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Nur noch Utopien sind realistisch – Mit Oskar Negt hat der undogmatische Sozialismus eine wichtige Stimme verloren

Von Tobias Kröll

Am zweiten Februar 2024 starb Oskar Negt im Alter von 89 Jahren. Seine Bedeutung für die gesellschaftliche Linke zeigt sich wohl am deutlichsten in dem rund 700-seitigen Sammelband „Kritische Theorie und politischer Eingriff“. Er erschien 1999 zu seinem 65. Geburtstag und versammelt Beiträge von über 60 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Kunst und Politik. [1]

Dem Menschen Oskar Negt wird man sicher am ehesten gerecht, wenn die eigene Subjektivität nicht verschwiegen wird. In einem Buch zur Kritischen Theorie begegnete er mir zu jener Zeit vor 25 Jahren. Mich interessierte die Kritik am wissenschaftlichen Positivismus bei Negts Doktorvater Theodor W. Adorno. Es werde unterschlagen, dass die Wahrnehmung immer schon durch eine getönte Brille gefiltert werde, so Adorno. Ein Motiv, das später in Negts Kritik an „Real-Politik“ auftaucht, die sich den „Tatsachen“ neoliberaler Ideologie unterordnet. Politische Bildung zur Stärkung des demokratischen Gemeinwesens war eine Herzensangelegenheit von Negt, sowohl hinsichtlich Gewerkschaften[2], als auch bei seinem Engagement für alternative Schulen[3]. Die angestrebte „Soziologische Phantasie“ ist die Fähigkeit, einen Zusammenhang zwischen den eigenen subjektiven Lebenserfahrungen und der „strukturellen Ordnung der Gesellschaft“ herzustellen.

Negt sei der Vertreter der zweiten Generation der Kritischen Theorie, der sich mit Abstand am meisten in der politischen Praxis engagiert habe, las ich in dem Buch[4]. Es war die Entstehungszeit der globalisierungskritischen Bewegung. Negt wurde in Deutschland bisweilen mit seinem französischen Soziologie-Kollegen Pierre Bourdieu verglichen, der mit seiner Neoliberalismus-Kritik (1998) Aufsehen erregte. In linken Kreisen wurde Negt seine damalige Nähe zu Gerhard Schröder angekreidet. Die ungeheure Enttäuschung Negts über den neoliberalen Kurs des SPD-Bundeskanzlers, ist späteren Äußerungen zu entnehmen[5]. Negts wissenschaftliches Denken wurde neben Kant stark von Marx und Engels geprägt. In Auseinandersetzung mit dem Real-Sozialismus war ihm bewusst, dass auch auf marxistischer Basis „positivistisches Denken“ betrieben werden kann, das den eigenen humanistischen Ansprüchen zuwiderläuft.

Wenn marxistisches Denken jedoch nicht als geschlossenes System unveränderlich verkündeter Wahrheiten gesehen werde, habe es Negt zufolge nach wie vor tragfähige Leitmotive. Nur noch Utopien sind realistisch – Mit Oskar Negt hat der undogmatische Sozialismus eine wichtige Stimme verloren weiterlesen