Was wir von den Montagsdemos gegen Hartz IV lernen können – Sozialproteste wurden in der Vergangenheit schon einmal diskreditiert

Von Alban Werner

Die Reaktionen der bürgerlichen Medien auf mögliche Energiepreisproteste in diesem Herbst und Winter wecken Erinnerungen an all das, was den Montagsdemos gegen Hartz IV propagandistisch entgegenschlug.

Fast das ganze diskursive Arsenal zur Diskreditierung von Sozialprotesten gab es schon damals: den Antipopulismus als einigendes Band von »Mitte-links« bis »Mitte-rechts«; die Gleichsetzung von linken und rechten Demonstrationen als gleichermaßen »extremistisch«; das Gegensatzpaar von »notwendiger« Reform und »emotionaler« Opposition; den paternalistischen Appell, die Regierung müsse nur ihre Politik »besser kommunizieren«.

In einem jedoch waren sich die links Bewegten gegen Hartz IV und der übergroße Block ihrer Gegner einig: Sie waren vom plötzlichen Auftauchen des Protests und seiner Wucht überrascht worden.

Als die Montagsdemos 2004 begannen, waren die Agenda 2010 und mit ihr Hartz IV schon ein Jahr beschlossen. Zuvor hatte es bereits im Winter 2003 eine Demonstration ohne Beteiligung des großen Gewerkschaftsapparates sowie große Demos mit DGB-Beteiligung im Frühjahr 2004 gegeben – alle beachtenswert, aber im Ergebnis erfolglos.

Unerwartete Notgemeinschaft

Auch in der Zusammensetzung unterschieden sich die Montagsdemos von früheren Protesten. Dies konnte man vor allem in den neuen Bundesländern beobachten, wo sie um ein Vielfaches größer und gesellschaftlich breiter waren. Die Agenda 2010 war beileibe weder die erste Welle des Sozialabbaus in der deutschen Nachkriegsgeschichte noch die erste Verschlechterung sozialer Rechte unter Rot-Grün. Doch wie der LINKE-Politiker Harald Werner damals hervorhob, wurden diesmal nicht nur einzelne Gruppen betroffen, die ohnehin sozial isoliert und stigmatisiert waren, wie etwa Sozialhilfebezieherinnen oder Asylbewerber. Nun »sahen sich plötzlich alle Beschäftigten mit hohen Arbeitsmarktrisiken dem Sozialhilfeniveau näherrücken«.

Werner registrierte auch, was jeder Teilnehmerin der damaligen Demos bereits auffiel: Überrepräsentiert auf den Montagsdemos waren nicht die am stärksten Benachteiligten, sondern Leute, die noch nicht betroffen waren. Auch die Motivation der Demonstrierenden unterschied sich stark von der üblicher linker Demos: »Auf den Montagsdemonstrationen in Magdeburg oder Leipzig versammelten sich dementsprechend überwiegend Menschen mit sozialen Erfahrungen und gesellschaftlichen Deutungsmustern, die sich in vieler Hinsicht vom Sozialcharakter des typischen westdeutschen Langzeitarbeitslosen unterscheiden. Menschen, die seit der Wende von der einen in die andere Maßnahme geschubst wurden und sich mit ständig wechselnden, prekären Beschäftigungen abgefunden hatten, standen plötzlich vor der Aussicht, vom nächsten Kurzzeitjob direkt in die Armut zu stürzen.«

Auch im Westen fanden viele den Weg auf die Montagsdemos gegen Hartz IV, die vorher nie bei Protesten gewesen waren, die dem eigenen Selbstverständnis nach nicht »links« waren und sich vor ihrem eigenen, drohenden Hartz-IV-Schicksal wenig für soziale Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Prekarität und dergleichen interessiert hatten. Die Wut dieser vormaligen Facharbeiter und Führungskräfte entsprang der Enttäuschung darüber, dass ihnen etwas weggenommen zu werden drohte, das ihnen ihrer Auffassung nach zustand. Auf der Montagsdemo wurden sie erstmals nicht nur mit der Ansprache linker Aktivistinnen, sondern auch mit anderen Lebensrealitäten aus den unteren sozialen Stockwerken konfrontiert, mit denen sie sich auf einmal in einer Art Notgemeinschaft wiederfanden.

Das demokratische Potenzial der Montagsdemos

Bei den Protesten begegneten sich Menschen, die andernfalls wahrscheinlich nie aufeinander getroffen wären. Darin lag die erste wichtige demokratische Qualität der Montagsdemos. Eine weitere bestand darin, unter den Beteiligten Lernprozesse anzustoßen, die den Weg zu einer fortschrittlichen Praxis auf breiterer Basis ermöglichten. Die Grundlage dafür bildete die ungewohnte Spontaneität der damaligen Demos. Transparente, Flugblätter und O-Töne »zeugten von Alltagsnähe und persönlicher Betroffenheit«. Gerade die Auseinandersetzung mit den Angriffen der damals stramm neoliberalen Mainstream-Parteien und Massenmedien, aber auch mit dem, was in unseren linken Köpfen als »Red Flag« galt, stieß wichtige Lernprozesse an.

Dazu gehörte etwa, auf unseren Montagsdemos im tiefsten Westen nicht den Ruf »Wir sind das Volk!« zu verwenden, der auf den ostdeutschen Montagsdemos in gezielter Anlehnung an die Demonstrationen zum Sturz des SED-Regimes erschallte. Bei uns weckte das völkische Assoziationen, weil der Ruf nach Abdanken der SED in Ostdeutschland von »Wir sind ein Volk« abgelöst worden war.

Ein Genosse aus meiner Aachener Orga-Gruppe traf bei einem deutschlandweiten Koordinationstreffen auf Montagsdemonstrierende aus dem brandenburgischen Senftenberg. Tatsächlich stattete eine Autobesatzung von dort unserer Montagsdemo einen Besuch ab. Ganz selbstverständlich nutzte der angereiste Kollege am offenen Mikro den Spruch »Wir sind das Volk!«. Eine türkischstämmige Genossin kommentierte nachher, sie habe diese Losung zum ersten Mal nicht als Bedrohung empfunden. Als sie als Teil einer Gegen-Delegation von Aachen in Senftenberg auf der Bühne der dortigen Montagsdemo sprach, wurden Protestierende von ihrer Rede, in die auch ihre migrantischen Erfahrungen von »Gastarbeiter«-Deklassierung einflossen, so sehr bewegt, dass sie ihr anschließend um den Hals fielen.

Eine Vertreterin des Flüchtlingsrates NRW wies später auf der Montagsdemo auf die Parallelen zwischen dem Asylbewerberleistungsgesetz mit seinen etlichen Ge- und Verboten sowie der damit verbundenen Repression sowie Stigmatisierung und Hartz IV hin: »An den Geflüchteten wird vorexerziert, was sie später mit Erwerbslosen und sozial Benachteiligten machen.« Im linken kurdischen Kulturzentrum zeigten wir später als Bündnisveranstaltung die Dokumentation Abschiebung im Morgengrauen. Ausgerechnet einer der früheren Führungskräfte, eigentlich ein biederer, unpolitischer Typ, schien am stärksten ergriffen: »Das ist unfassbar, dagegen muss man doch was tun!«

Was bleibt?

Am Erbe der Montagsdemos gegen Hartz IV ist nicht zu bedauern, dass der Name zwischenzeitlich von Verschwörungsideologen und später von Rechtsradikalen gekapert wurde. Solche »Entwendungen aus der Kommune« hat bereits Ernst Bloch am Beispiel der Nazis beschrieben. Auf Aktionsformen und Symbole gibt es kein Copyright und reaktionäre Kräfte werden immer versuchen, sie für sich zu vereinnahmen.

Auch dass ein Universalschlüssel gegen bürgerliche Angriffe gefunden wird, ist nicht zu erwarten – das gilt für damals genauso wie für heute. Die Diffamierung der Montagsdemos gegen Hartz IV setzte sich bis ins Folgejahr der Bundestagswahl mit der Kandidatur der Linkspartei fort. »Sie sind doch nationale Sozialisten«, polterte in einer Talkshow die wirtschaftsliberale Karikatur eines Journalisten in Richtung von Linkspartei und linken Sozialdemokraten.

Bedauernswert waren aber nicht diese Angriffe, sondern dass es nicht gelungen ist, dauerhaft und auf breiterer Basis Menschen einzubinden, um die bürgerliche Selbstgerechtigkeit vom Thron zu stoßen und politisch eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe durchzusetzen. Schon Kurt Tucholsky wusste: »In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.«

Heute droht Massen von Menschen soziale Not durch angekündigte Energiepreisschocks. Die Art und Weise, in der mal paternalistisch, mal verhöhnend, mal warnend über die geplanten Montagsdemos gegen die steigenden Energiepreise gesprochen wird, bevor sie überhaupt zustande kamen, beweist einmal mehr, warum wir sie so dringend brauchen.

 

 

 

 

 

 

 

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