BAG: Nichts ändert sich in der Leiharbeit. Oder doch?

Von Wolfgang Däubler

Auch wenn ver.di entschieden hat, keine Verfassungsbeschwerde einzulegen – die Klagekampagne geht weiter

Die Leiharbeit ist auch für Juristen zu einer Verrücktheit geworden. Die Gerichte machen nicht nur Verrenkungen, sie erklären, dass der blaue Himmel grün sei. Dies sei etwas näher erklärt.

Die Vorgaben des EuGH…

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte am 15. Dezember 2022 (Altenzeichen C-311/21) entschieden, dass die Tarifparteien nach EU-Recht nicht einfach vom Equal-Pay-Grundsatz nach unten abweichen dürfen. Vielmehr müssen sie in einem solchen Fall eine „Ausgleichsleistung“, eine Kompensation vorsehen. Verdient der Leiharbeitnehmer nach seinem Tarif trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit weniger als ein Stammbeschäftigter, muss der Leiharbeitstarif an anderer Stelle einen Ausgleich schaffen. Dies kann z. B. ein längerer Urlaub sein. Begründung: Die EU-Leiharbeitsrichtlinie verlangt, dass der „Gesamtschutz“ des Leiharbeitnehmers auf alle Fälle gewahrt bleiben muss. In der Summe darf er sich nicht schlechter stellen als ein Stammbeschäftigter. Damit hat der EuGH ernst gemacht. Ein Tarifvertrag, der diesen Anforderungen nicht genügt, kann den Equal-Pay-Grundsatz nicht verdrängen.

Die deutschen Leiharbeitstarife enthalten keine Kompensation für niedrigere Löhne. Im Gegenteil: Der Urlaub ist kürzer als z. B. in der Metall- und der Chemieindustrie. Auch wer große Sympathien für die Leiharbeitstarife hat, kann beim besten Willen keinen Punkt erkennen, wo die Leiharbeitnehmer bessergestellt wären als die Stammbeschäftigten. Deshalb erwartete alle Welt (einschließlich der höchst beunruhigten Arbeitgeber), dass das BAG nunmehr Gleichheit herstellen und im konkreten Verfahren der klagenden Leiharbeitnehmerin dieselbe Vergütung wie vergleichbaren Stammarbeitskräften zusprechen würde.

…und die Nichtumsetzung durch das BAG

Doch es kam anders. Bisweilen gibt es sog. verleihfreie Zeiten; der Arbeitgeber findet für den Rest der Woche keinen Interessenten für einzelne Arbeitskräfte. Ärgerlich für ihn, aber eigentlich eine ganz normale Situation in einer Marktwirtschaft. Auch in anderen Bereichen gibt es das: Ins Hotel kommen so wenige Gäste, dass das Personal nicht ausgelastet ist, wegen fehlender Aufträge muss im Metallbetrieb „auf Halde“ produziert werden. Für diese Fälle sieht § 615 Satz 3 BGB vor, dass der Arbeitgeber das Betriebsrisiko trägt; er muss die vereinbarte Vergütung bezahlen, auch wenn nicht gearbeitet werden kann: Er organisiert die Arbeit und kann am ehesten Vorsorge gegen solche Störungen treffen. Dieser Grundsatz kann zwar nicht durch Arbeitsvertrag, wohl aber durch Tarifvertrag abbedungen werden. Hin und wieder geschieht dies auch. Davon gibt es aber eine Ausnahme: Nach § 11 Abs. 4 Satz 2 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) kann bei Leiharbeit auch nicht durch Tarifvertrag abgewichen werden. „Hurra“ riefen vermutlich die BAG-Richter, denn endlich hatten sie eine Bestimmung, bei der Leiharbeitnehmer bessergestellt waren als alle übrigen Arbeitnehmer. Aufgrund dieser Bestimmung müssen Leiharbeitnehmer in den verleihfreien Zeiten immer ihre Vergütung erhalten. Im zwingenden Charakter dieses Grundsatzes sah das BAG eine ausreichende Kompensation für die Benachteiligung im Lohnbereich. Damit sei den Anforderungen des EuGH   Genüge getan; alles kann weitergehen wie bisher.

Der Widerspruch zum EuGH-Urteil liegt im Grunde auf der Hand.

  • Nach der Entscheidung des EuGH muss der Tarifvertrag selbst die Kompensation vorsehen. Ob es im Gesetzesrecht eine unterschiedliche Behandlung für Leiharbeitnehmer und Stammbeschäftigte gibt, spielt keine Rolle. Deshalb kann man nicht auf § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG zurückgreifen.
  • Der Kompensationsbedarf kann sehr unterschiedlich sein. Der eine verdient 10 Prozent, der andere 40 Prozent weniger als ein vergleichbarer Stammbeschäftigter. Kann die Weiterzahlung in den verleihfreien Zeiten wirklich beide Fälle erfassen? M.E. geht das nicht. Auch ist die Entgeltfortzahlung bei Menschen mit besonders geringen Löhnen gleichfalls niedrig; der größere Nachteil wird durch einen geringeren Vorteil „kompensiert“. Das überzeugt wenig.
  • Der EuGH will jeden Fall konkret erfassen. Es fehlt daher an der Kompensation in all jenen Betrieben, in denen es keinen Tarifvertrag gibt, der für die Stammbeschäftigten von § 615 Satz 3 BGB abweicht. Hier liegt keine „Begünstigung“ des nicht beschäftigten Leiharbeitnehmers im Vergleich zum nicht beschäftigten Stammarbeitnehmer vor.
  • Das BAG differenziert nicht zwischen befristet und unbefristet tätigen Leiharbeitnehmern, obwohl dies die Richtlinie tut. Auch werden bei befristet beschäftigten Leiharbeitnehmern verleihfreie Zeiten sehr viel seltener auftreten.
Gibt es Rechtsmittel?

Was passiert, wenn ein nationales Gericht wie das BAG eine Entscheidung des EuGH einfach nicht umsetzt, sondern eine Lösung wählt, die im Widerspruch zu den Vorgaben des EuGH steht?

Dazu findet man in der juristischen Literatur nicht übermäßig viel, weil etwas Derartiges nur recht selten vorkommt. Einig ist man sich darüber, dass ein nationales Gericht nicht von einer Entscheidung des EuGH abweichen darf. Wenn es trotzdem anderer Ansicht ist als das höchste europäische Gericht, muss es diesem erneut die Fragen vorlegen, die seine abweichende Sicht rechtfertigen könnten. Es ist dann Sache des EuGH, darüber nachzudenken, ob wirklich eine unterschiedliche Auffassung vorliegt und ob er seine Position revidieren oder bestätigen will. Er hat immer das letzte Wort, weil nur dann die Einheitlichkeit des europäischen Rechts gesichert bleibt.

Was kann man tun, wenn das nationale Gericht es einfach bei der Abweichung belässt und nicht vorlegt? Meist wird es – wie in unserem Fall – den Standpunkt vertreten, in Wirklichkeit sei es dem EuGH gefolgt. Wie kann eine solche falsche Sicht der Dinge korrigiert werden?

Wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Vorlage nicht nachkommt, ist das Grundrecht des Einzelnen auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 GG verletzt. Er kann deshalb Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen, das schon in vielen Fällen Entscheidungen wegen Nichtvorlage aufgehoben hat. Auch könnte man damit argumentieren, dass es ein rechtsstaatswidriger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit sei, wenn die Schlechterstellung eines Bürgers gegenüber anderen entgegen der Bindung an eine EuGH-Entscheidung erfolgt. Üblich ist jedoch nur die Berufung auf Art. 101 GG.

Warum wurde keine Verfassungsbeschwerde eingelegt?

Im vorliegenden Leiharbeitsfall wären die Chancen einer Verfassungsbeschwerde sehr gut gewesen. Natürlich gibt es bei der Prognose, wie ein Gericht entscheiden wird, nie völlige Sicherheit, aber hier wäre die Wahrscheinlichkeit den Umständen nach sehr hoch gewesen, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte. Zu offensichtlich ist die Abweichung von dem, was der EuGH gesagt hatte.

Weshalb ist kein Rechtsmittel eingelegt worden? Die betroffene Leiharbeitnehmerin wurde von Ver.di vertreten. Zunächst gingen die mit der Angelegenheit befassten Gewerkschaftsjuristen davon aus, dass die Verfassungsbeschwerde eingelegt wird; sie bereiteten auch eine eingehende Begründung vor (die dem Verf. vorliegt). Dann kam der Ukas von ganz oben: Wir legen die Geschichte zu den Akten, es wird keine Verfassungsbeschwerde geben. Wer da im Einzelnen entschied, ist nicht zu ermitteln; vermutlich war es der Ver.di-Vorstand. Der Betroffenen wurde vorher mitgeteilt, dass das Verfahren nicht fortgesetzt werde. Man hat sie nicht etwa gefragt, wie sie die Dinge einschätze und ob sie gerne weitergemacht hätte. Stattdessen wurde sie mit der höheren Vernunft konfrontiert, die man höheren Orts nach verbreitetem (Vor-)Urteil immer besitzt. Bei einer Verfassungsbeschwerde muss man außerdem eine Monatsfrist beachten und kann auch nicht etwa die Begründung nachreichen: Die Entscheidung durch Ver.di erging gegen Ende der Monatsfrist, so dass andere Leute nicht mehr in der Lage waren, mit der Betroffenen zu reden, sich eine Vollmacht zu holen und selbst einen Beschwerdetext zu erarbeiten.

Das schafft kein gutes Gewerkschaftsgefühl. Schreib doch einfach „Wer hat uns verraten? Gewerkschaftsbürokraten“, war der Kommentar von Freunden. Es fällt schwer, ihnen zu widersprechen.

Alternativen in der Zukunft

Doch wie kann es weitergehen? Es gibt drei Möglichkeiten.

Die eine besteht darin, dass ein Arbeitsgericht, das mit einem Leiharbeitsfall befasst ist, den EuGH einschaltet und ihn fragt, ob der zwingende Charakter der Betriebsrisikolehre wirklich eine Kompensation für alle Formen der Schlechterstellung bei der Vergütung ist. Wenn die Antwort – wie zu erwarten – negativ ausfällt, wäre das BAG-Urteil überholt.

Die zweite besteht darin, dass man nicht nur die Vergütung betrachtet, sondern auch alle anderen Benachteiligungen, die in den Leiharbeitstarifen enthalten sind. Das BAG hat nämlich in den letzten Sätzen seines Urteils noch auf einen Ausweg hingewiesen: Wenn Leiharbeitnehmer nicht nur beim Lohn, sondern auch noch bei anderen Leistungen wie dem Urlaub benachteiligt sind, reicht die Bezahlung der verleihfreien Zeit als Kompensation nicht mehr aus. Hier lebe entweder der Equal-Pay-Grundsatz wieder auf oder es müsse die (weitere) Benachteiligung durch das Gericht rückgängig gemacht werden, indem z. B. die volle Urlausdauer gewährt werde. Da die Leiharbeitstarife beim Urlaub, im Rahmen des § 616 BGB und auch in einer Reihe von anderen Punkten eine Schlechterstellung vorsehen, könnten hier aussichtsreiche Prozesse mit dem Ziel der Gleichbehandlung geführt werden.

Die dritte Möglichkeit ist keine juristische und eröffnet sich auch nur für „Fachkräfte“ im weiteren Sinn: Wo es wie z. B. in der Pflege große Nachfrage nach Arbeitskräften gibt, sind die Entleiher bereit, recht hohe Preise für jeden Leiharbeitnehmer zu bezahlen, der über die entsprechende Qualifikation verfügt. Dies kann dazu führen, dass Leiharbeitnehmer sogar besser stehen als Stammbeschäftigte, weil sie wegen ihrer Stellung auf dem Markt ein höheres Entgelt und oft sogar einen Schichtplan verlangen können, der ihren Bedürfnissen entspricht. Es wird in Zukunft voraussichtlich etwa 20 % gut und übertariflich bezahlte Leiharbeitnehmer geben, während 80 % in der bisherigen Misere verbleiben. Möglichkeit eins und Möglichkeit zwei sind daher unverzichtbar. Die Entwicklung wird weitergehen. Das BAG hat nicht das letzte Wort.

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Der Autor: 

Wolfgang Däubler ist Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht. Im Ruhestand (noch aktiv in der Lehre).

 

 

 

 

 

Bild: equalpaystattspaltung.de