Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken und sich seiner kreativ gewählten Identität zu versichern und diese weiter zu entwickeln.

Besonders wichtig war Authentizität und sehr großer Wert wurde darauf gelegt, dass das persönliche Handeln einer Person nicht durch äußere Einflüsse bestimmt wurde, sondern in der Person selbst begründet liegt. Man wollte sich nicht durch Gruppenzwang und Manipulation verbiegen lassen. Der Authentizitätsverweis fungierte in der linksalternativen Szene als Identitätsmarker und Selbstführungstechnik der Subjekte. Etwas als authentisch zu bezeichnen und von sich zu behaupten, man verhalte sich authentisch, wies die im Milieu gültigen und legitimen Verhaltensmuster aus. Es gab nicht nur das Recht, selbst verwirklicht zu leben, sondern auch die Pflicht, über sich Rechenschaft abzulegen und die Selbsterkenntnisse anderen mitzuteilen.

Zum Bekenntnis für ein alternatives Leben gehörte auch, das man manchmal schon peinlich direkt eigene persönlicher Mängel enthüllte und zur Diskussion stellte. Es entstand so etwas wie eine frei gewählte Selbstthematisierungskultur, in der in Selbsterfahrungsgruppen, gruppendynamischen Zirkeln mit pseudofreudianischen Analysetechniken und einer Portion Esoterik experimentiert wurde.

Die Kultur der Selbstthematik brachte aber nicht nur Freiheit mit sich, sondern auch eine zwanghafte Selbstverpflichtung sich selbst gegenüber und gegenüber den anderen. Nach außen zeigte sich dies alles in einem typischen linksalternativen Lebensstil, mit seinen eigenen Kommunikationsformen, Verhaltensweisen, Kleidungsstilen und sozialen Beziehungen.

Die Selbstorganisation war ein weiterer wichtiger Begriff, der, wenn er mit Leben gefüllt wurde auch konkrete Auswirkungen hatte. Mit Selbstorganisation meinte man, die eigenen Angelegenheiten gemeinsam und gleichberechtigt mit anderen Leuten selbst zu regeln. Voraussetzung war die Vorstellung eines menschlichen Individuums, das aktiv und am Tagesgeschehen interessiert die Gesellschaft selbst gestalten will. Selbstorganisation zeigte sich in vielfältige Formen innerhalb des linksalternativen Milieus, in selbst verwalteten Betrieben, Projekten, Lebensmittelkooperativen, Kommunen, Genossenschaften, Kollektiven, Frauenprojekten, selbst verwalteten Presse- und Informationsnetzen mit Stadt- und Tageszeitungen, sozialen Aktionsgruppen und ehrenamtlichem Engagement in ökologisch und sozial orientierten Bürgerinitiativen.

Traditionelle Autoritäten sollten zurückgedrängt und das Private mit dem Politischen verknüpft werden. Es wurden antiautoritäre Arbeits-, Erziehungs- und Wohnverhältnisse geschaffen, das linksalternative Milieu politisierte Bereiche, die früher privat waren und beeinflusste die öffentliche Meinung. Kleine und überschaubare Strukturen wurden favorisiert, es entstanden zivilgesellschaftlich-basisdemokratische Organisationen und ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel wurde mit der Ökologiefrage eingeleitet.

Diese Beispiele für anders Leben und Arbeiten änderten die alltäglichen Umgangsformen in der damaligen Gesellschaft und hatten erheblichen Einfluss auf die politische Kultur und Alltagskultur.

In vielen Bereichen wandelten sich die Verhaltensstandards, wie im alltäglichen Umgang der Geschlechter miteinander oder in der Thematisierung und Praxis von Sexualität.

Mitbegründet oder zumindest stark beeinflusst von dem linksalternativen Milieu wurden

  • die Reformen der Umwelt- und Energiepolitik
  • der Frauen- und Familienpolitik
  • Abbau überkommener Hierarchien
  • partizipativer Formen der Stadtteil- und Wohnpolitik
  • die Reform des Bildungssystems
  • die Herausbildung neue Formen politischer Partizipation
  • die ökologisch-landwirtschaftliche Produktionsweisen
  • eine qualitativ ausgerichtete Wachstumsorientierung
  • die Pluralisierung von Lebensweisen
  • Toleranz gegenüber nonkonformistischen Lebensstilen
  • Erweiterung des Parteispektrums

und auch die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen.

Dies alles wurden nicht nur, aber eben auch vom linksalternativen Milieu angestoßen. Zu diesem Milieu zählten letztendlich Millionen von jungen Menschen. Hier entstand eine Institutionalisierung, die teilweise bis zur Gegenwart reicht. Selbstverwaltete Projekte und Betriebe, Biolandwirtschaft und deren Vermarktung und die linksalternativen Verlage und Bücherläden gibt es zum Teil noch heute.

Die Auflösungsphase des linksalternativen Milieus begann in der Mitte der achtziger Jahre.

Schon zu Anfang der 1970er Jahre vertiefte sich der politische Graben zwischen den doktrinären K-Gruppen und verschiedenen Spielarten linksalternativer Politik, die damals meist als „undogmatische Linke“ bezeichnet wurde, immer mehr. Dies führte zu erbitterten Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Vorstellungen zur Verbindung von Alltag und Politik.

Ab Mitte der 1970er Jahre bildeten sich lokale Formen alternativer Lebensorganisationen weiter aus und stabilisierten und konkretisierten sich in selbst verwalteten Projekten. Die Szene splitterte sich aber immer mehr auf. Als die Jugenderwerbslosigkeit größer wurde, entwickelte sich eine stärkere Ausrichtung auf die Projekte und Betriebe, begründete dann die Zusammenarbeit der alternativen Projekte mit staatlichen Institutionen und sie organisierten sich in neuen Rechtsformen.

Erste Institutionalisierungen zeichneten sich ab, wie etwa in der Organisation Netzwerk Selbsthilfe e.V., bei der Tageszeitung taz oder der Gründung Bunter-, Alternativer- oder Grüner Wahllisten.

Die neuen sozialen Bewegungen zählten 1979 rund 1,8 Millionen Aktivisten. Diese Zahl entspricht den Mitgliedern sämtlicher Parteien der damaligen Bundesrepublik.

Ab Mitte der 1980er Jahre führten die Aufsplitterung der Szene und die Ausbreitung der alternativen Werte in andere Bereiche der Gesellschaft zur Schwächung des Linksalternativen Milieus. Das Prinzip der Selbstverwirklichung und der autonomen Selbstorganisation wurde zunehmend verwässert und die Kernthemen wie Ökologie und Frauenemanzipation wurden dann von den Massenmedien und auch von der etablierten Politik aufgenommen. Mit dem Verlust des fundamentalistischen Schwungs seiner Kernthemen brach das Milieu auseinander und verlor an innerer Stabilität.

Bis zum Beginn der 1990er Jahre schrumpfte die Zahl der Sympathisanten des links alternativen Milieus. Von rund vier Millionen blieben gerade noch 1,4 Millionen Personen übrig. Die zunehmende Kommerzialisierung ließ keinen Platz mehr für das ursprünglich politische Projekt der Selbstverwirklichung. Die aufkommende Lebensstil-Industrie fand immer wieder Marktlücken, die mit neuen Waren ausgefüllt und überflutet wurden. Die Authentizität, nun gedeutet als Echtheit oder Original wanderte zu den Markenartikeln ab.

Die Auswirkung des Linksalternativen Milieus und den Neuen Sozialen Bewegungen auf die damalige und heutige Gesellschaft ist auch im Nachhinein schwer zu bewerten. Es wurde viel angestoßen und beeinflusst. Von einer Revolutionierung des Alltags und der Lebenswelt kann man sicher nicht sprechen. Es sind Einzelerfolge vorzuweisen, aber keine unmittelbare Gesellschaftsveränderung.

Viele gesellschaftliche Auswirkungen sind aber erst zeitverzögert und hinter dem Rücken der Akteure gesellschaftliche Realität geworden.

 

 

Quelle: Sven Reichert: Authentizität und Gemeinschaft

Bild: Chlodwig Poth