DGB-Vorschläge für eine bessere Arbeitsmarktpolitik

„Der deutsche Arbeitsmarkt ist tief gespalten: Die Beschäftigung ist stark gestiegen und die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Das ist erfreulich. Andererseits arbeiten weiterhin Millionen Menschen in Leiharbeit, befristeter Beschäftigung, in Minijobs oder in unfreiwilliger Teilzeit unter prekären Verhältnissen. Der Anteil der atypisch Beschäftigten stagniert auf einem erschreckend hohen Niveau von gut 20 Prozent; Befristungen und Leiharbeitsverhältnisse sowie der Missbrauch von Werkverträgen sind sogar weiter auf dem Vormarsch.

Der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung belegt: Die Armutsquote verharrt auf hohem Niveau – trotz Beschäftigungszuwachs. Das heißt, die Löhne sind in diesen neuen Beschäftigungsverhältnissen oftmals zu niedrig, um aus der Armut heraus aufzusteigen und in Richtung der Wohlstandsnormalität zur Mitte der Gesellschaft hin aufholen zu können. Zudem sind einige Personengruppen von den positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt abgekoppelt. Die Chancen etwa von Langzeitarbeitslosen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, haben sich nicht verbessert. Diese Problemlagen erledigen sich nicht von selbst, sie erfordern ein beherztes politisches Eingreifen – im Interesse von abhängig Beschäftigten und von Erwerbslosen.

Mit dieser Broschüre werfen wir Schlaglichter auf einige ausgewählte Defizite und „Baustellen“ der Arbeitsmarktpolitik. Wir zeigen auf, wo die soziale Absicherung von Arbeitslosen zu löchrig ist, mit welchen besonderen Problemlagen Ältere, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderung sowie geflüchtete Menschen konfrontiert sind, und wir analysieren die bestehenden Schwachstellen bei der aktiven Arbeitsförderung, insbesondere im Bereich der unzureichenden beruflichen Weiterbildung. Zu all diesen Themen schlagen wir konkrete Lösungen vor. Neben der Auseinandersetzung mit klassischen Fragen der Arbeitsmarktpolitik gehen wir auch der Frage nach, wie Menschen, die erwerbstätig oder in Ausbildung sind und deren Problem somit gar nicht ein fehlender Arbeitsplatz ist, aus dem Hartz-IV-System herausgeholt werden können.

1 Weiterbildung stärken

Lösungen:

Eine konsequente Weichenstellung für eine umfassende Weiterbildungsstrategie ist nötig. Die Weiterbildungsstrategie soll aus mehreren Elementen bestehen.

  1. A) Weiterbildungsberatung flächendeckend einführen

Weiterbildungsberatung gibt es derzeit nur punktuell. Eine transparente und flächendeckende Beratungslandschaft fehlt. Notwendig ist aber, dass jeder/m Ratsuchenden eine unabhängige Weiterbildungsberatung zur Verfügung steht. Die Bundesagentur für Arbeit führt derzeit Modellversuche durch. Nach Abschluss der Modellversuche und wenn die Erfahrungen ausgewertet sind, muss die Weiterbildungsberatung flächendeckend eingeführt werden. Dabei sollte es eine enge Kooperation mit bereits bestehenden Angeboten zur Weiterbildungsberatung geben.

  1. B) Berufliche Weiterbildung und Nachqualifizierung von Arbeitslosen stärken

Im Rahmen der Arbeitslosenversicherung wurden die Mittel für die Förderung von Weiterbildung deutlich aufgestockt. Notwendig ist auch, im vom Bund verantworteten Hartz-IV-System die Weiterbildung zu stärken. Die Mittel für Weiterbildung sollten bedarfsgerecht ausgestaltet und in einem separaten Weiterbildungstitel gebündelt werden.

■                     Arbeitslose sollen einen Rechtsanspruch auf Beratung zur Weiterbildung erhalten. Wenn diese Beratung bei Arbeitslosen ergibt, dass eine Weiterbildung für die stabile berufliche Integration notwendig ist, muss sie im Rahmen eines Rechtsanspruches gewährt werden.

■                     Für Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung sollte es generell einen Rechtsanspruch auf eine Nachqualifizierung geben. Das Programm „Zweite Chance“, das sich derzeit an junge Erwachsene über 25 Jahre ohne abgeschlossene Berufsausbildung richtet, muss auf hohem Niveau fortgeführt und weiter gestärkt werden.

■                     Oftmals scheitert der Zugang zu Weiterbildung auch an zielgruppenspezifischen Hindernissen. Insbesondere Frauen mit Kindern haben Schwierigkeiten, Weiterbildungsangebote und Kinderbetreuung zu vereinbaren. Zudem können Personen mit negativen oder lang zurückliegenden Bildungserfahrungen Vorbehalte gegen Weiterbildungen haben. Manchmal stehen aber auch rein organisatorische Hindernisse wie lange Wegezeiten, fehlende Modulangebote etc. im Weg. Hier braucht es – neben passgenauen umschulungsbegleitenden Hilfen, sozialflankierenden Hilfen (Kinderbetreuung) und zielgruppensensibler Beratung – Antworten auf konzeptioneller Ebene und adressatenorientierte Lernformen, um diese Weiterbildungshürden abzubauen.

■                     Besonders wichtig ist, die finanziellen Rahmenbedingungen für Teilnehmende an einer abschlussbezogenen Weiterbildung zu verbessern. Die Weiterbildungsprämien, die derzeit befristet sind, sollten verstetigt werden. Bei abschlussbezogenen Maßnahmen sollte neben dem Arbeitslosengeld bzw. der Hartz-IV-Regelleistung ein ergänzendes Unterhaltsgeld in Höhe von zehn Prozent des Arbeitslosengeldes, mindestens aber in Höhe von 100 Euro im Monat, gezahlt werden. Dieser Sockelbetrag begünstigt gezielt Personen mit geringen Unterstützungsleistungen. Das hilft, eine abschlussbezogene Maßnahme durchzuhalten. Die Regelung muss auch analog für das Hartz-IV-System gelten. Der materielle Zugewinn bei einer Weiterbildungsteilnahme muss mindestens so hoch sein wie bei einem Ein-Euro-Job.

2 Arbeitslosenversicherung wirkungsvoll stärken – prekär Beschäftigte besser absichern

Lösungen:

■                                 Der Zeitraum, in dem Anwartschaftszeiten gesammelt werden können, ist wieder von zwei auf drei Jahre zu verlängern (Rahmenfrist).

■                                 Die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme darf die Rest-Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld nicht verkürzen. Deshalb sollte die Teilnahme von Arbeitslosen an Weiterbildungen nicht mehr auf den Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld angerechnet werden. Bisher wird für zwei Tage Weiterbildung ein Tag Arbeitslosengeldbezug angerechnet.

■                                 Alleinstehende Beziehende von Arbeitslosengeld, die ergänzend Hartz IV beziehen („ALG-I Aufstocker“), sollen alle Leistungen aus einer Hand von den Agenturen für Arbeit erhalten. Auch die Leistungen zum Lebensunterhalt und für die Wohnung werden von den Agenturen für Arbeit ausgezahlt. Die Kosten müssen aber vom Bund getragen werden.

■                     Für Ältere ab 50 Jahren muss die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um bis zu sechs Monate verlängert werden, falls eine Integration in den Arbeitsmarkt trotz verbesserter Förderung nicht früher gelingt. Der DGB schlägt vor, den Anspruch auf Arbeitslosengeld gezielt zu erhöhen. Die Laufzeit des Arbeitslosengeldes verlängert sich parallel zur Beschäftigungsdauer. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr auf das Arbeits losengeld angerechnet wird. Mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes wird das „Leistungsversprechen“ der Arbeitslosenversicherung gegenüber ihren Beitragszahlern gestärkt und es werden Anreize für die Agenturen für Arbeit gesetzt, sich aktiv um die Gruppe der Älteren zu kümmern. Zudem können die relativ hohen Übergangsraten aus Arbeitslosigkeit in Krankengeld, Rehabilitation und Erwerbsminderungsrente reduziert werden.

Arbeitslosengeld I neu

■                     Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes wird verbunden mit der Wiedereinführung der Erstattungspflicht des Arbeitslosengeldes, wenn Arbeitgeber ältere Beschäftigte ohne zwingenden Grund entlassen. Bis zum Jahre 2003 sah die gesetzliche Regelung vor, dass der Arbeitgeber bei der Entlassung älterer Arbeitnehmer/innen ab Vollendung des 56. Lebensjahres unter bestimmten Voraussetzungen das Arbeitslosengeld nach dem 58. Lebensjahr erstatten musste. Die Erstattungspflicht bestand vor allem dann, wenn der Arbeitgeber für die Arbeitslosigkeit verantwortlich war. Dies schützt die Beschäftigten und beteiligt den Arbeitgeber an den Folgekosten der sozialen Sicherung. Die Erstattungspflicht ist das Gegenstück zu den Eingliederungszuschüssen an Arbeitgeber. Mit den Einnahmen können gezielt zusätzliche Maßnahmen für ältere Beschäftigte und Arbeitslose finanziert werden.

3 Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen

Lösungen:

■                     Langzeiterwerbslose mit schlechter Integrationsprognose müssen eine intensivere Beratung und verstärkte Vermittlungsbemühungen erhalten. Dabei sollte wie beim Programm „Interne ganzheitliche Integrationsberatung“ (INGA) ein verbesserter Personalschlüssel gelten und besonders ausgebildetes Personal eingesetzt werden.

■                                 Es muss sichergestellt sein, dass jede/r Langzeitarbeitslose, die/der eine Weiterbildung benötigt, diese auch bekommt. Dazu ist ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung vorzusehen und die Rahmenbedingungen für Weiterbildung müssen verbessert werden. Die im Kapitel 1 „Weiterbildung stärken“ dargestellten Forderungen müssen auch im Hartz-IV-System durchgesetzt werden. Zudem sollten vermehrt neue Lernformen ausprobiert werden, Weiterbildungen stärker auch in Teilzeit angeboten werden sowie – falls erforderlich – eine unterstützende Begleitung erfolgen.

■                                 Ein Teil der Langzeitarbeitslosen hat trotz Förderung und Weiterbildung wenig realistische Chancen, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Für sie müssen Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung angeboten werden. Primäre Funktion der geförderten Beschäftigung ist nicht, Übergänge in ungeförderte Beschäftigung zu erreichen. Vielmehr soll die Beschäftigung Einkommenserzielung und soziale Teilhabe ermöglichen und dazu beitragen, dass gemeinwohlorientierte Angebote der Daseinsvorsorge ausgeweitet werden. Anders als bei Ein-Euro Jobs sollten diese Arbeitsplätze vollständig sozialversicherungspflichtig sein, dem allgemeinen Arbeitsrecht entsprechen und tariflich entlohnt werden. Sie müssen arbeitsmarktnah und sinnstiftend sein. Um Verdrängungseffekte weitgehend auszuschließen, sollten die Tarifparteien vor Ort über die Einsatzfelder der öffentlich geförderten Beschäftigung entscheiden. Die Förderung sollte auf gemeinwohlorientierte Arbeitgeber konzentriert werden, damit die eingesetzten Steuergelder auch der Allgemeinheit zugutekommen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen am Markt konkurrierenden Unternehmen vermieden werden. Eine Zielgruppe für öffentlich geförderte Beschäftigung sollten Haushalte mit Kindern sein, in denen beide Elternteile erwerbslos sind. Diese Gruppe hat ein extrem hohes Armutsrisiko. Der DGB hat gemeinsam mit der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bereits einen konkreten Aktionsplan zur verbesserten Förderung von erwerbslosen Eltern vorgelegt.

4 Ältere Menschen nicht zurücklassen

Lösungen:

Es muss erreicht werden, dass ältere Arbeitslose verstärkt wieder in Arbeit vermittelt werden, um den Übergang in Hartz IV zu vermeiden.

■                     In besonderen Situationen kann auch öffentlich geförderte Beschäftigung eine sinnvolle Teilhabe am Arbeitsleben ermöglich.

■                     Gesundheit erhalten: Um die Beschäftigung Älterer zu steigern, muss mehr in Gesundheitsförderung investiert werden. Die Arbeitsplätze müssen alternsgerecht gestaltet werden.

■                     Aktive Vermittlung: Um verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit aufzulösen, ist mehr aktive Unterstützung bei der Wiedereingliederung erforderlich. Ältere über 55 Jahre sollten in das Programm „INGA“ (siehe Kapitel 2 Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen) einbezogen werden. Eine intensive Begleitung der Vermittlung und Hilfen bei der Jobsuche sind ein effizienter und kostengünstiger Ansatz, um dem Eintritt von Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen.

■                     Weiterbildung stärken: Mehr Weiterbildung und Anspruch auf Weiterbildungsberatung für ältere Beschäftigte helfen dabei, die Arbeitsfähigkeit zu verbessern (siehe Kapitel 1 Weiterbildung stärken).

■                     Arbeitgeber beraten: Arbeitgeber müssen hinsichtlich der Potenziale Älterer intensiver beraten werden. Lohnkostenzuschüsse sind gezielt zur Eingliederung dieser Personengruppe einzusetzen.

■                     Entgeltsicherung wieder einführen: Die sogenannte Entgeltsicherung wurde gezielt zur Unterstützung älterer Arbeitnehmer/innen über 50 Jahre eingeführt, später aber wieder abgeschafft. Ältere können oft bei Wiedereingliederung nicht den gleichen Lohn erzielen, den sie vorher hatten. Die Entgeltsicherung gleicht einen Teil dieses Lohnverlustes für eine befristete Zeit aus. Dies erhöht die Eingliederungschancen und stärkt die Funktion der Arbeitslosenversicherung. Die Leistung sollte deswegen wieder als Regelleistung in das Gesetz aufgenommen werden.

■                     Arbeitslosengeld verlängern – langjährig Beschäftigte nicht abstürzen lassen: Langjährig Beschäftigte haben einen Anspruch darauf, dass ihre Lebensleistung honoriert wird. Dem muss die Arbeitslosenversicherung in einem gewissen Rahmen Rechnung tragen. Trotz der oben genannten Maßnahmen wird eine Integration nicht in allen Fällen gelingen. Weil besonders Ältere es schwer haben, in den Arbeitsmarkt zurück zu kommen, muss gezielt für sie das Arbeitslosengeld I verlängert werden. So erhalten sie länger Zeit, um die Integration doch noch zu erreichen (siehe Kapitel 2 Arbeitslosenversicherung wirkungsvoll stärken).

■                     Zwangsverrentung abschaffen: Hartz-IV-Bezieher/innen dürfen nicht gegen ihren Willen mit 63 Jahren verrentet werden. Die lebenslang wirkenden Abschläge sind nicht akzeptabel und fördern Altersarmut.

5 Behinderte Menschen stärker integrieren

Lösungen:

Erhöhung der Beiträge zur Ausgleichsabgabe:

■                     Bei einer Beschäftigungsquote von drei bis weniger als fünf Prozent wird die Ausgleichsabgabe pro fehlendem Arbeitsplatz/Monat zukünftig von 125 Euro auf 250 Euro angehoben.

■                     Bei einer Beschäftigungsquote von zwei Prozent bis weniger als drei Prozent wird die Ausgleichsabgabe pro fehlendem Arbeitsplatz/Monat zukünftig von 220 Euro auf 500 Euro angehoben.

■                     Bei einer Beschäftigungsquote von weniger als zwei Prozent wird die Ausgleichsabgabe pro fehlendem Arbeitsplatz/Monat zukünftig von 320 Euro auf 750 Euro angehoben.

6 Integration von Flüchtlingen in Ausbildung und Beschäftigung

Lösungsvorschläge:

■                     Umfassende Kenntnisse der deutschen Sprache sind eine wesentliche Voraussetzung für die gesellschaftliche und ökonomische Eingliederung. Deshalb sollten alle in Deutschland rechtmäßig wohnenden ausländischen Staatsangehörigen an einem Integrationssprachkurs teilnehmen können.

■                     Um eine schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen, ist eine frühzeitige Beratung für alle potenziellen Arbeitsuchenden notwendig.

■                     Gesicherter Aufenthaltsstatus außerhalb des Duldungssystems, wenn ein Ausbildungsvertrag vorliegt; Anwendung des ‚Zug um Zug‘ Verfahrens, um die Genehmigung der Behörde bis zum Ausbildungsbeginn abzusichern.

■                     Vereinheitlichung von Verfahren und Fristen, um Anschlüsse an Weiterbildung/Berufseinstieg zu ermöglichen (z. B. bei ausbildungsbegleitenden Hilfen, Assistierter Ausbildung).

■                     Zurückdrängen prekärer Arbeit und Schaffung von Perspektiven für reguläre Beschäftigungsverhältnisse.

7 Geringverdienende und Auszubildende besser absichern – Hartz-IV-System entlasten

Lösungen:

A) Defizite beim Wohngeld und beim Kinderzuschlag überwinden

Das Wohngeld und der Kinderzuschlag müssen so verbessert werden, dass sie als vorrangige Leistungen tatsächlich existenzsichernd sind und bei Haushalten mit einem Erwerbseinkommen aus Vollzeit bzw. vollzeitnaher Teilzeit möglichst ein Haushaltseinkommen über dem Hartz-IVNiveau sicherstellen. Das Wohngeld hat heute einen Konstruktionsfehler: So läuft bei alleinstehenden Erwerbstätigen der Anspruch auf Wohngeld mit steigendem Erwerbseinkommen bereits früher aus als der Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen.4 Die Ursache dafür ist, dass Erwerbseinkommen beim Wohngeld stärker angerechnet wird als bei Hartz IV. 5

Auch der Kinderzuschlag hat strukturelle Schwächen, die dazu führen, dass der Zuschlag nur relativ wenige Haushalte vor dem Hartz-IV-Bezug bewahren kann. So ist der maximale Zahlbetrag (zurzeit 170 Euro) beim Kinderzuschlag unabhängig vom Alter der Kinder, während die Hartz IV-Regelsätze mit dem Alter auf bis zu 360 Euro ansteigen. Während es bei Hartz IV einen Mehrbedarf für Alleinerziehende (z. B. rund 150 Euro bei einem Kind unter sieben Jahren) gibt, fehlt eine auf Alleinerziehende bezogene Leistungskomponente beim Kinderzuschlag völlig. Beides führt dazu, dass der Kinderzuschlag oftmals nur zu einem Haushaltseinkommen führt, das unterhalb des Hartz-IV-Anspruchs liegt.

Diese Konstruktionsfehler gilt es zu korrigieren:

■                     Beim Wohngeld sollte der Absetzbetrag vom Erwerbseinkommen von zurzeit 1.000 Euro im Jahr auf den Erwerbstätigenfreibetrag im Hartz-IV-System (3.600 Euro bzw. 3.960 Euro mit Kindern) angehoben werden.

■                     Um den Hartz-IV-Bezug von Erwerbstätigen mit Kindern zu vermeiden, sind zwei Ansätze möglich: Beim Kinderzuschlag ist der maximale Zahlbetrag zu erhöhen und nach dem Alter des Kindes zu staffeln (230 Euro, 280 Euro, 300 Euro) sowie für Alleinerziehende eine zusätzliche Leistungskomponente vorzusehen. Alternativ könnte eine neues „Zwei-Komponenten-Kindergeld“ den Kinderzuschlag überflüssig machen und ersetzen. Das Kindergeld könnte zukünftig aus einem Basisbetrag bestehen, den alle bekommen und einem Zusatzbetrag, dessen Höhe vom Einkommen der Eltern abhängt.

■                     Beide Leistungen sollten dynamisiert werden, das Wohngeld entsprechend der Mietpreisentwicklung und der Kinderzuschlag entsprechend den Anpassungen der Hartz-IV-Regelsätze.

Wer monatlich 1.340 Euro brutto und mehr verdient, hat keinen Anspruch mehr auf Wohngeld, jedoch bis 1.430 Euro noch Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen.

Beim Wohngeld kann das Erwerbseinkommen nur um Werbungskosten in Höhe von 1.000 Euro jährlich bereinigt werden. Der Erwerbstätigenfreibetrag, der bei Hartz IV vom Erwerbseinkommen abgezogen werden kann, summiert sich auf ein Jahr gerechnet auf 3.600 Euro.

B) Künstlich erzeugte Hilfebedürftigkeit überwinden

Zurzeit gelten alle Personen in einer Bedarfsgemeinschaft als Hartz-IV-Leistungsberechtigte – auch diejenigen Personen, deren individuelles Einkommen ausreicht, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu decken. Denn nach geltendem Recht wird der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft nach einem speziellen Schlüssel auf die einzelnen Köpfe aufgeteilt (horizontale Berechnungsmethode). Durch diese Bedarfszuordnung werden auch die – bei individueller Betrachtung – gar nicht bedürftigen Personen künstlich zu bedürftigen Leistungsberechtigten gemacht. Wer seinen eigenen Lebensunterhalt decken kann und nur wegen der Mitgliedschaft in einer Bedarfsgemeinschaft hilfebedürftig ist, sollte künftig nicht mehr als Hartz-IV-Leistungsberechtigter behandelt werden („vertikale statt horizontale Berechnungsmethode“).

C) Existenzsichernde Ausbildungsförderung

Die Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) und die Bundesausbildungsförderung (BAföG) müssen so ausgestaltet werden, dass sie in sich bedarfsdeckend sind und ein ergänzender Hartz-IV-Bezug überflüssig wird.

8 Hartz-IV-Regelsätze  bedarfsgerecht anheben

Lösungen:

In der nächsten Legislaturperiode sollten die Regelsätze grundlegend neu ermittelt werden. Das Verfahren muss transparent und realitätsgerecht sein und im Ergebnis zu Regelsätzen führen, die einen wirksamen Schutz vor Armut bieten und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe ermöglichen.

Der DGB hat gemeinsam mit anderen Akteuren im Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum Anforderungen an die Herleitung der Regelsätze formuliert:

■                     Der Regelsatz soll zukünftig pauschal nur solche Ausgaben abdecken, die laufend und typischerweise bei allen Haushalten in ähnlicher Größenordnung anfallen. Andere Bedarfe, beispielsweise größere Anschaffungen mit investivem Charakter („weiße Ware“), die nur selten und in großen zeitlichen Abständen anfallen, werden über Einmalbeihilfen gedeckt. Hierdurch werden auch Darlehen vermieden, die sehr verwaltungsaufwändig sind.

■                     Bei der Herleitung der Regelsätze müssen Zirkelschlüsse vermieden werden. Haushalte mit einem Einkommen unterhalb des Hartz-IV-Niveaus („verdeckte Armut“) müssen aus der Datenbasis zur Bestimmung der Regelsätze herausgenommen werden.

■                     Das Wenige, das die einkommensschwächsten Haushalte aufgrund stark begrenzter Mittel ausgeben können (Einkommens- und Verbrauchsstichprobe), darf nicht unreflektiert mit einer ausreichenden Bedarfsdeckung gleichgesetzt werden.

■                     Willkürliche, sachlich nicht begründete Kürzungen der statistisch gemessenen Ausgaben einkommensschwacher Haushalte müssen unterbleiben. Das heißt, das bisher übliche Herausrechnen angeblich für die Existenzsicherung irrelevanter Positionen (z. B. Kantinenessen, Weihnachtsbaum, Schnittblumen, Buntstifte für Schulkinder) wird beendet.

■                     Der DGB spricht sich dafür aus, eine Sachverständigenkommission einzusetzen, bestehend aus Wissenschaftler/innen, Vertreter/innen der Tarifparteien, von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie von Betroffenenorganisationen. Die Kommission soll eine Empfehlung für den Gesetzgeber für armutsfeste und bedarfsdeckende Regelbedarfe entwickeln. Dabei kann sie auf bereits vorliegende Vorschläge zur Neuberechnung der Regelsätze aufbauen, die eine gute Diskussionsgrundlage darstellen.

9 Sanktionen entschärfen

Lösungen:

Der DGB tritt dafür ein, das bestehende Sanktionsregime mit Kürzungsschritten bei Pflichtverletzungen in Höhe von 30, 60 und 100 Prozent sowie die verschärften Strafen für unter 25-Jährige zu überwinden und zudem die Zumutbarkeitsregelungen am Leitbild „Guter Arbeit“ auszurichten:

■                     Zukünftig sollen – einheitlich sowohl in der Arbeitslosenversicherung als auch im Hartz-IVSystem – nur solche Stellenangebote als zumutbar gelten, die sozialversicherungspflichtig sind und tariflich entlohnt werden. Kommt kein Tarifvertrag zur Anwendung, sind die orts üblichen Löhne maßgebend.

■                     Um Qualifikationen nicht zu entwerten und um eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration zu befördern, gelten in den ersten sechs Monaten der Erwerbslosigkeit Stellenangebote unterhalb des erworbenen Qualifikationsniveaus sowie Leiharbeitsverhältnisse nicht als zumutbare Arbeit, sie sind also freiwillig.

■                     Integrationsziele und Schritte werden zwischen Jobcenter und Erwerbslosen einvernehmlich ausgehandelt. Eine solche auf Kooperation angelegte Arbeitsweise befördert nicht nur die Chancen auf einen erfolgreichen Integrationsprozess, sondern trägt auch dazu bei, Konflikte und Sanktionsanlässe zu vermeiden.

■                     Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sollten die bestehenden, existenzbedrohenden Sanktionsregelungen ausgesetzt werden“.

 

 

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Bild: dgb