IMI-Analyse: Der Ukraine-Krieg / Vorgeschichte – Verlauf – Interessen – Waffen!

Von Jürgen Wagner

Ohne Zweifel handelt es sich bei dem russischen Angriff auf die Ukraine um einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Russland trägt demzufolge einen Großteil der Schuld an der katastrophalen Situation. Ebenso deutlich wie dies immer wieder klargestellt werden muss, gilt es aber auch zu betonen, dass dieser Krieg auch eine Vorgeschichte hat, die von einer nicht vernachlässigbaren Mitverantwortung erzählt, die nicht bei Russland liegt, sondern bei der Politik des Westens. Und gerade weil diese Mitverantwortung hierzulande nahezu vollständig ausgeblendet wird, ist es zentral, sie ebenfalls zum Gegenstand der Kritik zu machen.

Doch auch seit Kriegsbeginn gießt der Westen immer weiter Öl ins Feuer: Vor allem seine Rolle beim Abbruch der Istanbul-Gespräche, bei denen die Ukraine und Russland Ende März 2022 kurz vor einer Verhandlungslösung standen, führte direkt zu der anschließenden Eskalation, die seither mit westlichen Waffen immer weiter befeuert wird.

Inzwischen fällt in Sachen westlicher Waffenlieferungen auch und gerade in Deutschland nahezu jedes Tabu, sodass der langjährige militärische Chefberater im Kanzleramt, Ex-Brigadegeneral Erich Vad, bereits eindringlich vor einer „Eigendynamik“ und einer „Rutschbahn“ warnt, die in einen direkten Krieg der NATO mit Russland führen könnte: „Was sind die Kriegsziele?“, fragt Vad völlig zu Recht. „Will man mit den Lieferungen der Panzer Verhandlungsbereitschaft erreichen? Will man damit den Donbass oder die Krim zurückerobern? Oder will man Russland gar ganz besiegen? Es gibt keine realistische End-State-Definition. Und ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur.“[1]

Wenn aktuell allerdings Verhandlungen kategorisch abgelehnt werden bis völlig unrealistische Bedingungen erfüllt sind, dann läuft dies zwangsläufig auf einen lang andauernden, immer mehr Opfer fordernden Abnutzungskrieg hinaus – und genau hierauf scheint die westliche Strategie derzeit abzuzielen, um so eine maximale Schwächung Russlands zu erreichen. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, die eine grundlegende Kursänderung in Richtung Verhandlungen fordern. Es ist dringend notwendig, dass es in den nächsten Wochen und Monaten noch deutlich mehr werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre, dass diejenigen, die sich für eine Verhandlungslösung einsetzen, wenigstens öffentlich zu Wort kommen würden, ohne sofort hysterisch beschimpft und diffamiert zu werden, wie Heribert Prantl richtigerweise forderte: „Der Krieg in der Ukraine und die kriminelle Annexionspolitik Putins sind bittere Realität. Realität ist aber auch die Gefahr, dass dieser Krieg mit Worten und mit Waffen gefüttert wird, bis er platzt. […] Das wäre nicht die von Kanzler Scholz angekündigte Zeitenwende, das wäre das Zeitenende für Europa. […] Es ist deshalb fatal und unendlich töricht, dass hierzulande schon die Wörter ‚Waffenstillstand‘, ‚Friedensappell‘ und ‚Frieden‘ als anrüchig gelten, wenn sie im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gebraucht werden. Es ist fatal, wenn das Werben für eine diplomatische Offensive fast schon als Beihilfe zum Verbrechen bewertet wird. Für Diplomatie zu werben ist keine Parteinahme für Putin, sondern eine Parteinahme für die Vernunft. […] Es ist eine Menschheitserfahrung, dass Frieden gestiftet werden muss. Wo sind die Stifter? Das Stiften beginnt mit Reden; und es darf nicht sein, dass Reden als von vornherein sinnlos erachtet wird. Ist es sinnvoller, den Krieg bis zum Platzen zu füttern?“[2]

Kollision mit Ansage

Viele der „Stationen“, die in den Krieg geführt haben, sind inzwischen bekannt und ausführlich an anderen Stellen beschrieben worden.[3] Aus diesem Grund folgt hier lediglich ein kursorischer Überblick, angefangen mit der „Ursünde“, dem inzwischen gut belegbaren Bruch der Zusagen, die der Sowjetunion bzw. Russland Anfang der 1990er Jahre gemacht worden waren. Damals sicherte nahezu jedes westliche Staatsoberhaupt zu, im Tausch für die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands werde es zu keiner weiteren  Osterweiterung des Militärbündnisses kommen – dass dies nur mündlich und nicht in Form eines juristisch sattelfesten Dokumentes erfolgte, tut hier für das in der Folge zerschlagene Porzellan kaum etwas zur Sache. Es folgten die erste NATO-Osterweiterung (1999) sowie die – ebenfalls eklatant völkerrechtswidrigen – Angriffskriege der NATO gegen Jugoslawien (1999) und der US-geführten Koalition gegen den Irak (2003). Von russischer Seite stets als „rote Linie“ wurde die zweite NATO-Osterweiterung (2004) bezeichnet, da sie mit den baltischen Staaten auch ehemalige Gliedstaaten der Sowjetunion mit einschloss. Besonders fatal wirkte sich dann die Entscheidung im April 2008 aus, der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive in die NATO zu eröffnen. Dies geschah im vollen Wissen, dass eine solche NATO-Mitgliedschaft von Moskau als existenzielle Bedrohung eingestuft wurde.[4]

Einen ersten Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen im Georgien-Krieg (August 2008), als georgische Truppen mit US-Unterstützung die abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien wiedereingliedern wollten. Russland regierte hierauf mit einem massiven Militäreinsatz, der den Status quo wieder herstellte. Besonders die Ukraine entwickelte sich in der Folge dann aber zum zentralen Schauplatz der immer erbitterter geführten Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen. Auslöser der nächsten Eskalation waren die Konflikte um die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Weil das Abkommen auf die (periphere) Eingliederung des Landes in die westliche Einflusssphäre abzielte, wurde hierum heftig gestritten. Nachdem der gewählte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch im November 2013 die Verhandlungen um das Abkommen auf Eis legte, begannen die sogenannten Maidan-Proteste. Ursprünglich durchaus zumindest in Teilen mit nachvollziehbaren Motiven begonnen (zum Beispiel gegen korrupte lokale Eliten), wurden die Proteste schnell von einem Bündnis aus pro-westlichen und faschistischen Akteuren übernommen und mündeten schließlich im Februar 2014 in den Sturz von Janukowitsch, der unter Gewaltandrohung aus dem Land floh. Es bildete sich eine dezidiert pro-westliche Übergangsregierung, die unter anderem die schnellstmögliche NATO-Mitgliedschaft anstrebte und den Pachtvertrag mit der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim kündigen wollte. Weil die Übergangsregierung das erforderliche Quorum im Parlament nicht erreicht hatte, wurde der ganze Vorgang in Russland als Putsch bewertet und mit der Unterstützung pro-russischer Kräfte in der Ostukraine sowie der Absicherung des Referendums auf der Krim beantwortet, die kurz darauf eingegliedert wurde.

Der anschließende Krieg in der Ostukraine endete vorläufig in dem von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland ausgehandelten Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015. Es sah neben einem sofortigen Waffenstillstand unter anderem den Rückzug schwerer Waffen, einen Autonomiestatus für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie Wahlen und den Abzug aller ausländischen bewaffneten Einheiten vor. Die Umsetzung des Minsker Abkommens scheiterte in den Folgejahren an der vom Westen zumindest geduldeten Weigerung der ukrainischen Regierung, seine Kernbestandteile umzusetzen. Unterdessen wurde die Ukraine mit westlichen Waffen aufgerüstet, die NATO-Militärpräsenz an Russlands Grenzen ausgebaut und Vorbereitungen für die Stationierung von Mittelstreckenraketen, insbesondere Hyperschallwaffen („Dark Eagle“) nahe Russland aufgenommen, was von Moskau in aller Deutlichkeit als ernste Bedrohung seiner Sicherheit kritisiert wurde.[5]

 

Trotz des Minsker-Abkommens endeten die Kämpfe in der Ostukraine nie vollständig und bis Februar 2022 fielen ihnen nach Schätzungen der Vereinten Nationen insgesamt etwa 14.000 Menschen zum Opfer.[6] Die Lage spitzte sich weiter zu, nachdem der ukrainische Präsident Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021 unterzeichnet hatte, mit dem faktisch eine Rückeroberung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der Krim anvisiert wurde.[7] Russland wiederum begann, massiv Truppen zusammenzuziehen und übermittelte im Dezember 2021 einen Forderungskatalog, der vom Westen verlangte, keine NATO-Erweiterungen mehr durchzuführen, die militärische Infrastruktur auf den Stand von 1997 (dem Abschluss der NATO-Russland-Akte) zurückzufahren und von der Stationierung von Angriffswaffensystemen in russischer Grenznähe abzusehen. Obwohl Moskau deutlich mit militärischen Konsequenzen drohte, existierte auf westlicher Seite keinerlei ernsthafte Bereitschaft, über einen oder gar mehrere dieser Punkte zu verhandeln. Es folgte am 21. Februar 2022 die Rede Putins zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk und am 24. Februar 2022 begann der russische Angriff auf die Ukraine.

Diese „kurze“ Auflistung an westlichen Schritten, die mit zu dieser Katastrophe beigetragen haben, beansprucht keineswegs auch nur ansatzweise Anspruch auf Vollständigkeit – sie sollte aber zeigen, dass auch hier ein Teil der Verantwortung für diesen Krieg zu suchen ist. Und auch wenn sich hierdurch das durch den russischen Angriff verursachte Leid in keiner Weise entschuldigen lässt, so muss der Westen sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht mit seiner Politik massiv zu dem abgrundtiefen Misstrauen beigetragen hat, das schließlich mitentscheidend für die russische Kriegsentscheidung gewesen sein dürfte. Die Verbitterung jedenfalls, mit der Wladimir Putin in seiner Rede zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk über den Westen sprach, hätte zum Nachdenken zwingen sollen, ja müssen: „Nachdem die USA den INF-Vertrag gekündigt haben, hat das Pentagon offen zahlreiche landgestützte Angriffswaffen entwickelt, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 km treffen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine stationiert werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Teil Russlands erreichen. Die Flugzeit von Tomahawk-Marschflugkörpern nach Moskau wird weniger als 35 Minuten betragen; ballistische Raketen aus Charkow benötigen sieben bis acht Minuten und Hyperschall-Angriffswaffen vier bis fünf Minuten. Das ist wie ein Messer an der Kehle. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie hoffen, diese Pläne zu verwirklichen, wie sie es in der Vergangenheit schon oft getan haben, indem sie die Nato nach Osten ausdehnten, ihre militärische Infrastruktur an die russischen Grenzen verlegten und unsere Bedenken, Proteste und Warnungen völlig ignorierten. Verzeihen Sie mir das so zu sagen, aber sie haben sich einfach nicht für derlei Belange interessiert und getan, was sie für notwendig hielten.“[8]

Augenscheinlich sah und sieht sich Russland angesichts dieser Entwicklungen fundamental bedroht – man muss diese Einschätzungen im Übrigen überhaupt nicht teilen und hätte den russischen Bedenken dennoch entgegenkommen können, Möglichkeiten gab es hierzu sowohl vor als auch nach dem Kriegsausbruch mehr als genug.

Torpedo gegen die Istanbul-Verhandlungen

Immer wieder ist zu hören, Moskau (oder meist „Putin“) sei nicht zu Verhandlungen bereit, man könne sich also jeden Versuch in diese Richtung schenken. Dies ist zumindest für die Frühphase des Krieges definitiv falsch, schließlich handelten russische und ukrainische Vertreter*innen ein Dokument aus, das Ende März 2022 unterschriftsreif vorgelegen hatte. Kernpunkte dieser Istanbul-Verhandlungen waren ein sofortiger Waffenstillstand, die Neutralität der Ukraine (mit Garantiestaaten) sowie die Ausklammerung der offenen Fragen um Teile des Donbas sowie der Krim, verbunden mit der Vereinbarung eine nicht-militärische Lösung innerhalb der nächsten 15 Jahre anzustreben.[9]

Damit war ein Weg aus diesem Krieg vorhanden, was dann im Detail geschah, ist bis heute unklar. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass der Westen der ukrainischen Regierung unmissverständlich nahelegte, diese Verhandlungslösung abzulehnen – verknüpft mit Zusagen für Waffenlieferungen, um den Kampf gegen Russland „erfolgreich“ fortsetzen zu können. Schon am 5. April 2022 berichtete die Washington Post, diverse NATO-Staaten würden eine Fortsetzung der Kampfhandlungen befürworten: „Das führt zu einer unangenehmen Realität: Einige in der NATO halten es für besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben, als dass ein Friede herauskommt, der zu früh und mit zu hohen Kosten für Kiew und den Rest Europas verbunden ist.“