Mutter aller verrückten Formen

Von Rudolf Walther

In Zeiten der Coronakrise kämpft die reale Wirtschaft in vielen Bereichen ums Überleben. Da lohnt ein theoretischer Blick auf noch florierenden Finanzmärkte – und auf Karl Marx. Er schrieb einst: Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ Die meisten haben davon nichts.

Der kritische Staatsbürger fragt sich heute allenthalben, ob angesichts der enormen Staatsverschuldung noch alles mit rechten Dingen zu- und hergehe in Sachen Geld. Die Frage stellte sich bereits Karl Marx und fand eine Antwort, die nur Banker überrascht.

In der Berner Aristokratie, die zu einem guten Teil vom Verkauf und von der Vermietung von Schweizer Bauernsöhnen als Söldner an ausländische Mächte lebte, galt die wetterfeste Lebensdevise: „Über Geld redet man nicht, Geld hat man“. Was sich die chinesische Führung dachte, als sie ihre Währung „Renminbi“ taufte, ist nicht überliefert. Bekannt ist jedoch die wörtliche Übersetzung des Wortes Renminbi: „Geld des Volkes“. Ein schönes Versprechen. Viel zu schön, um wahr zu sein, aber mindestens in einer Hinsicht richtig.

In England heißen staatliche Instiution stets „royal“, nur die Schulden nicht. Die heißen „national“

Der kritische Staatsbürger fragt sich heute allenthalben, ob angesichts der enormen Staatsverschuldung noch alles mit rechten Dingen zu- und hergehe in Sachen Geld. Die Frage stellte sich bereits Karl Marx und fand eine Antwort, die nur Banker überrascht.

In England, wo man seit Adam Smith einen sehr realistischen Blick für Gelddinge hat, hießen staatliche Institutionen durchweg und nach der politischen Herrschaftsstruktur „royal“ (königlich): „Royal Navy“, „Royal Society“, „Royal Court of Justice“, „Royal Academy“, „Royal Speech“ etc. Einzig die Staatsschulden haben mit den Herrschenden angeblich nichts zu tun und heißen deshalb trivial und alle einschließend „national debt“ (Nationalschuld).

Es hat bekanntlich eine ganze Weile gedauert, bis sich der mediale Mainstream vom Terminus „Eurokrise“ verabschiedet hat. Denn darum handelte es sich zu keinem Zeitpunkt. Vielmehr überschuldeten sich Staaten und drohten damit Banken und Anlegern, die ihnen bereitwillig Geld geliehen hatten, mit in den Abgrund zu ziehen. Die vermeintliche „Eurokrise“ war eine Mischung aus Staatsschulden- und Bankenkrise. Die Euro-Länder retteten mit „ihrem“ Geld und „ihren“ Bürgschaften nicht den Euro und auch nicht „die“ Griechen, sondern Anleger und Großbanken – vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien.

Neu ist das alles nicht, denn Geld und Kredit sind allemal besondere Stoffe. Karl Marx nannte  Geld- und Kreditpapiere, also die, die heute oft und mit Recht  „toxisch“ genannt werden, „die Mutter aller verrückten Formen“ (Marx, Kapital III, Werke, Bd. 25, S. 482). Nach kapitaler Logik werden solche Schulden zwar unter privater Mithilfe erzeugt, d.h. der Staat oder staatsnahe Institutionen verschulden sich bei privaten Banken und Anlegern, aber danach gehören die Schulden der Allgemeinheit, die fortan den Kreditgeber/Miterzeuger mit Zinsen alimentiert bis ans Ende der Zeiten, denn Staatsschulden werden als pränatale Mitgift auch an Noch-Nicht-Geborene vererbt. Das ist zwar juristisch unsinnig, aber kapitalistisch gesehen logisch. „Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums“, den man je nach buchhalterischer Perspektive auch Volksvermögen oder Volkseinkommen nennt, „der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld“ (Marx, Kapital I, Werke Bd. 23, S. 782).

„Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts“

Daraus erklärt sich das große Interesse der Finanzagenturen und Anlegern an Staatspapieren, mit denen das Volk zum Bürgen für Kredit- und Spekulationsgeschäfte des Finanzkapitals in Geiselhaft genommen wird: Deshalb wird „der öffentliche Kredit zum Credo des Kapitals. (…) Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebenso viel wie Bargeld“ (ebd.). Es regieren dann „die Finanzmärkte“, wie es im heutigen Jargon heißt oder in Marx‘ klarerer Diktion: die „Brut von Bankokraten, Finanziers, Rentiers, Maklern, Stockjobbers und Börsenwölfen“ (ebd., S. 783). Für diese sind Staatsschulden eine Art Lebens- und Überlebensversicherung.

Die Bank of England, eine private Firma bei ihrer Gründung 1694, bekam das Privileg, der Regierung Geld zu leihen – für unbescheidene acht Prozent Zinsen. Gleichzeitig durfte sie Münzen prägen, die sie dem Publikum „nochmals in Form von Banknoten lieh. Die Bank durfte mit diesen Noten Wechsel diskontieren, Waren beleihen und edle Metalle einkaufen. Es dauerte nicht lange, so wurde dies von ihr selbst fabrizierte Kreditgeld die Münze, worin die Bank von England dem Staat Anleihen machte und für Rechnung des States die Zinsen der öffentlichen Schuld bezahlte.“ Die Bank gab mit der einen Hand, um mit der anderen mehr zu gewinnen. Sie wurde so zur „ewigen Gläubigerin der Nation“ (ebd.) und fungiert heute als „lender of last resort“ („Kreditgeber der letzten Zuflucht“).

Und damit kommt das „zinstragende Kapital“ ins Spiel. „Finanzprodukte“, also Eigentumstitel aller Art von der First-Class-Aktie bis zu den dubiosesten Derivaten und Zertifikaten, sind nach Marx „papierene Duplikate des wirklichen Kapitals“ oder „nominelle Repräsentanten nicht existierender Kapitale“ – so wie der papierene Frachtbrief als Rechtstitel eine wirkliche Maschine auf dem Transportweg eben nur versicherungsrechtlich repräsentiert, aber eben nicht die reale Maschine verdoppelt.

An den Börsen wird mit real existierenden Fiktionen gespielt

Werden die „papierenen Duplikate“ handelbar, kriegt das wirklich existierende Kapital eine numinose, quasi-theologisch verbürgte Zweitexistenz als Börsenkurs oder als Wette auf die Zukunft. Aber „der Marktwert dieser Papiere ist zum Teil spekulativ, da er nicht durch eine wirkliche Einnahme, sondern durch die erwartete … bestimmt ist“. Auf dem Markt für Papiere an der Börse wird nach Marx „Gewinnen und Verlieren … der Natur der Sache nach mehr und mehr Resultat des Spiels“. Das Jonglieren mit realexistierenden Fiktionen ist der Spielplatz für die Herren „der verrückten Formen“.

Verrückt ist wörtlich dabei zu verstehen. Mit dem „improvisierten Reichtum“ aus einem Kartenhaus „papierener Duplikate“ sollen die Schranken der realen Produktion von Gütern und Dienstleistungen überwunden werden.  Diese Schranken bilden die Zahl und die Kaufkraft der wirklichen Käufer/Konsumenten – Autos kaufen keine Autos, was man den Autohalden ansieht, und diese verbrauchen auch kein Benzin, was man an fallenden Preisen dafür ablesen kann. Geld und Kapital in Papierform kennen keine Grenzen, sondern nur die möglichst profitable Verwertung, ihre spekulative Selbstverwertung und Selbstvermehrung in unbestimmter und unbestimmbarer Zukunft.

„Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ Wie maßlos, erweist sich nun an den täglich neu entdeckten Milliardenlöchern, die entstanden sind, weil die Bewegung der Selbstverwertung durch die Pandemie ins Stocken kam. Nach Marx scheinen Geld und Kapital zum „automatischen Subjekt“ (Marx, Kapital I, Werke, Bd. 23, S. 169) oder Quasi-Gott ihrer Selbstvermehrung und Selbstverwertung zu werden, solange ihm kein Virus in die Quere kommt.

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Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur wie Autor des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“ gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist tätig.

 

Quelle: https://gegenblende.dgb.de/

Bild: pixabay cco