Hartz IV vor dem Ende? Transformation in alter Richtung, am Beispiel der SPD und der Grünen

Von Harald Rein

Hartz IV, seit Jahren in der Kritik insbesondere durch Betroffenenorganisationen und Wohlfahrtsverbände, steht seit einiger Zeit auf der Veränderungsagenda von SPD und Grünen. Sie wollen Hartz IV überwinden, zurücklassen oder ablösen. Es klingelt in den Ohren derjenigen, die sich seit Jahren in der Beratungspraxis und auf der Straße gegen ein autoritäres Sozialstaatsregime engagieren. Sind die Politiker:innen endlich aufgewacht oder was steckt hinter den Aussagen in den aktuellen Bundestagsprogrammen der beiden Parteien? Diese strotzen nur so vor reformerischen Ideen und sollen die unsozialen Auswirkungen der Hartz-Gesetze vergessen machen. Ausgerechnet die beiden Parteien, die maßgeblich die Agenda 2010, inklusive der Hartz-Gesetze, formuliert und durchgesetzt haben, wenden sich nun von diesen Maßnahmen ab. Oder ist es möglicherweise gar keine Wendung, sondern nur ein Strategie­wechsel mit differenzierteren Ergebnissen als bisher? Dies möchte ich im Weiteren klären.

Die überwiegende Mehrheit von SPD und Grünen stand hinter der Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Allein 90 Prozent der Delegierten auf dem Parteitagstreffen der SPD 2003 in Bochum stimmten den Hartz-Gesetzen zu. Eine offizielle Distanzierung von dieser Politik hat es nie gegeben. Selbst zu einer Entschuldigung gegen­über den Tausenden Erwerbslosen, die entweder sanktioniert wurden oder unter den Sank­tions­androhungen litten, waren die Verantwortlichen nicht bereit. Jetzt heißt es: wir haben eine andere gesellschaftliche Entwicklung, Massenerwerbslosigkeit spiele keine Rolle mehr, stattdessen würden Digitalisierung und dynamischer Wandel der Arbeitswelt zu neuen Jobs führen, während alte Arbeitsverhältnisse wegfielen. »Die Zeit und die politische Debatte sind über Hartz IV hinweggegangen«, so Habeck im November 2018 im Merkur. Und: »Mit der Ein­führung des Bürgergeldes (Name des neuen Konzeptes der SPD, HR) stellen wir das ­System und den Geist dahinter wieder vom Kopf auf die Füße«, erklärte die kurzzeitige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im Februar 2019 auf der Homepage der Partei. Das ist sicherlich keine Vergangenheitsbewältigung, es bestätigt eher die alte Politik, denn schließlich hat diese zu einer merklichen Reduzierung der Erwerbslosenzahlen geführt. Damals benötigte es Stell­schrauben des Drucks, um Erwerbslose in Tätigkeiten zu zwingen, die sie sonst (aus nach­vollziehbaren Gründen) nicht aufgenommen hätten. Mittlerweile arbeiten 18,7 Prozent aller Beschäftigten (Stand 2020) im Niedriglohnsektor. Die ideologisch besetzte Behauptung »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit« hat sich mit Hilfe von Zwang, Angst und einer oft un­realistischen Aufstiegshoffnung bei den Betroffenen durchgesetzt. Aber: fast sieben Millionen Menschen im Hartz IV-Bezug und über eine Million Langzeiterwerbslose haben nicht alles tatenlos über sich ergehen lassen. Insbesondere der Sanktionspraxis der Arbeitsämter und Jobcenter wurde nicht nur mit rechtlichen ­Mitteln, sondern auch mit eigensinnigem Wider­stands­willen begegnet. Der Reglementierungswahn von Politik, in Verbindung mit Jobcenter-Mitarbeiter:in­nen, die im Durchsetzen der Akzeptanz von Armutsarbeit und der Disziplinie­rung von Erwerbslosen ihre Profession sahen, geriet in die Kritik. Spätestens seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 5. November 2019, indem eine über 30-prozentige bis vollständige Streichung der Sozialleistung beanstandet wurde, da dadurch der grundrechtlich geschützte Bereich der menschenwürdigen Existenz in Frage gestellt würde, ist klar, dass die Sank­tionen einer Rundumerneuerung bedürfen. Und schließlich zog auch das »In­stitut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung« der Bundesagentur für Arbeit (IAB) nach, indem im IAB-Forum vom 24. Juni 2021 festgestellt wurde: »Sanktionen können sich sowohl auf den Erwerbsverlauf der Sanktionierten als auch auf ihre nachhaltige Integration in den Arbeits­markt negativ auswirken.« Es ist schon erstaunlich: hierfür hat das wissenschaftliche Institut 16 Jahre benötigt!

Man kann es aber auch anders ausdrücken: Die Grobarbeit ist getan, jetzt schauen wir, was wir angerichtet haben, und räumen auf, ohne grundlegend etwas zu verändern.

Meine These lautet: im sozialpolitischen Bereich wird es, egal wer die Regierungsmehrheit bildet, keine wesentlichen Veränderungen geben. Und zwar aus zwei Gründen: weil die wirt­schaftlich und politisch Verantwortlichen nicht wollen und weil sie nicht können!

Schauen wir auf die Bestimmung des staatlich festgelegten Existenzminimums, so fällt sofort die jahrzehntelange Kritik an den zu geringen Regelsätzen auf. Fundierte und nachvoll­ziehbare Analysen von Betroffenengruppen oder sozial engagierten Wissen­schaft­ler:innen, die höhere Unterstützungsleistungen begründen, perlen an den jeweiligen politisch Zustän­digen ab. In ihrem aktuellen Wahlprogramm fordert die SPD angemessene Unterstützungs­leistungen: »Die Regelsätze im neuen Bürgergeld müssen zu einem Leben in Würde ausreichen und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen« (SPD-Wahlprogramm 2021). In welcher Höhe diese ausgezahlt werden sollen, sagen sie nicht, warum auch, die klein gerechneten Regelsätze der letzten Jahren wurden ja von der gleichen Partei mit festgelegt! Etwas weiter gehen da die Grünen, sie wollen die Regelsätze sofort um 50 Euro erhöhen und dann eine neue Berechnungsrunde einsetzen. »Das soziokulturelle Existenzminimum werden wir neu berechnen und dabei die jetzigen Kürzungstricks beenden. In einem ersten Schritt werden wir den Regelsatz um mindestens 50 Euro und damit spürbar anheben.« (Grünen-Wahlprogramm 2021) Dass dies bei Weitem nicht ausreichend sein kann, ist eine Sache, eine andere ist, ob eine aus Betroffenensicht gewünschte Erhöhung in das politische Konzept einer grünen Regierungsbeteiligung passt. Denn die Kleinrechnung des Existenzminimums hat nicht nur ideologische Gründe (du bist erst etwas wert, wenn du wieder in Erwerbsarbeit bist), sondern auch ökonomische. Unter kapitalistischen Bedingungen braucht es die klassische industrielle Reservearmee, eine variable Schicht von einsetzbaren Arbeitnehme­r:in­nen, die zeitlich begrenzt in bestimmten wirtschaftlichen Situationen Tätigkeiten übernehmen können, für die es nur eine kurze Einarbeitungszeit benötigt. Ihr Einkommen liegt nur knapp über der Sozialhilfegrenze, sie tauchen als Leiharbeiter:innen auf, firmieren auch als Selbstständige, erhalten nicht selten noch ­ergänzende Grundsicherung und sind Teil ­eines Wirtschafts­systems, das nicht auf sie verzichten kann.

Zudem sei darauf hingewiesen, dass der Hartz IV-Satz den Freibetrag aller Einkommens­steuerzahler bestimmt (2021 beträgt dieser 9.744 Euro im Jahr). Das heißt, je geringer die Steigerung des Hartz IV-Satzes ausfällt, desto mehr Steuern für Arbeitende fallen an. Aufgrund stagnierender Nettolöhne in der Corona-Krise steigt der Hartz IV-Satz 2022 nur um wenige Euro. Es existiert somit auf der politischen Zielebene von vermehrten Steuerein­nahmen staatlicherseits ein Interesse, den Regelsatz zu drücken.

Und schließlich wird die ökonomisch bedingte Armut unter staatlicher Regie systematisch ausgeweitet, denn die interessensgeleitete Festlegung des Existenzminimums führt durch weitergehende rechtliche Regelungen zu Unterschreitungen eben dieser materiellen Grenze in Form von Sanktionen, Kürzungen des Mietzuschusses, dauerhaften Rückzahlungs­forderungen, die sofort in Abzug gebracht werden, Vorenthalten von einmaligen Zuschüssen usw.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Armut ist ein dauerhafter und notwendiger Teil ­eines Wirtschaftssystems, das weder mit ­vermehrter Erwerbsarbeit noch mit einem ›besseren‹ Sozialstaat zu bändigen ist. Nur dauer­hafter Druck von unten, mit einer ­Perspektive jenseits von Marktregulation, privaten Eigentumsverhältnissen und Arbeitszwang, kann grundlegende soziale Verschiebungen einleiten. Dennoch wäre die Einhegung von Sanktionsvorschriften ein ­gewisser Erfolg und könnte für viele Erwerbslose zu einer Druckminderung in den Jobcentern führen. Schließlich gingen einer anderen öffentlichen Sichtweise auf die Sanktions­regelungen im Sozialrecht jahrelange Proteste voraus, die sich dann in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts niederschlugen. Ob die Sanktionen wirklich fallen werden (bisher sind sie nur teilweise gestoppt), wie es die SPD vorschlägt, sei dahingestellt: »Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen schaffen wir ab« (SPD-Wahlprogramm 2021), was offenbar heißt, dass es auch sinnvolle Sanktionen gibt; oder noch radikaler die Grünen, die von einer Garantiesicherung sprechen, die »ohne Sanktionen« (Grünen-Wahlprogramm 2021) vor Armut schützen soll. Allerdings wäre es nicht das erste Mal, dass nach der Wahl Merk­male fortschrittlicher Politik den Koalitionsansprüchen zum Opfer fallen oder aber in einer Form umgesetzt werden, in der sie kaum wieder zu erkennen sind. Für Christian Brütt wäre die Streichung der Sanktionsparagrafen eine »Neuausrichtung der Grundsicherung«, da auf negative Anreize verzichtet würde, bedeute aber keine grundlegende Kursänderung in der Sozialpolitik.[1] SPD wie Grüne blieben mit ihren Vorstellungen »eng an eine arbeitsmarkt­orientierte Leistungsgerechtigkeit und statusdifferenzierende Sozialpolitik gekoppelt«. Während die SPD sich am Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichtes orientieren möchte und, ebenso wie der DGB, Sanktionen »entschärfen will« (was immer dies in der Praxis bedeutet), gehen die Grünen von einem neuen positiven Anreizsystem aus. Sie stellen ein Weiterbildungsgeld in Aussicht, dass mindestens 200 Euro über dem Arbeitslosengeld II liegen und als Anreiz für den Einzelnen dienen soll, Qualifikationen zu erwerben.[2] Allerdings wird vergessen: Bisherige Qualifikationsoffensiven und Weiterbildungsangebote sind alle gescheitert. Kursangebote der Jobcenter führten in den meisten Fällen nicht zu einer Integration in den ersten Arbeitsmarkt[3] und füllten nur die Taschen der Bildungsträger, während die gesetzlich initiierten Beschäftigungsprogramme der jeweiligen Bundesregie­rungen so schnell, wie sie öffentlichkeitswirksam aus dem Hut gezaubert wurden, in aller Stille wieder verschwanden (zuletzt der noch laufende »Soziale Arbeitsmarkt«[4]). Ich stimme mit Brütt überein, dass die Vorschläge von SPD und Grünen in der Logik der Fürsorge, die das gegenwärtige SGB II prägt, verbleiben:

»Leistungen werden bei Bedürftigkeit nach Bedarf zur Verfügung gestellt, Leistungen der Erwerbstätigkeit werden höher bewertet als vermeintliches Nichtstun oder das Tun von etwas, das nicht auf Erwerb ausgerichtet ist. Eine Abweichung vom bisherigen Pfad der Aktivierung in Form des Förderns und Forderns besteht im Wesentlichen darin, auf Sanktionen als negative Anreize für eine Erwerbsintegration zu verzichten.«

Eine andere Idee, Sozialpolitik zu gestalten, weg von der Arbeitszentriertheit und der damit verbundenen Sinnhaftigkeit des Lebens, ist nicht gewollt und entspräche auch nicht den Grundsätzen kapitalistischer Notwendigkeiten. Armut wird gebraucht und eingesetzt, um soziale Ungleichheiten zu zementieren und die Solidarität zwischen Armen und Arbeitenden zu schwächen. Diesem scheinbar unaufhörlichen Kreislauf etwas entgegenzusetzen benötigt eine antikapitalistische Agenda, deren Kern eine egalitäre Forderung für alle, etwa in Form eines ausreichenden Existenzgeldes, enthalten muss.

 

Anmerkungen:

[1]   Christian Brütt: Grundsicherung für Arbeitssuchende. Zwischen alten Pfaden und neuen Wegen, in: böll.brief Teilhabegesellschaft, 13. August 2020

[2]   Antrag der GRÜNEN im Deutschen Bundestag Drucksache 19/25706, 19. Wahlperiode, 6. Januar 2021: Garantiesicherung statt Hartz IV

[3]   https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/kursangebot-der-jobcenter-das-milliardengeschaeft-mit-den-arbeitslosen/20800654.html

[4]   https://gewerkschaftsforum.de/?s=ein+jahr+sozialer+arbeitsmarkt

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Harald Rein ist Sozialwissenschaftler, lebt in Frankfurt/M. und arbeitete viele Jahre als Berater in einem Arbeitslosenzentrum. Mitarbeit in verschiedenen sozialen Initiativen.

 

 

 

 

Der Beitrag erschien in  express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2021
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