Der öffentliche Dienstleistungssektor muss seine zentrale Rolle als Investor und Job-Motor wieder aufnehmen

Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst mit den Tarifverhandlungen zwischen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und dem Bund auf der einen Seite sowie den Gewerkschaften ver.di und dbb beamtenbund und tarifunion auf der anderen Seite ist am 1. September 2020 angelaufen.

Vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen (TVöD) sind insgesamt etwa 2,7 Millionen Beschäftigte betroffen: Rund 2,3 Millionen Beschäftigte, Auszubildende und Praktikanten des Bundes und der Kommunen, rund 225.000 Bundesbeamte und Anwärter sowie weitere Bereiche, für die der TVöD direkte Auswirkungen hat.

Der öffentliche Sektor umfasst mehr als 6,8 Millionen Menschen, davon arbeiten 4,617 Millionen im klassischen öffentlichen Dienst bei Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherung bzw. Bundesagentur für Arbeit.

Mehr als 2,7 Millionen Beschäftigte sind Tarifkräfte und rund 1,702 Millionen stehen in einem Beamtenverhältnis. Die tatsächliche Zahl der Beamten liegt deutlich höher, aber die mehr als 150.000 Beamten der Postnachfolgeunternehmen werden vom Statistischen Bundesamt seit einigen Jahren nicht mehr in der Personalstatistik erfasst.

Folgende Forderungen werden von den Gewerkschaften ver.di und dbb in der Tarifrunde gestellt:

  • Erhöhung der Tabellenentgelte um 4,8 Prozent, mindestens 150 Euro (Laufzeit 12 Monate)
  • Erhöhung der Ausbildungs- und Praktikantenentgelte um 100 Euro
  • Angleichung der Arbeitszeit Ost an West
  • Verbesserung der Arbeits- und Entgeltbedingungen im Pflegebereich

und Verlängerung und Verbesserung der Regelungen zur Gewährung von Altersteilzeit.

Massiv wird derzeit von den Gewerkschaftsmitgliedern öffentlich gemacht, dass trotz gestiegener Ansprüche an den öffentlichen Dienst in den letzten 20 Jahren erheblich Personal abgebaut wurde. Die Bürger erleben hautnah, dass im Vergleich zum Jahr 2000 rund 256.400 Beschäftigte weniger für sie da sind. Dies wurde auch während der Corona-Pandemie nicht nur im Gesundheitsbereich deutlich, sondern der gesamte öffentliche Dienstleistungsbereich ist an vielen Orten nur noch eingeschränkt leistungsfähig. Deshalb ist es unverständlich, dass der verdi-Vorsitzende Frank Werneke ohne Not zu diesem frühen Zeitpunkt verkündet, dass „die Beschäftigten in dieser Tarifrunde keine Arbeitskämpfe anstreben“. So nimmt er bewusst den gerade günstigen Wind aus den Segeln.

Kontinuierlicher Stellenabbau

Aufgrund der Sparpolitik sind seit dem Jahrhundertwechsel die Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Dienst um mehr als 250.000 zurückgegangen und das hatte verheerende Auswirkungen auf die dort tätigen Menschen.

Die Situation der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst stellt sich folgendermaßen dar:

  • Die Sanierung der öffentlichen Haushalte erfolgte vor allem durch den massiven Personalabbau und der Einschränkung der Leistungen für den einzelnen Bürger. Die Lücken sind so groß geworden, dass sie in absehbarer Zeit kaum zu schließen sind.
  • Verglichen mit anderen Sektoren wurden überdurchschnittlich viele Befristungen der Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst eingeführt, der Anteil der befristet Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist mit elf Prozent weiterhin der höchste.
  • Seit Jahren fehlen Neueinstellungen, daher steigt der Altersdurchschnitt beim vorhandenen Personal immer weiter an. Derzeit besteht eine enorme Schieflage in der Altersstruktur der öffentlich Bediensteten, von den 4,65 Millionen Beschäftigten bei Bund, Ländern und Kommunen werden in den nächsten 15 Jahren circa 1,5 Millionen Beschäftigte altersbedingt ausscheiden.
  • Für den eigenen Nachwuchs wird und wurde nur unzureichend ausgebildet. Selbst jene Stellen, die altersbedingt frei werden, können kaum noch besetzt werden. Es wird immer schwieriger für zusätzliche Stellen qualifiziertes Personal und Büroräume zu finden. Vor allem Schulen und Kitas, Polizei, Feuerwehr und Haftanstalten, Bau- und Sozialämter, Gesundheits- und Jugendeinrichtungen suchen dringend Personal.
  • Nach der Ausbildung gehen viele Bewerber lieber zu Bundesbehörden, in die großen Städte oder in die private Wirtschaft, weil sie dort in der Regel besser bezahlt werden.
  • Die Dauer der Besetzungsverfahren ist meistens viel zu lang, dazu fehlt es schlichtweg an Interessenten und wenn jemand gefunden wird, der vorher in einer anderen Behörde gearbeitet hat, gehen die Kämpfe um diese Person los. Bis der neue Mitarbeiter die alte Stelle verlassen kann, vergehen oft Monate

und

der hohe Krankenstand lähmt die öffentlichen Einrichtungen und Behörden immer mehr.

Die Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen sind erheblich angestiegen, wobei der Zusammenhang zwischen der Höhe des Krankenstands und der Sorge um den eigenen Arbeitsplatz sowie der Überlastung immer deutlicher zutage tritt. Dazu hat der  Personalabbau in den vergangenen Jahren zu einer Arbeitsverdichtung geführt, die die Beschäftigten anfälliger für Krankheiten macht.

Damit es halbwegs rund läuft, werden Überstunden geleistet

Im Jahr 2019 machten die Beschäftigten in Deutschland rund 969 Millionen bezahlte und ca. 957 Millionen unbezahlte Überstunden. Die meisten unbezahlten Überstunden fielen vor allem im Öffentlichen Dienst an, dort vor allem in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kitas und Schulen. Einige Einrichtungen sind ohne Überstunden nicht mehr in der Lage, ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen und die Überstunden sind eine reale Arbeitszeitverlängerung.

Gewerkschaftliche Lohnpolitik ist mehr als für real 3 Prozentpunkte zu kämpfen
  • Vielen an den Verhandlungen beteiligten Beschäftigtenvertretern ist die Wichtigkeit der Lohnpolitik kaum bewusst. Der Lohnentwicklung kommt eine große gesamtwirtschaftliche und – gesellschaftliche Bedeutung zu, sie kann z.B. solche Auswirkungen entfachen:
  • Löhne bzw. Entgelte sind der größte Kostenfaktor für die Unternehmen, deshalb hat die Auseinandersetzung um sie immer einen besonderen Stellenwert für die Gewerkschaftsbewegung. Lohn- und Entgelterhöhungen steigern die Konsumnachfrage, stabilisieren damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und tragen so zur Sicherung der Arbeitsplätze bei, ohne dass von der Lohnseite inflationstreibende Effekte ausgehen.
  • Wenn die Einkommen durch höhere Tarifabschlüsse steigen, schlägt sich das auch bei den Renten nieder. Entscheidend für die Rentenberechnung ist die Entwicklung der Bruttolöhne. Der Rentenwert ergibt sich aus den Bruttolöhnen des Vorjahres. Steigen diese an, wird auch dieser Wert angehoben.
  • Lohndumping der letzten Jahre bei uns mit seinen geringen Lohnstückkosten ist eine der wichtigsten Ursachen für die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, für das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit der Mitglieder der Europäischen Währungsunion (EWU), für die Handelsungleichgewichte und somit eine Hauptursache der Eurokrise.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung ist verantwortlich für das Außenhandelsgleichgewicht, ob mehr im- als exportiert wird. Wenn der meiste Handel auch noch mit Ländern im gleichen Währungsraum stattfindet, sind die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten im Vergleich zu denen der Währungspartnerländer der wichtigste verbleibende Faktor dafür, ob es Handelsüberschüsse oder -defizite gibt. Auch der europäische und weltweite Markt funktioniert so: Wächst eine Volkswirtschaft, so muss eine andere naturgemäß schwächer werden. Das Vermögen der einen sind die Schulden der anderen.
  • Das Märchen von der Lohnentwicklung, die von den Tarifparteien ausgehandelt wird, wird zwar immer wieder erzählt, dadurch aber nicht zutreffender. Lohnpolitik ist abhängig von der Wirtschaftspolitik der Regierung, was seit der Agenda 2010 und der HARTZ -Gesetze einfach zu belegen ist.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung hat einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Preise, weil die Vorleistungen, die die Industrie neben dem Faktor Arbeit zur Produktion benötigt auch von den anfallenden Kosten bestimmt wird. Diese Vorleistungen bestehen gesamtwirtschaftlich betrachtet vor allem aus Lohnkosten.
  • Seitdem der Euro eingeführt wurde, blieben die deutschen Löhne bzw. Lohnstückkosten auf niedrigem Niveau, mit der Folge, dass die Preise bei uns nicht anstiegen. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit verbesserte sich um fast 25 Prozent. In Südeuropa stiegen die Preise enorm an, die Waren und Dienstleistungen verteuerten sich gegenüber dem Ausland immens- mit den bekannten Folgen.
  • Die Lohnentwicklung hat maßgeblich zur Verarmung beigetragen, mit Auswirkungen bis in die sogenannten Mittelschichten hinein.
  • Die Umverteilung von unten nach oben ist als Ursache für die wirtschafts- und finanzpolitische Krise seit nunmehr 8 Jahren zu sehen. Die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hat nachweislich zur Destabilisierung des gesamten Finanzsystems beigetragen.

Trotz dieser Fakten wurde gerade im Dienstleistungssektor die These „privat vor Staat“ in die Praxis umgesetzt und die Grundversorgung der Bevölkerung kaputt gespart.

Während die Sozialabgaben genauso hoch wie früher sind, entsprechen die sozialen Dienstleistungen und auch die öffentliche Infrastruktur nicht mehr den Anforderungen und den Ansprüchen der Mehrheit der Bevölkerung. Herausragende Problemfelder sind die Gesundheitsversorgung, vor allem auch der Bereich der Versorgung für die ältere Bevölkerung und der eklatante Lehrer- und Erziehermangel.

Behoben werden kann der Mangel nur, wenn vorhandene oder zu schaffende finanzielle Mittel zum Ausbau der Infrastruktur mit einem umfangreichen Investitionsprogramm für den Ausbau eines modernen Sozialstaats eingesetzt werden.

Ohne über das Ergebnis der Verhandlungen spekulieren zu wollen, kann heute schon gesagt werden, dass der Verhandlungsabschluss nicht reichen wird, um die konkrete Lebens- und Arbeitssituation der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst zu verbessern oder gar das Angebot in den öffentlichen Einrichtungen für die Menschen wieder als attraktive Dienstleistung gestalten zu können.

 

 

Quellen. destatis, ver.di, dgb, wdr, https://de.statista.com

Bild: ver.di