Die alte Tante SPD – auf dem Weg zur Demenz

Von Klaus-Dieter Stork

Jahrzehnte lang gehörte sie dazu, wie der Tatort zum Sonntagabend. Die gute alte Tante SPD – man kannte und „mochte“ sie irgendwie.

Man traf sie zu ihren Hochzeiten im Ruhrgebiet in jedem Taubenzüchter Verein, beim Fußball. Man traf sich in den Räumen des Saalbaus zu den Ortsvereinsversammlungen – die zu jener Zeit, als das Internet noch nicht die physische Begegnung ersetzte, kleine Bollwerke gegen die veröffentliche Meinung der Springer-Presse u.a. waren. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, aber das war für die sozialdemokratische Partei existentiell.

In großen wie kleinen Städten waren ihre Funktionäre bei Kultur-, Sport- und Sozialveranstaltungen vor Ort, überbrachten Grußworte, auch mal einen kleinen Scheck des Bürgermeisters und immer gute Wünsche. Mit dem Ende des Fordismus und dem zwieschlächtigen Prozess der sogenannten Individualisierung, den neuen Medien, dem veränderten Konsum- und Freizeitverhalten, lösten sich die klassischen Kollektive zwar nicht auf, aber sie verloren zunehmend ihren kulturellen Kitt. In den Achtzigerjahren fürchtete man den sogenannten 30-Prozent-Turm. Heute wären 30 Prozent bei Wahlen ein Anlass für überschäumende Euphorie.

Ein Große Koalition, heute kleiner Appendix

In ihren Hochzeiten war die Sozialdemokratie ein fester Bestandteil der Zivilgesellschaft, quasi Inventar der Republik. Heute wirkt sie wie ein schwerer Demenzkranker.

Was ist eine Demenz? Am Anfang der Krankheit sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört; im weiteren Verlauf verschwinden auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses. Die Betroffenen verlieren so mehr und mehr die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen wirkt sie völlig paralysiert. In Hessen starrt sie wie das Kaninchen vor der Schlange auf die CDU, hoffend und bettelnd, dass man sie doch vielleicht, unter Umständen, eventuell mit an den Katzentisch der Landesregierung als kleiner Koalitionspartner duldet. Was früher mal Große Koalition genannt wurde, ist heute der kleine Appendix sozialdemokratischer Gefügigkeit.

Die Ergebnisse, die in Ostdeutschland und Bayern zum Teil nicht mal mehr zweistellig sind, führen nicht zum Aufstand der Basis. Sie wirken wie Wetterleuchten, die der Sozialdemokratie das gleiche Schicksal wie das der PASOK in Griechenland oder der PS in Frankreich verkünden.

Aber wie sollte auch eine Basis rebellieren, die intellektuell ausgeblutet oder völlig frustriert ist?

Die SPD schaufelte sich ihr eigenes Grab

Der Zusammenbruch kommt nicht von ungefähr. Er hat sich nicht nur angedeutet, sondern war absehbar, als die fundamentalen Fehlentscheidungen und Enttäuschungen von oben durchgedrückt wurden. Die Ignoranz der frühen Achtzigerjahre in der Natur- und Ökologiefrage sorgte für die Gründung und den Erfolg der Grünen. Man dachte, das sei vorübergehend. Immerhin standen die Enkel in den Startlöchern, gewannen noch Landtagswahlen und erarbeiteten dann das Berliner Programm 1989. Das allerdings schnell im Giftschrank verschwand.

Die Hoffnung nach der Wahl 1998, als erstmals in der Geschichte ein Bundekanzler abgewählt wurde, nun könnte eine rot-grüne Epoche beginnen, wurde nicht nur enttäuscht. Diese Koalition war der radikale Aufbruch in den neoliberalen Umbau der Republik. Letzte Illusionen wurden nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl 2002 endgültig erledigt. Mit den Hartz-Reformen verabschiedete sich die Sozialdemokratie als Partei der arbeitenden Menschen – bis heute postuliert sie gerne vollmundig und plakativ, dass sie das sei.

Diesen Fehler hat sie nicht nur nicht korrigiert. Jahrelang meinte sie, die Betroffenen hätten diese Reformen falsch verstanden. Ihnen würde noch das Licht aufgehen. Umgekehrt war es richtig: Die Menschen hatten genau verstanden. Der größte Sozialabbau und die soziale Enteignung führte nicht nur zur völligen Entfremdung, sondern auch zur erfolgreichen Gründung einer Partei links der SPD: Die Linke, die sich gerade selbst zerlegt.

Bis heute hat die SPD nicht verstanden, dass sie mit ihrem neoliberalen Kurs sich das eigene Grab schaufelte. In ihrer selbst verschuldeten Verzweiflung glaubte sie, die Wahl von Scholz zum Kanzler, bedeute die Wende. Und ignorierte, dass er gar nicht gewählt wurde (er erreichte das gleiche schlechte Ergebnis wie vier Jahre zuvor der neoliberale Zyniker Steinbrück), sondern dass die CDU/CSU es schlicht verbaselt hatte.

Wagenknecht auch für die SPD gefährlich?

Und so langsam spürt die SPD, dass es auch für die älteste demokratische Partei, trotz ihrer durchaus historischen Erfolge, die es nicht zu ignorieren gilt, keine Bestandsgarantie gibt. Schon bei den Europawahlen droht sie noch weiter abzusacken, wenn das neu gegründete BSW möglicherweise Stimmen aus der enttäuschten Facharbeiter*innen oder den Nichtwähler*innen gewinnt.

Noch ist das nicht ausgemacht, aber es könnte sogar noch schlimmer kommen –bei den Landtagswahlen im Osten nämlich. Betrachtet man die bisherigen Themen und Inhalte, handelt es sich beim BSW um eine fordistisch-konservative Formation, die in alle Parteien Angebote sendet.

Die sogenannte „Fortschrittskoalition“ taumelt derweil in einen Auflösungsprozess, hartnäckig von der FDP gewünscht und von den Grünen flankiert. Die Sozialdemokratie schaut staunend, aber fast regungslos zu und manche sehnen die Große Koalition zumindest im Kleinen schon zurück. Kurzum: Die Ampel schaltet nicht, keine der drei Parteien kann mit seinem Lichtlein zufrieden sein.

Schon daher werden erste zaghafte „Ladenhüter“ aus der Schublade geholt. Wieder einmal ist die Rede von den straken Schultern, die in der Krise mehr belastet werden sollen. Diesmal aber nur „temporär“ mit einer Reichensteuer, einer Aufweichung der völlig idiotischen Schuldenbremse, die Sozialdemokrat*innen einmal selbst wie die Kerze des Messdieners vor sich hertrugen. Auch der Mindestlohn, den man ohne Not selbst einer Kommission zur Entscheidung übertragen hat, soll wieder zum Thema werden. Die FAZ protestiert schon mal pflichtschuldig im Wirtschaftsteil. Obwohl sie doch innerlich weiß, dass es so nicht kommen wird.

Kann die SPD weg?

Natürlich kann man jetzt sagen oder denken, das alles geschieht den Sozis recht. Man hat ihnen oft genug ihre schwerwiegenden historischen Fehler – von den Kriegskrediten bis zum Radikalenerlass – nachgesehen. Irgendwann ist mal Schluss. Und die Mehrheit der Leser*innen wird wohl genauso denken und fühlen. Das ist verständlich.

Ob es politisch zielführend und klug ist, ist eine andere Frage. Denn der Rechtsruck in Deutschland und Europa benötigt eine Gegenkraft.

Eigentlich wäre genau diese Herausforderung die Stunde einer erneuerten europäischen Sozialdemokratie und Sozialistischen Internationale. Die den Mut hätte, die EU unter Druck zu setzen. Sei es bei der Verteilung der Flüchtlinge zum Beispiel mit dem konstruktiven Vorschlag von Gesine Schwan, Dörfer und kleine Städte, die Flüchtlinge aufnehmen, strukturell und finanziell zu fördern. Sei es mit einem europäischen Konjunkturpaket, dass die soziale und ökologische Transformation fördert und den Jungen in Südeuropa Chancen gibt. Oder sei es mit einer Entspannungspolitik, die endlich die überhebliche deutsche Außenministerin stoppt und Friedensvorschläge auf den Tisch legt. Die Liste lässt sich fortführen, auf die nationalen Fragen herunterbrechen.

Es wird so nicht kommen. Denn niemand in der deutschen Sozialdemokratie bietet sich dafür an.

Das ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit. Und es gilt für alle linken Parteien und Kräfte. Vielleicht kommt ja „irgendwo ein Lichtlein her“. Es wäre zu wünschen.

 

 

 

 

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Bild: Olaf Kosinsky/CC BY-SA-3.0.de