Neue Angriffe auf das Streikrecht

Vor ein paar Monaten, wahrscheinlich noch im Windschatten der konzertierten Aktion und des neuen Burgfriedens wurden die Gewerkschaften als Interessenvertretung der abhängig beschäftigten Menschen von Politik, Medien und organisierter Unternehmerschaft des Öfteren gelobt. Dabei wurde hervorgehoben, dass die praktizierte Sozialpartnerschaft mit den Interessen der Unternehmen harmoniert und funktioniert, auch weil im Jahr 2022 und 2023 die Gewerkschaften für die Beschäftigten grottenschlechte Ergebnisse bei den Tarifverhandlungen erzielt haben.

Der Wind hat sich schnell gedreht und weht den Gewerkschaften plötzlich wieder ins Gesicht. Unternehmerfunktionäre von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) oder des Arbeitgeberverband Gesamtmetall blasen sogar Sturm, fordern eine drastische Einschränkung des Streikrechts und sprechen von „Streiks auf dem Rücken der Allgemeinheit zur Erpressung der Staatskasse“ oder unterstellt den Verkehrsbeschäftigten durch ihre Streiks „das halbe Land in Geiselhaft“ zu nehmen. Sie fordern vom Gesetzgeber Regelungen die klar machen, dass „Streiks Ausnahmen bleiben sollen“. Im Chor mit der konservativen Politik wird gefordert, Arbeitsniederlegungen in bestimmten Gesellschaftsbereichen einzuschränken, Warnstreiks zu verbieten, eine neue Regelung für Streiks in der öffentlichen Daseinsvorsorge und in bestimmten Grundversorgungsbetrieben festzulegen.

Die DGB – Vorsitzende Yasmin Fahimi stimmt auch in den Singsang ein und meint, dass „nicht die Zeit für kapitalismuskritische Grundsatzdebatten, sondern für effektives Handeln in der Realität“ sei und für die beiden Gewerkschaften IG Metall und ver.di ist „der Streik immer das letzte Mittel…“. Dieses Bekenntnis zum sozialen Frieden scheint den Gewerkschaften bei den immer heftiger werdenden Angriffen auf das Streikrecht allerdings nicht viel zu helfen.

DGB-Gewerkschaften im Sinkflug

Die DGB-Gewerkschaften stehen schon seit einiger Zeit mit dem Rücken zur Wand und haben mit dem Niedergang der betrieblichen Mitbestimmung und der sinkenden Anzahl der Unternehmen mit betrieblicher Interessenvertretung zu kämpfen. Während vor 20 Jahren noch 16 Prozent der Unternehmen einen Betriebsrat hatten, sind es derzeit nur noch neun Prozent. Genau so rasant ist die Zahl der Beschäftigten gesunken, die von einem Betriebsrat vertreten werden. Derzeit sind es nur noch 38 Prozent der Arbeitskräfte  die die gewerkschaftliche Vertretung in den Betrieben bilden. Aktuell ist nur noch jedes zweite Unternehmen mit einem gewählten Betriebsrat ausgestattet und auch nur jeder zweite Betrieb hat in seinem Betriebsrat Niemanden mehr, der auch Mitglied in einer DGB-Gewerkschaft ist.

Genau so gravierend ist die Tarifbindung gesunken. Der Abschluss von Tarifverträgen mit den Vereinbarungen zu Lohn- und Arbeitsbedingungen war einmal der beste Schutzwall, um die Konkurrenz unter den Beschäftigten möglichst klein zu halten. Auch hier ist einiges den Bach herunter gegangen. So ist der Anteil der Unternehmen mit einem Tarifvertrag seit dem Jahr 2000 von 43 auf 25 Prozent zurückgegangen und im gleichen Zeitraum der Anteil der lohnabhängigen Menschen, die von einem Tarifvertrag erfasst werden von zwei Dritteln auf 41 Prozent deutschlandweit gesunken.

Der Sinkflug der DGB-Gewerkschaften hat auch dazu geführt, dass sie für die Beschäftigten zunehmend unattraktiv werden. Im Bereich Niedriglohn und Leiharbeit sieht der Einzelne rein gar nichts von ihnen und insgesamt gesehen sind aktuell nur noch 13 Prozent der erwerbstätigen Menschen Mitglied in einer Gewerkschaft des DGB, deren Mitgliederzahl sich bei mickrigen 5,6 Millionen eingependelt hat.

Nur 18 Arbeitstage pro tausend Beschäftigte fielen bei uns wegen Streiks aus

Auch dem letzten Sozialpartner sollte der Zusammenhang auffallen: In kaum einem europäischen Staat wird so wenig gestreikt wie bei uns. In den letzten 10 Jahren fielen im Jahresdurchschnitt pro tausend Beschäftigte lediglich 18 Arbeitstage durch Streiks aus. In Frankreich dagegen waren es sogar 123, in Dänemark 118 und in Belgien 79 Tage. Ebenfalls in Spanien, Norwegen, Irland und Finnland gibt es mehr Arbeitsniederlegungen als bei uns. Nur in einigen wenigen osteuropäischen Ländern und in Österreich wird seltener als  in Deutschland gestreikt.

Bei der aktuellen öffentlichen Auseinandersetzung scheint es wohl nicht nur um die Einschränkung des Streikrechts zu gehen, sondern um einen Generalangriff auf die Gewerkschaftsbewegung allgemein. Der Hebel der dafür angesetzt wird, war in der Vergangenheit schon häufiger Arbeitsgerichtsurteile und die Arbeitsrechtsprechung.

Die Arbeitsgerichte bekämpfen immer schon das Streikrecht

Bei der vor einigen Wochen beendeten Tarifauseinandersetzung zwischen der Eisenbahngewerkschaft (EVG) und der Bahn AG war es wieder einmal ein Arbeitsgericht, das massiv in den Arbeitskampf eingriff.

Zuletzt gab es zwei Warnstreiks, bei keinem wurde verständlich erklärt, warum eigentlich nur einen halben Tag gestreikt wird, obwohl die Stimmung glasklar für einen ganztägigen Streik war. Dann wieder eine katastrophale Kommunikation bei dem geplanten 50-Stunden-Streik, den es gar nicht gab, weil das Frankfurter Arbeitsgericht ihn mit einem Vergleich einkassierte. Die EVG hätte klar machen müssen, dass Bahnkonzern und Staat einen kapitalen Angriff auf das Streikrecht verübt hatten und die Gewerkschaft vor der Wahl stand, sich auf den Vergleich einzulassen oder eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht zu riskieren. Eine kämpferische und demokratische EVG-Führung hätte die Mitgliedschaft darauf vorbereiten und im Vorfeld ein Mandat für das weitere Vorgehen einholen müssen. Dennoch hätte hier ganz schnell das Scheitern der Verhandlungen erklärt und eine Urabstimmung abgehalten werden können. Stattdessen wurde der abgesagte Streik zu einem Sieg in der Mindestlohnfrage umgedeutet und einfach weiter vor sich hin verhandelt.

Das Anrufen der Arbeitsgerichtsbarkeit in dem aktuellen Arbeitskampf von EVG und Bahn AG ist ein typisch deutsches Phänomen und hat seit dem deutschen Faschismus eine ungute Kontinuität eingenommen.

Arbeitsgerichte machen Politik

Der DGB zeigte sich im Sommer 1951 noch konfliktbereit und drohte der Bundesregierung direkt, seine Mitglieder zu gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen aufzurufen. Hintergrund war die unnachgiebige Haltung der Adenauerregierung gegenüber den Neuordnungsforderungen der Gewerkschaften für die Mitarbeit in den wirtschaftspolitischen Gremien der BRD. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Ausdehnung der paritätischen Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft, was vehement von den damaligen Unternehmerverbänden und den Regierungsparteien, der CDU/CSU und der extrem kapitalorientierten FDP verweigert wurde.

Nach der Demonstration gewerkschaftlicher Kampfbereitschaft und -fähigkeit in den Auseinandersetzungen um die Montanmitbestimmung war es für die Gewerkschaften klar, dass nur durch harte und offene Konflikte zwischen der Arbeiterbewegung und den reaktionären, teils offen faschistischen Kräften, eine Restauration der Machtverhältnisse zu verhindern war.

Als sich dann im Frühjahr 1952 eine schnelle Verabschiedung des Gesetzesvorhabens zum Nachteil der Gewerkschaften abzeichnete, teilte der DGB-Vorsitzende dem Bundeskanzler mit, dass der DGB seine Mitglieder zu gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen aufrufen wird.

Der Aktionsaufruf mobilisierte rund 350.000 Beschäftigte in allen Teilen der BRD, es fanden Protestkundgebungen, Demonstrationen und Warnstreiks statt. Ein wichtiger Höhepunkt war die Arbeitsniederlegung in allen Zeitungsbetrieben Ende Mai 1952, organisiert von der IG Druck und Papier.

Die Gewerkschaften wollten mit den Streiks demonstrieren, dass sie auch Möglichkeiten haben, um Verhandlungen zu erzwingen.

Nachdem mehrere Landesarbeitsgerichte den Ausstand der IG Druck und Papier für „ungesetzlich und sittenwidrig“ erklärt hatten, befasste sich schließlich das Bundesarbeitsgericht mit dem Fall.

Die Arbeitsgerichte übernahmen damals die Auffassung der konservativen bzw. der als Nazi-Ideologen geltenden Rechtswissenschaftler, die den politischen Streik generell als „Gefährdung des Staates in der Autonomie seiner Willensbildung“ bezeichneten. Sie wollten das Streikrecht nur unter der Voraussetzung zugestehen dass der Arbeitskampf „sozial-adäquat“ sei. Konkret hieß das, dass der Streik als Auseinandersetzung zwischen Unternehmen und Beschäftigten auf die Regelung der „Arbeitsbedingungen“ durch „privatrechtlich-arbeitsrechtliche Vereinbarungen“ beschränkt sein musste.

Die Zitate stammen von Carl Nipperdey, dem späteren Vorsitzenden des Bundesarbeitsgerichts und früheren Nazi-Rechtsideologen. Als Jurist an der „Akademie für Deutsches Recht“ im Nationalsozialismus verdiente er sich erste wissenschaftliche Sporen im Kampf gegen die Selbstorganisation der Arbeiter. 1937 veröffentlichte die Fachzeitschrift „Deutsches Arbeitsrecht“ einen Aufsatz von ihm unter dem Titel „Die Pflicht des Gefolgsmanns zur Arbeitsleistung“.

Nach dem deutschen Faschismus verfasste Carl Nipperdey ein Gutachten, das Streiks nur im Rahmen von Tarifforderungen für zulässig erklärte und schuf damit jenes deutsche Sonderrecht, das als Verbot des politischen Streiks bekannt ist.

So war der politische Streik von der IG Druck und Papier 1952 auch damals der Startschuss für die einseitige Interpretation des Bundesarbeitsgerichts.

Während in anderen europäischen Ländern das Streikrecht ohne Unterschiede besteht, gilt seitdem in Deutschland ein Streik, der nicht durch Tarifforderungen begründet wird, als unzulässig. Nicht aufgrund eines im Gesetzeswerk zusammengefassten Rechts, sondern aufgrund der Ansicht des damaligen Bundesarbeitsgerichtes unter Vorsitz von Carl Nipperdey, dem früheren Nazi-Rechtsideologen.

Arbeitskämpfe als ultima ratio

In einer der ersten Grundsatzentscheidungen des neuen BAG am 28.1.1955 mit dem Vorsitzenden Nipperdey zum Streikrecht hieß es: „Arbeitskämpfe (Streik und Aussperrung) sind in bestimmten Grenzen erlaubt, sie sind in der freiheitlichen sozialen Grundordnung der Deutschen Bundesrepublik zugelassen. Unterbrechungen der betrieblichen Arbeitstätigkeit durch einen solchen Arbeitskampf sind sozialadäquat, da die beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit solchen Kampfweisen Störungen auf Veranlassung und unter Leitung der Sozialpartner von jeher rechnen müssen und die deutsche freiheitliche Rechtsordnung derartige Arbeitskämpfe als ultima ratio anerkennt“.

Im Jahr 1952 hatten die DGB-Gewerkschaften mit dem Zeitungsstreik keineswegs eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn. Sie wollten lediglich demonstrieren, dass sie durchaus Druckmittel hatten, um ihren Platz als Sozial- und Mitbestimmungspartner durchzusetzen und damit Verhandlungen erzwingen zu können.

Entscheidend waren vielmehr die Rechtsgutachten im Anschluss an diesen Streik. Ihnen haben wir die Sonderstellung des „politischen Streiks“ in der Bundesrepublik zu verdanken.

Die Arbeitsniederlegung in allen Zeitungsbetrieben Ende Mai 1952 der IG Druck und Papier war nicht nur Wasser auf die antigewerkschaftlichen Mühlen, man drohte gar, die Gewerkschaftsführer strafrechtlich zu verfolgen.

Diese Vorgehensweise gehörte aber auch zum Ziel von Bundeskanzler Adenauer, die Gewerkschaften taktisch auszumanövrieren, indem er versuchte, Zeit zu gewinnen und einen Abbruch der gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen zu erreichen. Die DGB-Führung spielte ihm dabei in die Hände, als sie Anfang Juni – im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen – die Einstellung aller außerparlamentarischen Aktionen beschloss.

Nach dem politischen Zeitungsstreik vom Mai 1952 reichten die Arbeitgeber sofort Schadensersatzklagen gegen die Gewerkschaften ein. Dabei ging es ihnen gar nicht so sehr um den Schadensersatz, sondern bei den Urteilen stand die Frage nach den Grenzen des Streikrechts, also auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des in Art. 9 (3) des Grundgesetzes garantierten Koalitionsrechts, im Vordergrund.

Zwei Monate später äußerten die Unternehmer für das BetrVG ihre begeisterte Zustimmung. Das war klar, denn für die Beurteilung dieses Gesetztes durch die Unternehmerschaft war das Wichtigste die Tatsache, dass ihnen die Grundelemente der unternehmerischen Wirtschaft erhalten geblieben sind: Die Entscheidungsfreiheit der Unternehmer über die wirtschaftliche Führung ihrer Betriebe und die Freiheit unternehmerischer Initiative wurde ihnen doch nun „amtlich“ zugesprochen.

Als Vorsitzender Richter des Bundesarbeitsgerichts schrieb Nipperdey dann 1958 die in dem Gutachten festgelegten Grundsätze gegen den von der IG Metall ausgerufenen Streik zum Kampf für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fest. Er erklärte den Streik für ungesetzlich und verurteilte die Gewerkschaft, Schadensersatz in Höhe von 38 Millionen Mark an die bestreikten Unternehmer zu zahlen.

Als Paket, zusammengesetzt aus der wirtschaftsfriedlichen Anbindung der Betriebsräte und ihrer Abtrennung von den Gewerkschaften durch das BetrVG, war es das Arbeitsrecht selbst, das den gewerkschaftlichen Handlungsspielraum beträchtlich einschränkte.

In europäischen Ländern besteht das Streikrecht ohne Unterschiede

Während in anderen europäischen Ländern das Streikrecht ohne Unterschiede besteht, gilt in Deutschland ein Streik, der nicht durch Tarifforderungen begründet wird, als unzulässig. Nicht aufgrund eines im Gesetzeswerk zusammengefassten Rechts, sondern aufgrund der Ansicht des damaligen Bundesarbeitsgerichtes unter Vorsitz von Carl Nipperdey.

Völlig unzeitgemäß ist auch, dass die Gewerkschaften bei uns nur rein wirtschaftliche Forderungen stellen, während Streiks in anderen europäischen Staaten schon längst politisch ausgerichtet sind. Dort wird immer öfter, wenn sie z.B. Forderungen nach Inflationsausgleich stellen, dies ausdrücklich damit begründen, dass die Sanktionen gegen Russland und die Waffenlieferungen an die Ukraine die Ursache für diese Inflation sind und alle Staaten in der EU betreffen.

So eine Haltung stünde den DGB-Gewerkschaften bei uns gut an und hätte verhindert, dass sie auf dem Rücken der Beschäftigten, armen und erwerbslosen Menschen dem neuen Burgfrieden beigetreten sind. Ihnen scheint nicht mehr klar zu sein, dass der Staat nicht die Interessen der Beschäftigten als Priorität erklärt, sondern die Aufrechterhaltung eines Systems, das sich auf pure Ausbeutung begründet.

Durch die Sozialpartnerschaft und den Burgfrieden wird sich diese Haltung von Staat und Unternehmerschaft sicherlich nicht ändern, wie die seit Jahrzehnten immer wieder auftretenden Angriffe auf das Streikrecht zeigen.

Für die Unternehmen ist das Wichtigste die Tatsache, dass ihnen die Grundelemente der unternehmerischen Wirtschaft erhalten bleiben: Die Entscheidungsfreiheit des Unternehmers über die wirtschaftliche Führung seines Betriebes und Sicherung des immer steigenden Profits, abgesichert durch den Staat und der Arbeitsrechtsprechung.

 

 

 

 

 

 

Quellen: WSI-Tarifarchiv, HBS,,IG BCE, IAB, Tagessspiegel, Junge Welt, BA, Statis.de, dgb, verdi, ngg, Politika, B 92, wildcat, PM Arbeitsministerium, Franziska Wiethold, SGB, F. Deppe/G. Fülberth/J. Harrer/Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, St. Dietl/konkret 10/23
Bild: ver.di