DGB-Gewerkschaften im Sinkflug – sie haben es nicht verhindert, dass die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen faktisch abgeschafft ist

Für Gewerkschaften gibt es nichts Wichtigeres als Mitglieder. Wenn sie die Unternehmen nicht mit Mitgliedern beeindrucken können, können sie sie auch nicht mit Streikdrohungen erschrecken. Wer nicht einmal mit Streiks drohen kann, der braucht an den Tischen der Tarifverhandlungen gar nicht erst Platz zu nehmen.

Die Zahl der Mitglieder, die in den DGB-Gewerkschaften organisiert sind, ist seit der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte eingebrochen. Im Jahr 2017 ist sie erstmals unter 6 Millionen gesunken. Zum Jahresende 2021 waren es noch 5.7 Millionen Mitglieder, gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 130.000.

Von offizieller Seite wird diese Entwicklung hauptsächlich auf die demografische Entwicklung, Beschäftigungsabbau allgemein, Strukturwandel in der Berufswelt und neuerdings zusätzlich noch auf die Pandemie, mit ihrer erschwerten Mitgliederwerbung geschoben. Doch diese Sichtweise ist mehr als kurzsichtig, die Gründe sind vielfältiger und durch den DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften auch hausgemacht.

Zum Beispiel haben die DGB-Gewerkschaften es nicht verhindert, dass in Deutschland die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen faktisch abgeschafft ist.

Von den aktuell rund 73.000 als gültig in das Tarifregister eingetragenen Tarifverträgen sind zurzeit noch 443 allgemeinverbindlich, darunter 230 Ursprungs- und 213 Änderungs- bzw. Ergänzungstarifverträge und 125, die auch in den neuen Bundesländern gelten.

Der Begriff der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen ist bei den meisten Beschäftigten schon wieder aus dem Kopf, viele hörten während der Tarifauseinandersetzung im Handel vor 2 Jahren zum ersten Mal davon. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) hatte seit Beginn der Auseinandersetzung mit den Handelsunternehmen auch die Forderung erhoben, die Tarifverträge des Einzelhandels für allgemeinverbindlich zu erklären.

Noch bis Ende der 1990er Jahre waren die wesentlichen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt worden. Damit galten ihre Bestimmungen auch für Unternehmen der Branche, die nicht den Unternehmensverbänden angeschlossen waren und für die nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten.

Im Jahr 2000 hatte die rot-grüne Bundesregierung die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben und öffnete im beinharten Konkurrenzkampf den Unternehmen Tür und Tor, sich aus der Tarifbindung zu verabschieden und sich so durch niedrigere Löhne und längere Öffnungszeiten Kostenvorteile zu schaffen. Flankierend dazu führten die Unternehmensverbände Mitgliedschaften „ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaften) ein.

Seither ist die Tarifbindung dramatisch zurückgegangen, selbst dort, wo noch Tarifverträge existieren, werden sie kaum noch für allgemeinverbindlich erklärt.

Nun ist dieses Manko den Gewerkschaften auf die Füße gefallen, denn sie sind derzeit in Lage, aktuell deutliche Lohnsteigerungen vor allem im unteren Bereich durchzusetzen. Wenn die Branchentarifverträge allgemeinverbindlich würden, könnte das den Niedriglohnsektor deutlich reduzieren, Lohndumping verhindern und auch eine Rechtsgrundlage für eine tarifgerechte Bezahlung von geringfügiger Beschäftigung  schaffen.

Tarifverträge sind für allgemeinverbindlich zu erklären – Beispiel Einzelhandels

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Unternehmen und der Beschäftigten bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären.

Bei den allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen im Einzelhandel galten die  Bestimmungen auch für die nicht den Arbeitgeberverbänden angeschlossenen Unternehmen der Branche und für die nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten.

Mit dem Jahr 2000 begann sich diese Situation zu ändern.

Die Unternehmerverbände des Handels – der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e. V. (BGA) führten Mitgliedschaften „ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaften) ein. Außerdem lehnt die Unternehmerseite es seither ab, gemeinsam mit ver.di die Allgemeinverbindlichkeit der ausgehandelten Tarifverträge zu beantragen.

Auf Druck der organisierten Unternehmerschaft hatte damals die rot-grüne Bundesregierung die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben. Mittlerweile sind nur noch knapp ein Drittel der Betriebe im Handel bundesweit tarifgebunden und 80 Prozent der Betriebe im Einzelhandel wenden keinen Tarifvertrag an. Auch bundesweit agierende große Ketten wie Edeka, REWE, dm, Rossmann, Obi, Thalia, Amazon, Zalando, Hornbach, C&A, Kik und Woolworth sind nicht mehr in der Tarifbindung.

Im Jahr 2014 erfolgte ein Versuch, durch das Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AEV) von Tarifverträgen zu vereinfachen, der Vorstoß hatte jedoch zu keinen spürbaren Verbesserungen geführt.

Zwar ist die Vorschrift entfallen, dass für eine Allgemeinverbindlichkeit für die tarifgebundenen Unternehmen mindestens die Hälfte der in der Branche oder dem jeweiligen Tarifgebiet Beschäftigten tätig sind, aber seither müssen nun beide Tarifparteien einen Antrag auf  Allgemeinverbindlichkeit stellen. Zuvor war dafür nur eine Partei erforderlich und im paritätisch besetzten Tarifausschuss ist weiterhin eine Stimmenmehrheit notwendig, was letztlich der Unternehmerseite de facto ein Vetorecht verschafft.

Die Neuregelung im Jahr 2015 hat dazu geführt, dass keine neuen Anträge auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf der Unternehmerseite zu verzeichnen waren. Aufgrund dieser Entwicklung hatte der Bundesrat im Juni 2019 in einer Entschließung die Bundesregierung zu „Überlegungen“ aufgefordert, „wie die Rahmenbedingungen des Verfahrens zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen verbessert werden können“. Ein Antrag der Bundesländer Bremen, Berlin, Thüringen und Hamburg zur Verbesserung des Verfahrens wurde 2021 im Bundesrat jedoch abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund trat ver.di in den Tarifrunden 2021 und im Bundestagswahlkampf für eine Stärkung der Tarifbindung und die Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen im Einzel- wie im Großhandel ein, auch, um die schlechten Arbeitsbedingungen zu thematisieren und die Altersarmut der heute Beschäftigten zu verhindern. Dazu forderte die Gewerkschaft eine Änderung der geltenden Gesetze, um die AEV von Tarifverträgen zu erleichtern und vor allem eine Abschaffung des Vetorechts der Unternehmen.

Doch die Umsetzung der Forderung der Gewerkschaft, die tarifvertraglich festgesetzten Einkommen durch das Arbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, ist am Veto der Unternehmerseite gescheitert.

Nur halbherzige politische Vorstöße

Schon einige Vorgängerkoalitionen hatten immer wieder angekündigt, dass sie die Tarifbindung erhöhen wollen. Geschehen ist aber wenig.

Eine Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, konkret die Erleichterung der AVE durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz im Jahr 2014 blieb in der Praxis ohne Wirkung, da das Mittel der AVE aber einen repräsentativen Branchen-Tarifvertrag voraussetzt.

Über den Hebel des Entsendegesetzes konnten zwar für einige Branchen zumindest die unteren Entgeltgruppen allgemeinverbindlich erklärt werden, weil beim Entsendegesetz die BDA-Vertreter die AVE nicht mehr blockieren können und auch der Tarifausschuss muss nicht mehr mehrheitlich zustimmen. Aber auch so eine AVE muss von beiden Tarifvertragsparteien beantragen werden, was die jeweiligen Unternehmensverbände in der Regel verweigern.

Auch im Rahmen des Tarifvertragsgesetzes wurde nur wenig erreicht. Zwar hatte man gestrichen, dass die tarifgebundenen Unternehmen im entsprechenden Tarifbereich mindestens 50 Prozent der Beschäftigten repräsentieren müssen, damit ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich werden kann. Da aber die Frage im Raum steht, ab wann ein Tarifvertrag als repräsentativ gilt, wird häufig immer noch eine hohe Tarifbindung verlangt. Die hohe Tarifbindung ist aber nicht erreichbar, weil die Unternehmerverbände sie selber z.B. durch die Einführung der OT-Mitgliedschaft gesenkt haben. Maßgeblich aber ist vor allem, dass die Unternehmerverbände hier immer noch doppelt blockieren können, weil eine AVE voraussetzt, dass der abschließende Tarifverband den Antrag auf AVE mitträgt u n d dass die BDA-Vertreter im Tarifausschuss zustimmen. Eine AVE ist deshalb kaum noch möglich.

Ein weiterer halbherziger politischer Vorstoß zur AEV ist im Jahr 2021 gescheitert. SPD, Bündnis90/die Grünen und auch die Partei die Linke hatten in ihren Wahlprogrammen eine erleichterte AVE gefordert, doch schweigt sich der Koalitionsvertrag dazu aus.

Zuletzt hatten die Bundesländer Bremen, Berlin und Thüringen im Frühjahr 2021 dazu einen Stein ins Wasser geworfen und den entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht. Weil der Vorstoß aber nur von Hamburg unterstützt wurde, scheiterte das Ganze wieder einmal kläglich.

An einer Änderung des Tarifvertragsgesetzes zur Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge geht kein Weg vorbei, wenn die Koalition wie angekündigt die Tarifbindung erhöhen will. Tarifverträge müssen auch ohne Zustimmung der Unternehmerseite für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

Die halbherzigen Vorstöße der Politik bei der wichtigen Wiedereinführung der AEV von Tarifverträgen kann nur so gedeutet werden, dass schon seit Jahrzehnten niemand in den Regierungsparteien daran Interesse hat, stabile Flächen– und Branchentarifverträgen zur Norm zu machen.

Zur Durchsetzung dieser Forderung sollte auch der politische Streik genutzt werden

In Deutschland arbeiten rund 21 Prozent aller abhängig beschäftigten Menschen im Niedriglohnsektor. Er umfasst Beschäftigte, deren Stundenlöhne nur bis zu 2/3 des Median-Stundenlohns betragen. Dieser Niedriglohnsektor wurde in den letzten Jahren trotz guter Arbeitsmarktentwicklung, steigender Realeinkommen und sinkender Arbeitslosigkeit nur wenig reduziert, sondern diente so dazu, die Exportweltmeisterschaft und Konkurrenzvorteile auf dem Weltmarkt zu sichern.

Damit dies so bleibt, wurden zuletzt die „Sozialpartner zu einer konzertierten Aktion“ von Bundeskanzler Scholz eingeladen, bei der man auf die hohen Preise reagieren wollte und um gleichzeitig die Gewerkschaften davon abzuhalten, dass sie ihre Forderung in Höhe der Inflationsrate stellen. Dabei haben sie das Märchen von der „Lohn-Preis-Spirale“ aus der Mottenkiste geholt und sich untereinander erzählt. Als das Märchen zu Ende erzählt war, lag dann auch die Sonderzahlung als Wunderwaffe in Tarifkonflikten auf dem Tisch.

Mit den nicht tabellenwirksamen Sonderzahlungen wurde gleichzeitig auch eine permanente Lohnabsenkung vereinbart. Dieses Vorgehen ist von langer Hand vorbereitet und geschickt verpackt worden. Die Sonderzahlungen werden in Zukunft weiter ausgebaut und immer mehr mit Bedingungen, wie z.B. an eine Gewinnentwicklung des Unternehmens auszurichten, verbunden: Beschäftigte in Betrieben mit großem Profit erhalten höhere Einmalzahlungen als diejenigen, die sich in kleineren Betriebe der Branche verdingen müssen.

Das sind alles Entwicklungen, die eine Wiederbelebung der Flächen- und Branchentarifverträge und der Steigerung der Tarifbindung diametral entgegenstehen.

Ohne konkrete Gegenmacht wird das auch so bleiben.

Unter Gegenmacht ist in diesem Zusammenhang vor allem der politische Streik zu sehen, den es durchaus auch schon in der Bundesrepublik gegeben hat. Als der DGB im Sommer 1951, angesichts der unnachgiebigen Haltung der Adenauerregierung gegenüber den Neuordnungsforderungen der Gewerkschaften die Mitarbeit in den wirtschaftspolitischen Gremien der BRD eingestellte, sich konfliktbereit zeigte und der Bundesregierung drohte, seine Mitglieder zu gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen aufzurufen.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Ausdehnung der paritätischen Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft, was vehement von den Unternehmerverbänden und den Regierungsparteien, der CDU/CSU und der extrem kapitalorientierten FDP verweigert wurde. Mehr noch, gegen den Protest der Gewerkschaften, der SPD und der KPD wurde im Juli 1952 der Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes durch den Bundestag gepeitscht.

Doch nach der Demonstration gewerkschaftlicher Kampfbereitschaft und -fähigkeit in den Auseinandersetzungen um die Montanmitbestimmung war es für die Gewerkschaften klar, dass es nur durch harte und offene Konflikte zwischen der Arbeiterbewegung und der reaktionären, teils offen faschistischen Kräften eine Restauration der Machtverhältnisse zu verhindern war. Im Jahr 1952 kam es zum politischen Streik.

Die DGB-Gewerkschaften hatten mit dem sogenannten Zeitungsstreik keineswegs eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn. Sie wollten lediglich demonstrieren, dass sie durchaus Druckmittel hatten, um ihren Platz als Sozial- und Mitbestimmungspartner durchzusetzen und damit Verhandlungen erzwingen zu können.

Dies könnte heute auch das Mittel der Wahl sein und würde sogar aktuell noch von der Europäischen Sozialcharta (ESC) unterstützt. In deren Artikel 6 Nr. 4 ESC heißt es: „Das Recht auf Kollektivverhandlungen: Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien… das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Fall von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen zu gewähren“.

Das ESC kennt somit kein gewerkschaftliches Streikmonopol, ebenso keine Beschränkung des Streiks auf tarifliche regelbare Ziele und würde einen politischen Streik zur Wiedereinführung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen sogar von der europäischen Ebene abdecken.

 

 

 

 

 

Quellen: ver.di, dgb, BR, WAZ, Betriebesverfassungsgesetzt, Tarifautonomiestärkungsgesetz, Entsendegesetz,  Tarifvertragsgesetz, Entgeltatlas der BA, Franziska Wiethold 
Bild: dgb