Beschäftigte erkranken immer häufiger – besonders die Menschen, die im Care – Bereich arbeiten

Die neuen Gesundheitsreporte der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) haben es in sich. Die Fehlzeiten der Beschäftigten in Deutschland haben ein Rekordniveau erreicht, es wurde das höchste Ergebnis seit dem Start der Analysen im Jahr 1997 gemessen.

Im Jahr 2022 lag der Krankenstand mit 5,5 Prozent um 1,5 Punkte über dem Vorjahresniveau. Das ist der höchste Wert, den die DAK-Gesundheit für ihre 2,4 Millionen erwerbstätigen Mitglieder ermittelt hat, im Durchschnitt fehlten die Beschäftigten fast zwanzig Tage mit einer Krankschreibung an ihrem Arbeitsplatz. Das ist ein Anstieg von 38 Prozent gegenüber dem Jahr 2021.

Im Folgenden werden drei verschiedene Gesundheitsreporte der DAK zusammen dargestellt und die konkrete Arbeits- und Lebenssituation von Beschäftigten im Care – Bereich durchleuchtet.

Für den Gesundheitsreport 2023 hat das IGES Institut in Berlin die Daten von 2,4 Millionen erwerbstätigen DAK-Versicherten analysiert, eine durch das Forsa-Institut durchgeführte Befragung von mehr als 7.000 erwerbstätigen Frauen und Männer im Alter von 18 bis 65 Jahren konzipiert und ausgewertet, sowie zahlreiche Fachleute  eingebunden.

Bei der Datenerhebung kam die umstrittene Digitalisierung der Krankschreibung zur Hilfe. Seit Anfang 2022 gehen die einzelnen Krankmeldungen von den Arztpraxen direkt an die Krankenkassen und müssen nicht mehr von den Versicherten selbst eingereicht werden. Durch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung tauchen nun auch Krankheitsfälle in der Statistik der Krankenkassen auf, die in der Vergangenheit nicht erfasst wurden, weil die gelben Papierzettel bei den versicherten Beschäftigten liegenblieben.

2022 höchster Krankenstand seit einem Vierteljahrhundert

Im Jahr 2022 fehlten 64 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal mit einer Krankschreibung bei der Arbeit. Erwerbstätige, die bei der DAK krankenversichert sind, kamen insgesamt auf fast 20 Fehltage pro Kopf. Das waren rund 5,5 Tage mehr als 2021. Wenn man die Zahl auf alle Erwerbstätigen in Deutschland hochrechnet ergibt sich ein Plus von rund 250.000 Fehltagen.

Die meisten Fehltage verursachten Atemwegserkrankungen, wie Bronchitis und Erkältungen. Das Niveau lag um 172 Prozent über dem vom Vorjahr und erreichte mit 398 Fehltagen je 100 Versicherte einen Rekord. Bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen verzeichnete der Report einen leichten Anstieg um 5 Prozent. Rückenschmerzen und vergleichbare Probleme waren für 354 Fehltage je 100 Versicherte (Vorjahr: 337 Tage) verantwortlich. Bei den psychischen Erkrankungen gab es mit 301 Fehltagen je 100 Versicherte ebenfalls einen neuen Rekord.

Im Branchenvergleich zeigt die Analyse den höchsten Krankenstand im Gesundheitswesen mit 6,4 Prozent und einem Plus gegenüber dem Vorjahr von 1,7 Prozentpunkten. Die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen hatten mit durchschnittlich 23,5 Fehltagen pro Kopf im Jahr die meisten Krankmeldungen. Den niedrigsten Krankenstand hatten Beschäftigte in der Datenverarbeitungsbranche mit 3,5 Prozent und durchschnittlich nur 12,8 Fehltagen pro Kopf und Jahr.

Erneuter Höchststand bei psychisch bedingten Fehltagen

Der Arbeitsausfall aufgrund psychischer Erkrankungen erreichte 2022 einen neuen Höchststand. Mit 301 Fehltagen je 100 Versicherte lagen die Fehlzeiten wegen dieser Erkrankungen um 48 Prozent über dem Niveau von vor zehn Jahren.

Im Vergleich zum Vorjahr hatten junge Beschäftigte den stärksten Anstieg mit 24 Prozent bei den 25- bis 29-jährigen Frauen und 29 Prozent bei den gleichaltrigen Männern. Die mit Abstand meisten Krankschreibungen gab es im Gesundheitswesen.

Über alle Altersgruppen hinweg waren 2022 die Depressionen der wichtigste Krankschreibungsgrund mit 118 Fehltagen je 100 versicherte Beschäftigte. Auf Platz zwei kamen Belastungs- und Anpassungsstörungen mit 77 Tagen. Hier fand mit einem Plus von 12,4 Prozent der stärksten Zuwachs statt. Auf andere neurotische Störungen, wie beispielsweise chronische Erschöpfung entfielen 34 Fehltage je 100 Versicherte und auf Angststörungen 23 Tage.

Obwohl ältere Beschäftigte auch bei psychischen Erkrankungen mehr Fehlzeiten als jüngere haben, zeigen sich jedoch für 2022 bei jüngeren die deutlichsten Zuwächse. Hier ist besonders auffällig, dass bei den Männern die Altersgruppe zwischen 24 und 29 Jahre mit 29 Prozent mehr Fehltagen anfallen. Bei den weiblichen Beschäftigten gab es im gleichen Alter einen Zuwachs von 24 Prozent und die 20- bis 24-Jährigen hatten ebenfalls fast ein Viertel mehr Fehltage als gleichaltrige Frauen im Vorjahr.

Das Gesundheitswesen hatte wegen psychischer Probleme erneut die meisten Ausfälle, gefolgt von der öffentlichen Verwaltung. Diese Branchen liegen sehr deutlich über dem Durchschnitt und zwar um 44 beziehungsweise 20 Prozent. Mit Blick auf die Berufe fällt auf, dass Beschäftigte, die sich in ihrem beruflichen Alltag um das Wohlbefinden anderer Menschen kümmern, am meisten psychisch belastet sind. Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst haben zwei Drittel mehr Fehltage wegen psychischer Erkrankungen als andere, 2022 bezogen auf 100 Versicherte waren es 494 Tage. Altenpflegekräfte gehören mit 480 Fehltagen je 100 Versicherte ebenfalls zu denjenigen, die besonders betroffen sind.

Krank durch Personalmangel – Fast die Hälfte aller Beschäftigten erlebt regelmäßige Personalnot im eigenen Arbeitsumfeld

Überall in Deutschland fehlt Personal. Ständiger Personalmangel ist heute für fast die Hälfte der Beschäftigten eine Realität mit gravierenden Gesundheitsrisiken. Ein Viertel leidet unter Schmerzen, ein Drittel hat Schlafstörungen und mehr als die Hälfte ist komplett erschöpft. Der Krankenstand in Mangelberufen ist bereits heute mit bis zu 7,0 Prozent überdurchschnittlich hoch. 45 Prozent der Beschäftigten erleben regelmäßig in ihrem Arbeitsalltag Personalnot. Besonders betroffen sind Kranken- und Altenpflegekräfte sowie diejenigen, die in der Kinderbetreuung arbeiten. Die große Mehrheit von ihnen geht selbst krank zur Arbeit und betreibt Schindluder mit ihrer Gesundheit.

Die Betroffenen berichten von Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen, starkem Termin- und Leistungsdruck, Überstunden und versäumten Pausen. Beschäftigte, die Personalmangel erleben, können in der Freizeit oft nicht abschalten, verzichten auf Sport und finden wenig Zeit für Hobbys, Familie und Freunde. Stress und Druck einerseits sowie fehlende Erholung und Ausgleich andererseits beeinflussen noch einmal die Gesundheit negativ. Fast die Hälfte ist häufig oder sehr häufig müde und erschöpft (54 Prozent). Rund ein Drittel (35 Prozent) berichtet von nächtlichen Schlafstörungen oder Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems, wie Rückenschmerzen, und mehr als ein Fünftel (23 Prozent) leidet unter Kopfschmerzen.

In vielen Berufsgruppen ist die Situation völlig angespannt. Die Berufsgruppen mit den größten Fachkräftelücken weisen einen um bis zu 1,5 Prozentpunkte erhöhten Krankenstand gegenüber dem Berufsdurchschnitt aus (5,5 Prozent). Zum Beispiel geben drei Viertel (74 Prozent) der Krankenpflegekräfte an, ihre Arbeit mit dem vorhandenen Personal nur unter großen Anstrengungen zu schaffen und die große Mehrheit der Beschäftigten in der Altenpflege (65 Prozent) bestätigt dies. Nur die Mangelberufe im IT-Bereich bilden hier eine Ausnahme.

Der Report für DAK-versicherte Erwerbstätige in der Altenpflege weist für 2022 den höchsten Krankenstand mit 7,0 Prozent aus. Bei den Beschäftigten in der Fahrzeugführung, der Kinderbetreuung und im Maschinenbau waren es 6,8 Prozent, die Krankenpflege hatte 6,1 Prozent. „Man kann von einem Teufelskreis sprechen.

Hohe Fehlzeiten und Personalmangel bedingen einander und verstärken sich jeweils in den Effekten. Dazu kommt, je extremer die erlebte Personalnot ist, desto stärker neigen die Beschäftigten zu Präsentismus. So haben 70 Prozent der Beschäftigten mit regelmäßigem Personalmangel in den vergangenen zwölf Monaten gearbeitet, obwohl sie krank waren, gegenüber 41 Prozent ohne Personalmangel. Jeder betroffene Mensch weiß, dass Präsentismus das Gesundheitsrisiko noch erhöht.

Von den Beschäftigten, die regelmäßig Personalmangel erleben, sagen nur 31 Prozent, dass ihr Betrieb sich für das Wohlergeben seiner Mitarbeiter engagiert. Nur ein Fünftel gibt an, dass in der täglichen Arbeit Gesundheitsaspekte überhaupt berücksichtigt werden. Bei dem Versuch, die betrieblichen Aufgaben unter den Zwängen des Personalmangels zu meistern, wird aktuell in vielen Unternehmen die gesundheitliche Dimension völlig ausgeblendet.

 

Quelle: PM https://www.dak.de/

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Erschreckend ist das Anwachsen der psychischen Erkrankungen bei den Beschäftigten und die paradoxe Situation, dass immer mehr Menschen krank zur Arbeit gehen.

Wer der Frage nachgeht, dass, was Beschäftigte dazu bringt, zu arbeiten, obwohl sie damit möglicherweise ihre Genesung und ihre Gesundheit gefährden, bekommt  meistens die Antwort, es ist die „schlechte Betriebskultur“. Damit ist die fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte, ein schwieriges Meinungsklima und ein Mangel an Unterstützung gemeint. Je stärker die Arbeitsverdichtung ist, desto häufiger wird auch krank gearbeitet. Wenn sich Beschäftigte Sorgen um den Verlust ihres Arbeitsplatzes machen, arbeiten sie ebenfalls häufiger krank. Ein weiterer Grund ist der Einkommensverlust bei Beschäftigten im Niedriglohnsektor und bei der prekären Beschäftigung, dort kommt es oft bei eingeschränkter Konstitution zu tödlichen Arbeitsunfällen.

In den o.g. Reporten der DAK ist immer wieder von den Menschen die Rede, die in dem dritten Sektor der Volkswirtschaft, im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich  beschäftigt sind und die höchsten krankheitsbedingten Fehltage, Anzahl der psychischen Erkrankung und die höchste Zahl an Menschen, die krank zur Arbeit gehen, aufweisen.

Dieser Arbeitsbereich, auch Care-Bereich genannt, wird sich zukünftig weiter vergrößern und entsprechend wird der Bedarf an qualifizierten Beschäftigten ansteigen. Doch zeigt sich schon seit einiger Zeit, dass bei den gegenwärtigen Rahmenbedingungen in diesem Bereich nicht genügend Menschen für diese gesellschaftlich so wichtige Arbeit gewonnen werden können und die Versorgungslücke im Land immer größer wird.

Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Care-Arbeit zu werfen.

Konkrete Arbeits- und Lebenssituation von Beschäftigten im Care – Bereich

Die Beschäftigten im Care-Bereich mussten und müssen ungeheuerliche Änderung über sich ergehen lassen, die nicht nur Auswirkungen auf die tag tägliche Arbeit haben, sondern ihre gesamte Lebenssituation beeinflussen.

Es geht hierbei nicht nur um ein Unbehagen, sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, als Verkäufer sozialer Produkte auftreten zu müssen, bei denen das eigentlich Menschliche zu einem Wettbewerbsfaktor der Markt- und Konkurrenzwirtschaft wird. In dieser sind Zuneigung, Aufmerksamkeit, Hilfe, Sicherheit, Ehrlichkeit und Authentizität zu verkaufen bzw. zu erwerben. Es hat sich ein Geld-Hilfe-Geld-Verhältnis entwickelt, bei dem sich alle Beteiligten dem Diktat der betriebswirtschaftlichen Kenn- und Schlagzahlen unterwerfen und vor allem geht es um Entfremdungsprozesse, die die Beschäftigten völlig zerstören können.

Wirtschaftliches Resourcedenken und das Geld-Hilfe-Geld-Verhältnis als neue Formen von Entfremdung und Verdinglichung

Die Beschäftigten im Care-Bereich als sozialtätige Subjekte erleben die neuen gesetzlichen Auflagen der Bürokratie, das wirtschaftliche Resourcedenken in den Unternehmen und das Geld-Hilfe-Geld-Verhältnis zwischen ihnen und ihren Klienten als neue Formen von Entfremdung und Verdinglichung.

Die vier Entfremdungsebenen nach Marx, die Entfremdung vom Arbeitsprozess, Entfremdung vom eigenen Produkt, Selbstentfremdung und Entfremdung von der Gattung, die erlebt werden, können in relativ kurzer Zeit die Beschäftigten physisch und psychisch zerstören.

Die Beschäftigten sind einem System ausgesetzt, in dem z.B.

  • die „Produktion von sozialen Dienstleistungsangeboten“ auf der Versachlichung des Dialogischen zwischen ihnen und dem Klient/Patient beschränkt ist und eine klar definierte und zeitliche vorgegebene Ergebnisrealisierung erwartet wird.
  • der Face-to-Face Bezug als Prozess der pädagogischen, sozialen und pflegerischen Arbeit zum marktkonformen Standard und der Andere zum bloßen Gegenstand wird.
  • die Kosten-Nutzen-Analyse und der Wirtschaftsplan den persönlichen und sozialen Sinn der Realisierung des Arbeitsprozesses dominieren.
  • der Hilfeakt bzw. der pädagogische Dienst zum Geschäft-Vertrag-Standard wird und den Dialog bewusst verhindert. Psychotechnische Verfahren im Alltag von pädagogischen bzw. sozialen Einrichtungen, wie BSC, EFQM, DIN-En-Iso, wurden als aktualisierte Methoden aus dem Fordismus entwickelt und geben Arbeitsablauf und Arbeitstakt vor.
  • die Flexibilität als positives Markenzeichen gilt, jedoch die Forderung bzw. Bereitschaft sich (selbst) zu instrumentalisieren meint.
  • pathogene Selbstbilder wie Körperimago/Magersucht/Burnout eine hoch zweckmäßige Kompensation wie auch Deprivation bewirken.
  • das Auf- und Absteigen innerhalb der gesellschaftlichen Klassen als normaler Vorgang bewertet und dem individuellen Fleiß oder der Risikobereitschaft zugeordnet wird.
  • das Privatkapital auf den Sozialmarkt drängt, der staatlich alimentiert und in Zeiten der Krise sichere Anlagemöglichkeiten verspricht.
  • die Gentrifizierung städtischen Wohnraums immer mehr Gewalt gegen Senioren, Behinderte und „Normalverdiener“ ausübt, in dem Ghettoisierung der Lebensverhältnisse und Unbezahlbarkeit von Gesundheit, Bildung, Teilhabe und Sicherheit für die Mehrheit der Bürger vorherrscht

und in dem die Sozialraum-Philosophie da endet, wo schlicht die Lebenskosten für die Menschen die Ausgrenzung bedingen und sie in die Klassenschranken verweist.

Für den Einzelnen sind diese Prozesse schwer zu erkennen, da sie sich schleichend entwickeln, gepaart mit einer Salamitaktik seitens der Anstellungsträger bzw. Unternehmen.

Aushalten

In dieser konkreten Lebens- und Arbeitssituation müssen die Beschäftigten z. B. aushalten, dass

  • trotz eklatanter Unterbesetzung, die Stellenpläne nicht eingehalten werden müssen.
  • durch den Personalmangel die Klienten und Patienten schlecht oder gar nicht versorgt werden können.
  • das Geld, das der Kostenträger für Personal bereitstellt, beim Anstellungsträger auf die hohe Kante oder in die „Rückstellung“ gelegt wird

und der Kostenträger augenzwinkernd öffentlich kundtut, dass der Anstellungsträger auch einen finanziellen Anreiz für die Durchführung der Aufgabe benötigt und nicht abspringt bzw. das System von Geben und Nehmen verlässt.

Kommunikationssystem kommt ins Wanken

Die Ideologie der Privatisierung der Gesundheits-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen hat mittlerweile einige unumkehrbare sozialpolitische Fakten geschaffen, wie:

  • Die Sozialstandards wurden auf ein tiefes Niveau abgesenkt.
  • Die Sozialbürokratie hat vornehmlich Aufgaben des Socialcontrolling mit den Instrumenten Aktivierung und Sanktionierung übernommen.
  • Ganz im Sinne der betriebswirtschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung steht die Vermarktung des Einzelfalls am Anfang jeder Maßnahmenkette und begleitet sämtliche weiteren Maßnahmen als Wirkungs- und Erfolgsbilanzierung.
  • Das „Salesmanagement“ durchdringt Leitungsgremien und Mitarbeiterteams, eingebettet in eine Neuorganisation des Gesamtbetriebes, die die Marktfähigkeit und den Verkauf des Sozialprodukts im Konkurrenz- und Preiskampf behaupten soll.
  • Innerhalb des Dienstleistungsprozesses im Bereich Gesundheit, Bildung und Soziales entstehen neue, leistungs- und ergebnisorientierte Strukturen, wobei die sozialkulturellen Beziehungen zwischen den Akteuren entfremdet werden, weil sie monetarisiert wurden.
  • Der Staat und die Sozialbürokratie organisieren die Marktgesellschaft als Gesamtheit und garantieren eine zielführende Funktionalität seiner Bürger.
  • Die Messbarkeit und damit auch die Kontrolle und Steuerungsmöglichkeit der gesamtgesellschaftlichen Arbeit findet letztendlich sowohl im Produktions- als auch im Dienstleistungssektor statt, wobei dieser Dienstleistungssektor noch immense Einsparungsmöglichkeiten, vorrangig bei den gesellschaftlichen Bildungs-, Gesundheits- und Sozialleistungen bietet.

Die erlebte Entmündigung führt in der Berufspraxis dann häufig zu spontanen und situativ ausgerichteten Widerständen, die schnell regelmäßig in nicht steuerbaren Konfliktsituationen münden.

Da der Konkurrenzkampf auch unter den Beschäftigten herrscht, wird der Konflikt von allen Beteiligten schnell individualisiert, denn dort, wo der Markt herrscht, herrscht auch die Vorteilsnahme auf Kosten Anderer. Es gilt der Wettbewerb, die Konkurrenz und brutale Durchsetzung von Eigeninteressen, als Voraussetzung für persönlichen und wirtschaftlichen Erfolg. Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit gewinnen die Oberhand. Mitgefühl, Empathie, Kooperation und Solidarität sind fehl am Platz. Das gesamte Kommunikationssystem im Arbeitsprozess kommt ins Wanken.

Alles, was den Beschäftigten früher als Kleinkinder von der Familie oder in den pädagogischen Einrichtungen und auch in ihrer Fachausbildung als Norm vermittelt wurde, steht nun den tatsächlichen Rahmenbedingungen, Normen und Werten und sogar Gesetzen entgegen.

Sie empören und schämen sich, wenn berechtigte Interessen oder Ziele der ihnen anvertrauten Menschen nicht berücksichtigt werden, deren Gefühle verletzt und ihnen in der Not Hilfen verweigert werden.

Die neoliberale Gesellschaft produziert Individuen, die auf die Funktion des Konsumenten reduziert sind, als Norm gilt nur die aktuelle Effizienz, das Ziel ist Gewinn und die Tugend Habgier. In ihr gibt es keinen fürsorgenden Staat und kein unabhängiges Individuum mehr. Die Instanzen, die früher helfen sollten, wie Beratungsstellen, Erziehungshilfe und das Gesundheitswesen sind selbst Teil des Wettbewerbs geworden und wollen die Ursachen dieser schrecklichen Entwicklung nicht mehr bekämpfen.

Je mehr die neoliberale Ideologie Einzug in das politische Handeln findet, desto weniger wird es die Verwirklichung sozialer Menschenrechte geben!

Die Gewerkschaften

Die Arbeit in den Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereichen ist, wie die Care-Arbeit insgesamt, eingebettet in ein System korporatistischer Regulierung und marktlich-wettbewerblicher Steuerung, mit vielfältigen horizontalen und vertikalen Arenen der Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen.

Die isolierten Arbeitsrechtssysteme, Akteursstrukturen, Verhandlungsszenarien und Handlungsroutinen haben nicht nur eine aufgesplitterte Landschaft tariflicher Abschlüsse und Vereinbarungen hervorgebracht, sondern dieses verbändegeprägte Institutionensystem trägt dazu bei, dass die Verhandlung und Durchsetzung arbeitspolitischer Interessen in der Care-Arbeit gegenüber der Politik, aber auch gegenüber anderen Wirtschaftsbranchen, zurzeit erheblich erschwert ist. Das System der Arbeitsbeziehungen ist historisch gewachsen und letztlich das Ergebnis einer zwischen Staat, Wohlfahrtsverbänden und Wirtschaft verhandelten Ordnung.

Die Gewerkschaften haben tatenlos zugeschaut als das Kapital antrat, sich in die Care-Wirtschaft einzukaufen und sie durch betriebswirtschaftliches Management, Fallpauschalen, Budgetierung und Pflegesatzverhandlungen aufzuwerten, zu dem Preis der Abwärtsspirale bei Löhnen  und Arbeitsbedingungen. Die Ökonomisierung von Care-Arbeit ist aber nicht allein das Ergebnis der Einführung marktlich-wettbewerblicher Mechanismen in den Sozialsektor, sondern die Lohnsenkung wurde auch durch das Zusammenwirken von branchenspezifischer Regulierung und Steuerung möglich, sie war immer schon eingebettet in einen fragmentierten und desorganisierten institutionellen Rahmen zur Aushandlung von Arbeitsbedingungen.

Das wichtigste Anliegen der Gewerkschaften ist es und war es immer schon, den Faktor Arbeit zu kartellieren und Vollbeschäftigung zu erreichen. Dabei sollte es um jede Stelle gehen, die, wenn möglich, mit einem Mitglied besetzt ist. Für den Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich bzw. dem gesamten Care-Bereich scheint das nicht mehr zu gelten. Obwohl die zuständigen Gewerkschaften die Ausbeutung und Überlastung der Beschäftigten anprangern, lassen sie es zu, dass Betrügereien mittlerweile systematisch ablaufen können. Ihnen ist bekannt, dass in den einzelnen Einrichtungen Stellen nicht besetzt sind und die meist öffentliche Finanzierung dafür weiterläuft, mit Wissen und Duldung der Beteiligten.

Die Gewerkschaften scheuen sich, dieses kriminelle Vorgehen der Unternehmer zu skandalisieren und die Aufsichtsgremien und -behörden zu informieren. Sie haben Angst, dass die Betriebe, die zu Unrecht kassierten öffentlichen Personalkosten zurückzahlen müssen und die Einrichtung in die Insolvenz geht, mit dem größeren Verlust von Arbeitsplätzen als bei der Nichtbesetzung. Sie haben seit vielen Jahren dabei nur zugeschaut, wenn der Anstellungsträger schlechter bezahlte Leiharbeitskräfte über eigene Sozialdienstleistungsgesellschaften eingesetzt und den Konflikt dahin ausrichtet hat, darüber mit anderen Gewerkschaften intern zu streiten, ob die outgesourcten Beschäftigten zu ihrer oder einer anderen Gewerkschaft gehören.

Die Situation der Beschäftigten selbst, scheint ihnen egal zu sein. Sie lassen ihre Mitglieder im Regen stehen, die immer wieder mit Kündigung, Geschäftsgeheimnisverrat und Schadensersatzleistungen von den Unternehmen bedroht werden, wenn sie als Whistleblower die zuständigen Stellen informieren oder an die Öffentlichkeit gehen.

Umso mehr sind die gewerkschaftliche Selbstorganisation und die Bereitschaft zum Arbeitskampf für die Beschäftigten vonnöten, auch deshalb, um nicht an der Entfremdung zu zerbrechen und zu erkranken.

 

 

 

 

 

 

Quellen: Report Mainz, Monitor, RN, K.P. Schwarz: Die Vermarktwirtschaftlichung sozialer Hilfebedarfe, WAZ, Michaela Evans/Institut Arbeit und Technik (IAT), Butterwegge, Heitmeyer, Ossietzky, Arbeitsbeziehung der Care-Arbeit im Wandel: /library.fes.de/pdf-files/wiso/12940.pdf, Frigga Haug, Gabriele Winker
Bild: Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW)