Schlecht verhandelt – Über die jüngsten Verdi-Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, bei der Deutschen Post sowie in der Branche Papier, Pappe und Kunststoffe

Von Orhan Akman

In den ersten vier Monaten des Jahres hat die Gewerkschaft Verdi Tarifabschlüsse für die Deutsche Post, den öffentlichen Dienst sowie die Branche Papier, Pappe und Kunststoffe »erzielt«. Im Handel, einer Branche mit rund 5,4 Millionen Beschäftigten, haben die Tarifverhandlungen gerade begonnen. Zeit für eine Analyse und einen Ausblick.

Arbeitsbelastung, Reallohnverluste, enorme Belastungen durch die Pandemie – insbesondere im Gesundheitswesen –, gereizte Kunden und Patienten, die Lockdowns, der Krieg in der Ukraine und eine galoppierende Inflation haben bei den Beschäftigten zu einem enormen Frust und zugleich zu einer berechtigten Erwartungshaltung gegenüber der Politik und vor allem gegenüber den Gewerkschaften geführt. Die Existenz- und Zukunftsängste sowie der Verzicht, der mit den Krisen einhergeht, schüren Unsicherheit. Die Beschäftigten sind zu Recht frustriert über die unzureichenden Maßnahmen gegen die Coronapandemie und die enormen Preissteigerungen in Deutschland. In weiten Teilen haben sowohl die Politik als auch die Gewerkschaften die Beschäftigten mit ihren Sorgen und ihrem Frust alleine gelassen.

Belastung durch Inflation

Die Inflationsrate in Deutschland (gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindex, VPI, zum Vorjahresmonat) lag im Oktober 2022 bei plus 10,4 Prozent. So berichtet die Hans-Böckler-Stiftung: »Wie in den Vormonaten belasten sie die Haushalte mit geringeren Einkommen besonders stark. Unter den hier betrachteten Haushalten war die haushaltsspezifische Inflationsrate von einkommensschwachen Paaren mit zwei Kindern erneut am höchsten (11,8 Prozent).«

Die berechtigten Erwartungen der ­Beschäftigten fanden sich zuletzt in den Tarifforderungen wieder. Lohn- und Gehaltsforderungen im zweistelligen Bereich bis zu 15 Prozent zu Beginn des Jahres sind Ausdruck dieser Erwartungen gewesen. Anders als die Jahre zuvor war und ist die Bereitschaft sehr hoch, für diese Forderungen zu kämpfen und zu streiken. Alleine Verdi konnte im ersten Quartal des Jahres 2023 rund 70.000 Beschäftigte als Mitglieder gewinnen.

»Eine halbe Million Kolleg*innen waren allein in der Woche vor der dritten Verhandlungsrunde bei Aktionen und Streiks dabei. Nur durch den Druck, den sie aufgebaut haben, ist es gelungen, eine Einigung in dieser Höhe zu schaffen«, feiert der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke den Tarifabschluss für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und kommunalen Arbeitgebern am 23. April 2023.

Im Zeitraum vom 4. bis 12. Mai sollen alle Verdi-Mitglieder – auch alle, die noch neu eintreten – per digitaler Mitgliederbefragung ihr Votum zu dieser Tarifeinigung abgeben können. Erst anschließend entscheidet die Verdi-Bundestarifkommission öffentlicher Dienst (BTK öD) endgültig über das Tarifergebnis. Welche Auswirkungen eine Mitgliederbefragung haben soll, wird offen gelassen.

Keine Urabstimmung

Bei einer mehrheitlichen Ablehnung der »Einigung« durch die Mitgliederbefragung könnte sich die BTK öD dann mit einfacher Mehrheit für die Annahme der ja bereits jetzt von ihr zur Annahme empfohlenen Einigung entscheiden. Bei einer Urabstimmung hätte es diesen Spielraum nicht gegeben.

Das Ergebnis der Tarifeinigung im öffentlichen Dienst beinhaltet jedenfalls:

– 14 Nullmonate

– ab März 2024: plus 200 Euro, plus 5,5 Prozent, insgesamt mindestens 340 Euro

– Inflationsausgleichsprämie von insgesamt 3.000 Euro (im Juni 2023 einmalig 1.240 Euro und ab Juli 2023 bis Februar 2024 jeweils 220 Euro monatlich)

– Laufzeit: 24 Monate

Dabei forderte Verdi noch im Januar dieses Jahres 10,5 Prozent mehr Geld für alle, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Auszubildende sollten 200 Euro mehr bekommen und ­unbefristet übernommen werden. Der Tarifvertrag sollte eine Laufzeit von zwölf Monaten haben.

Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bringt es in seiner Bewertung des Tarifergebnisses auf den Punkt: »Die Einigung bedeutet durchschnittliche Lohnerhöhungen um circa elf Prozent für die Beschäftigten. Positiv ist der deutlich stärkere prozentuale Lohnanstieg für Menschen mit geringen Löhnen, die allerdings auch eine deutlich höhere Inflation erfahren als Menschen mit hohen Löhnen. Allerdings bedeutet dieser Tarifabschluss einen weiteren Verlust an Kaufkraft und Wohlstand für die Beschäftigten. Denn nach einer Inflationsrate von acht Prozent 2022, sechs Prozent 2023 und wohl circa drei Prozent 2024 werden die Löhne im öffentlichen Dienst am Ende der Laufzeit circa sechs Prozent weniger Kaufkraft haben. Dies bedeutet, dass es wohl mindestens noch weitere fünf Jahre dauern wird, bis die Löhne im öffentlichen Dienst diesen Kaufkraftverlust wieder aufgeholt haben.«

Die Differenz von Forderung und Tarifergebnis kann und sollte nicht schöngeredet werden. Die Beschäftigten können rechnen. 14 Nullmonate kann und darf niemand als Erfolg der Gewerkschaft verkaufen. Wir müssen ehrlich und offen kommunizieren und mit den Mitgliedern diskutieren. Nur so bleiben wir glaubwürdig und können uns gemeinsam mit den Mitgliedern für die kommende Tarifrunde gut aufstellen.

Bereits am 19. November 2022 wies ich auf meiner Homepage auf diese Situation hin: »Im öffentlichen Dienst finden sich die streikbereiten Betriebe und Belegschaften eher in den unteren Gehaltsgruppen. Ob es die Kolleginnen und Kollegen in der Müllabfuhr, in den Kitas, in den Betrieben des Nahverkehrs oder in den Sozialdiensten sind, am Ende wird ihre Streikbereitschaft entscheidend sein. Daher sind wir als Gewerkschaften gut beraten, gerade sie nicht zu enttäuschen. Bei der Entscheidung und einer möglichen Abstimmung ist daher darauf zu achten, dass die Streikenden auf den Plätzen die zentrale Rolle spielen – und nicht Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrer, die aus den Fenstern der Rathäuser und Behörden auf die Streikenden herunterschauen, aber am Ende von der gleichen Lohnsteigerung profitieren, ohne dafür aktiv geworden zu sein.

Die Durchsetzung von 500 Euro Festgeldbetrag sind für die unteren und mittleren Gehaltsgruppen von zentraler Bedeutung, die Beschäftigten brauchen diese Entgelterhöhung dringender denn je. Werden diese Belegschaften von Verdi enttäuscht, verlieren wir nicht nur Mitglieder, sondern erleiden auch großen Schaden an unserer Glaubwürdigkeit. Setzen wir hingegen 500 Euro Festgeldbetrag durch, so stärkt das den Rücken der Aktiven und Streikenden in den Betrieben und Dienststellen, womit wir deutlich besser noch nicht organisierte Beschäftigte für unsere Gewerkschaft gewinnen können. Und es wäre eine wichtige Stärkung für alle anderen Branchen, die ebenfalls demnächst vor Tarifrunden stehen oder diese gerade vorbereiten, nicht zuletzt die Kolleginnen und Kollegen im Handel und bei der Deutschen Post AG.«

Verpasste Chance

Während der Coronapandemie und den Lockdowns konnte die Deutsche Post ihre Umsätze und Gewinne steigern. »Im November hatte die Deutsche Post AG zuletzt gemeldet, dass der Konzern im Jahr 2022 auf das erfolgreichste Jahr in der Konzerngeschichte mit einem operativen Ergebnis von 8,4 Milliarden Euro zusteuert. Bereits im Vorjahr, 2021, hatte der Konzern ein Rekordergebnis von acht Milliarden Euro erzielt«, schreibt Verdi in einer Pressemitteilung vom 6. Januar 2023.

Diese Umsätze haben Beschäftigte mit ihrer harten Arbeit erwirtschaftet. In der Pandemie waren die Belastungen für die Post-Beschäftigten noch höher, als sie es ohnehin sind. Das war nicht nur durch einen stärkeren Arbeitsdruck bedingt, sondern auch durch den mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Bei der Deutschen Post hat Verdi im März 2023 einen Tarifvertrag abgeschlossen, der deutlich hinter den berechtigten Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen zurückblieb. Der Unterschied zwischen der Forderung und dem Tarifabschluss war dabei enorm. Denn Verdi forderte für die Beschäftigten der Deutschen Post 15 Prozent mehr Gehalt sowie 200 Euro mehr pro Monat für Azubis und Dualstudierende – bei einer Laufzeit von zwölf Monaten.

Dagegen steht das Ergebnis des Tarifabschlusses bei der Deutschen Post:

– 340 Euro mehr ab 1. April 2024 (15 Nullmonate)

– 3.000 Euro Inflationsprämie, verteilt auf 15 Monate (200 Euro monatlich)

– Laufzeit: 24 Monate

Dabei bot die Tarifrunde mehrere Möglichkeiten für die Gewerkschaft: Es hätte die Möglichkeit gemeinsamer Streiks bei der Deutschen Post und Amazon gegeben, aber auch mit Solidaritätsstreiks in anderen Unternehmen wie DPD hätte die berechtigte Tarifforderung von Verdi durchgesetzt werden können. Doch Verdi hat diesen Ansatz der Tarifauseinandersetzung nicht gewagt, geschweige denn überhaupt in Betracht gezogen. Die Tarifrunde wäre zugleich eine gute Chance gewesen, die ersten Weichen für eine künftige koordinierte gemeinsame Tarifpolitik bei der Post, bei Amazon und insgesamt aller Logistik- und Speditionsbereiche bis hin zur letzten Meile zu stellen.

Verdi hat mit diesem Vorgehen die Beschäftigten vor den Kopf gestoßen. Statt dieses Tarifergebnis im nachhinein schönzurechnen, hätte der Bundesvorstand von Verdi die Ergebnisse der Urabstimmung ernstnehmen müssen. Denn bei der Urabstimmung der Post-Beschäftigten stimmten 85,9 Prozent der Befragten gegen das Angebot der Post-Geschäftsleitung und für einen unbefristeten Streik. Damit wurde das Quorum der erforderlichen 75 Prozent deutlich übertroffen. Anstatt den Erzwingungsstreik vorzubereiten und durchzuführen, einigten sich Verdi – unter Federführung vom Bundesvorstandsmitglied Andrea Kocsis – und die Post unmittelbar nach dieser hohen Streikzustimmung auf ein leicht verbessertes Tarifergebnis.

In der zweiten Urabstimmung über das Tarifergebnis votierten 61,7 Prozent der Befragten für die Annahme. In den Social-Media-Kanälen war viel Kritik, Unmut und Frust der Kolleginnen und Kollegen über den Abschluss nachlesbar. Unter anderem wurde auch kritisiert, dass in der zweiten Befragung über das Ergebnis nicht alle die Möglichkeit zur Abstimmung hatten. Frust und Streikbereitschaft bleiben den Post-Angestellten buchstäblich im Halse stecken.

Auch in der Tarifrunde der Beschäftigten der Branche Papier, Pappe und Kunststoffe unterzeichnete Verdi einen Tarifabschluss, der von Nullmonaten und Reallohnverlusten geprägt ist. Nach acht Nullmonaten steigen in dieser Branche die Entgelte ab September 2023 um 5,1 Prozent, ab August 2024 um 2,1 Prozent und ab Dezember 2024 um 1,4 Prozent. Dieser Tarifabschluss sieht eine Inflationsausgleichsprämie von 2.000 Euro in zwei Auszahlungen und bei einer Laufzeit von 24 Monaten vor.

Ziele verfehlt

Im öffentlichen Dienst, bei der Deutschen Post und auch in der Branche Papier, Pappe und Kunststoffe hat Verdi die tarifpolitischen Ziele weit verfehlt. So ist es bisher in keiner der Branchen gelungen, im Tarifjahr 2023 eine wirksame Reallohnsteigerung durchzusetzen. Die Tarifabschlüsse für das Jahr 2023 liegen sogar deutlich hinter der Inflationsrate zurück.

In einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 13. April 2023 ist zu lesen: »Die Inflationsrate in Deutschland (…) lag im März 2023 bei plus 7,4 Prozent. Im Januar und Februar 2023 hatte die Inflationsrate noch bei jeweils plus 8,7 Prozent gelegen. ›Die Inflationsrate hat sich abgeschwächt, bleibt jedoch auf einem hohen Niveau‹, sagt Ruth Brand, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes (…)«.

In Form von Tarifabschlüssen mit 14 Nullmonaten im öffentlichen Dienst und sogar mit 16 Nullmonaten bei der Deutschen Post beschreitet Verdi einen Irrweg in der Tarifpolitik, was nicht nur für 2023 und 2024 ein großes Problem darstellt. Vielmehr hat Verdi die Nullmonate über ein Kalenderjahr hinaus vereinbart und damit den Beschäftigten für künftige Tarifauseinandersetzungen einen »Bärendienst« erwiesen.

Es bloße Augenwischerei, wenn man die Inflationsausgleichsprämie als Ersatz für die tarifierten Nullmonate gegenrechnet und sich das Ergebnis so schönredet. Inflationsausgleichszahlungen mögen für die Beschäftigten, kurz gedacht, hilfreich sein, denn sie stopfen die schlimmsten Löcher. Sie bedeuten aber dauerhaft Reallohnverluste.

Es steht zu erwarten, dass diese Tarifabschlüsse zum weiteren Verlust der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in den Belegschaften führen werden. Das Ergebnis sind enttäuschte Mitglieder – und vor allem enttäuschte Verdi-Aktive in den Betrieben und Dienststellen. Denn die Aktiven sind diejenigen, die in den Betrieben die Belegschaften mobilisieren. Jetzt müssen sie für die Abschlüsse den Kopf hinhalten.

Ausblick auf den Handel

In diesem Jahr haben nun auch die Tarifrunden in den Handelsbranchen begonnen. Dabei liegen die Erwartungen und Tarifforderungen hoch. So fordert Verdi für die Beschäftigten des bayerischen Einzelhandels:

– Erhöhung der Löhne und Gehälter um 2,50 Euro in der Stunde

– Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 Euro im Monat

– Erhöhung der Löhne der unteren Beschäftigtengruppen auf ein rentenfestes Mindesteinkommen von 13,50 Euro in der Stunde

– Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge des bayerischen Einzelhandels

– Laufzeit des Tarifvertrages: zwölf Monate

Im Groß- und Außenhandel fordert Verdi für die Beschäftigten in Berlin-Brandenburg 13 Prozent mehr Lohn/Gehalt, mindestens 400 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Auch im Groß- und Außenhandel sollen nach der Verdi-Forderung die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Tariflandschaft und Struktur der Handelsbranche stellen für Verdi einen Nachteil dar. So wird für den Einzel- und Versandhandel sowie für den Groß- und Außenhandel jeweils separat verhandelt. Die Verhandlungen werden in den Bundesländern, also dezentral, geführt. Die Laufzeiten der Tarifverträge in den unterschiedlichen Bundesländern liegen um mehrere Monate auseinander, ihre Harmonisierung wurde bisher nicht ernsthaft angestrebt.

In der Tarifpolitik – Kerngeschäft der Gewerkschaften – ist Verdi im Handel mehr oder minder ohnmächtig. Die Tarifbindung im Handel wird seit Jahren immer schwächer. Verdi ist nicht mehr in der Lage, diese Tendenz zu stoppen oder gar umzukehren. Im Groß- und Außenhandel wenden 82 Prozent der Betriebe keine Tarifverträge an. Im Einzel- und Versandhandel sind es 83 Prozent der Betriebe. Es gibt ganze Segmente in den Handelsbranchen ohne Tarifbindung. »Pure Player« wie Amazon, Zalando oder JD.com, aber auch Onlinelieferdienste wie Flink, Flaschenpost, Wolt oder Getir sind tariffreie Zonen.

Die Pandemie, die Lockdowns sowie der ­Ukraine-Krieg haben alle Beschäftigten im Handel hart getroffen, vor allem die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel. Dort sind mehr als zwei Drittel der Beschäftigten Frauen und 60 Prozent der Kolleginnen und Kollegen arbeiten in Teilzeit. Die Belastungen waren für alle Beschäftigten enorm. Da war die Existenzangst, etwa der Frage, wie man die Miete zahlt, die Gefährdung der eigenen Gesundheit, zu hohe Arbeitsverdichtung und aggressive Kundinnen und Kunden. Ökonomisch betrachtet sind dabei die Segmente im Handel sehr unterschiedlich betroffen. So konnte beispielsweise der Lebensmittelhandel (mit rund 1,5 Millionen Beschäftigten die größte Teilbranche im Handel) seit Beginn der Pandemie die Umsätze und Gewinne deutlich steigern. Auch Onlinehändler wie Amazon, Otto oder Zalando konnten von den Lockdowns profitieren. Einige Handelssegmente im Bereich des »Non-Foods« – zum Beispiel Kauf- und Warenhäuser und der Textileinzelhandel – befinden sich hingegen zum Teil in einer schwerwiegenden Krise, was Filialschließungen und die Entlassung von Tausenden Kolleginnen und Kollegen nach sich zieht. Eine solche ökonomische Spreizung der Teilbranchen in einem einzigen Tarifabschluss abzubilden, dürfte mehr als schwierig werden.

Nicht von ungefähr hat der Arbeitgeberverband in Baden-Württemberg in der ersten Verhandlung im Einzelhandel bereits Bedarf angemeldet: »Unternehmen in wirtschaftlich schwieriger Situation sollen über eine ›Notfallklausel‹ Sonderregelungen eröffnet werden.« Daneben machte der Arbeitgeberverband in der ersten Tarifverhandlung im Einzelhandel in Baden-Württemberg folgendes Angebot:

– Tariferhöhungen von fünf Prozent, auch für Azubis

– eine Einmalzahlung (Inflationsausgleichsprämie) von 1.000 Euro, ausgezahlt in zwei Beträgen (750 Euro und 250 Euro); für Azubis insgesamt 350 Euro

– Laufzeit: 24 Monate

Die Mitgliederzahlen von Verdi im Handel sind seit Jahren rückläufig. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Unter diesen Umständen wird es für Verdi mehr als schwierig werden, die Forderungen von 2,50 Euro mehr pro Stunde (das wären in der Ecklohngruppe der Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel rund 14 Prozent) oder die Forderung nach 400 Euro Festgeldbetrag im Groß- und Außenhandel bei einer Laufzeit von 12 Monaten durchzusetzen.

Vor diesem Hintergrund – und angesichts der bisherigen Tarifergebnisse in anderen Branchen – ist eine Überprüfung des Vorgehens in den Tarifrunden im Handel mehr als notwendig. Dabei muss mit den Streikbelegschaften bereits jetzt eine realistische Diskussion zu einem möglichen Tarifergebnis vorbereitet werden. Forderungen nach einer Laufzeit von 12 Monaten im Handel sind mit Blick auf die bisherigen Tarifergebnisse – und zwar in Bereichen, in denen Verdi besser organisiert ist – eher unrealistisch.

Auch die Forderung nach einem Mindest­einkommen von 13,50 Euro in der Stunde ist zu kurz gedacht. Wenn Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sein Versprechen umsetzt, wird zeitnah mit einem Mindestlohn von 14 Euro/Stunde zu rechnen sein. Eine kategorische Ablehnung der Inflationsausgleichsprämie für die Handelsbeschäftigten durch Verdi wird den Belegschaften schwer zu vermitteln sein.

Einheitliche Tarifverträge

In vielen Branchen und vor allem im Handel haben wir nach wie vor Tarifverträge, die auf regionaler Ebene (in den Landesbezirken) abgeschlossen werden. Regionale Besonderheiten, die das einst begründeten, sind aber längst überholt. Regionalität im Sinne einer breiten basisorientierten Beteiligung ist, wie die Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst zeigte, auch ohne regionale Tarifverträge möglich. Statt daran festzuhalten, was unnötig Geld und Zeit kostet, sind Tarifverträge auf der nationalen und internationalen Ebene anzustreben und umzusetzen.

Die maßgeblichen kapitalistischen Unternehmen agieren national und global. Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von Flächentarifverträgen durch bundesweite Tarifverträge oder zumindest Rahmentarifverträge mit Mindeststandards notwendig. Das würde sich auch positiv auf unsere Forderungen zur Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit auswirken.

Davon ausgehend bestehen für den Handel die größten gewerkschaftlichen und branchenmäßigen Schnittmengen in den Bereichen Logistik, Handelslogistik, Spedition und Handelsspedition. In bezug auf die ausgeübten Tätigkeiten, auf die Entwicklungen in den genannten Teilbranchen und Unternehmen und auf die Tarifpolitik ist eine engere und konkretere Zusammenarbeit über Branchengrenzen hinweg möglich und dringend nötig. Daher sollten die Bundesfachbereiche Handel und Postdienste, Speditionen und Logistik die Idee einer gemeinsamen »Bundesprojektgruppe Logistik, Handelslogistik, Speditionen« in den jeweils zuständigen Gremien beraten und festlegen.

Mehr als 20 Jahre nach der Gründung von Verdi ist zusammenzuführen, was zusammengehört. Dabei sollten wir den Blick auf die branchen- und tarifpolitischen Überschneidungen in unserem Organisationsbereich richten. Die Verdi-Fachbereiche müssen dort zusammenrücken, wo es unternehmenspolitisch, branchenpolitisch und tarifpolitisch Sinn ergibt und die Gewerkschaft insgesamt stärkt.

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Der Autor:

Orhan Akman hat diesen Artikel in seiner Eigenschaft als Kandidat für den ver.di-Bundesvorstand geschrieben. Er war bis zu seiner Suspendierung durch den Bundesvorstand Ende August 2022 Leiter der Verdi-Bundesfachgruppe für den Einzel-, Versand- und Onlinehandel. Am 20. Juni verhandelt das Arbeitsgericht Berlin über die Umstände von Akmans Abberufung. Am 5. Juli steht vor dem Landesarbeitsgericht die Berufungsverhandlung über die vom Verdi-Bundesvorstand zugleich ausgesprochene fristlose Kündigung. Im Dezember 2022 hatte das Arbeitsgericht Berlin die Kündigung des Gewerkschafters kassiert.

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.jungewelt.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors hier gespiegelt.
Bild: ver.di