Arbeitszeitverkürzung I: Kollektive Arbeitszeitverkürzung ist lange überfällig

Von Heinz-Josef Bontrup

Die in den letzten Heften von Sozialismus.de zur Arbeitszeitverkürzung veröffentlichten Artikel beschäftigten sich mehr oder weniger mit individuellen Arbeitszeitveränderungen im Duktus von betrieblichen Gestaltbarkeiten der Arbeitszeit nach Lebenslauforientierungen. Im Rahmen eines Zeit- und Selbstmanagements wollen die abhängig Beschäftigten länger arbeiten oder kürzertreten, je nach Lebenssituation. Hier stehen also betriebswirtschaftliche und keine gesamtwirtschaftlichen Probleme im Fokus. Deshalb können sich auch Kapitaleigner, das „personifizierte Kapital“ (Karl Marx), und die Claqueure in Politik, Wissenschaft und Medien, damit arrangieren.

Es muss nur zu einer Steigerung des relativen Mehrwerts in der Produktion kommen und damit weiter eine Ausbeutung der abhängig Beschäftigten sichergestellt sein. Und für die Beschäftigten ist es allemal verständlich und nachvollziehbar, wenn sie mehr Gestaltungsfreiheit in ihrer von Kapitaleignern bestimmten Fremd- und Zwangsarbeit einfordern. Bei einer kollektiven (gesamtwirtschaftlichen) Arbeitszeitverkürzung geht es aber nicht nur um die Beschäftigten, sondern mindestens genauso um das Heer der Arbeitslosen.

Und deshalb um gesamtwirtschaftliches Denken.1Arbeitszeitverkürzung steht schon lange auf der Agenda In der Arbeiterbewegung gab es seit dem 19. Jahrhundert immer zwei Forderungen bzw. Ziele: Mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit.2 „Zehn Stunden wären ausreichend: das war schon die Vorstellung des Sozialdemokraten August Bebel (1840-1913). In Bebels ‚Utopia‘, geschildert in seinem berühmten Buch ‚Die Frau und der Sozialismus‘, das schon zu seinen Lebzeiten 53 Auflagen! erlebte, gehen, sobald alle Kapitalisten expropriiert sind, alle Arbeitsfähigen einer Arbeit nach – einer mäßigen, täglich zwei- bis dreistündigen, abwechslungsreichen, ergiebigen Arbeit; in der übrigen Zeit geht jeder, je nach Geschmack, Studien oder Künsten nach oder pflegt geselligen Umgang.“3 Ähnliches schwebte Karl Marx (1818-1983) und Friedrich Engels (1820-1890) vor. Und auch John Maynard Keynes (1883-1946) wurde 1930 in Sachen Arbeitszeitverkürzung im Kontext mit einer vollbeschäftigten Wirtschaft konkret: „(…) drei Stunden am Tag reichen völlig aus, um den alten Adam in den meisten von uns zu befriedigen!.“4 Dies ist die richtige gesellschaftliche Utopie, wozu Jean Ziegler sagt: „Eine wirklich gute Utopie erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorne herein ausgeschlossen erscheint.“5 Und Ingrid Kurz-Scherf schreibt: „Von Thomas Morus im 16. Jahrhundert beginnend sind die großen sozialen Utopien immer mit einer Verkürzung der Arbeitszeit verbunden gewesen. Und da war der Achtstundentag erst einmal ein pragmatisches Zugeständnis.

Wenn man sich die großen Namen der im Übrigen sehr feindlichen politischen Strömungen ansieht, John Stuart Mill, Karl Marx oder Keynes, dann sieht man: Die sind sehr unterschiedlicher Meinung, aber in einem Punkt sind sie sich einig. Der Sinn der Entfaltung des technischen Fortschritts ist neben der Reichtumsmehrung für alle die Anreicherung der Zeit; die jedem zur Verfügung steht.“6

Oskar Negt führte in einem Interview mit der Wiener Zeitung 2016 folgendes aus: „Es gibt Alternativen. Es gibt genügend Intellektuelle, die auf scharfsinnige Weise die Verhältnisse analysieren. Und mittlerweile sind die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit, des Unbehagens und der Wut vieler Bürgerinnen und Bürger, die sich vielfach in der Unterstützung destruktiver Rechtspopulisten ausdrückt, bekannt. Der real existierende Kapitalismus bringt ein immer größeres Heer von Überflüssigen hervor. Immer mehr Menschen werden durch eine immer rasantere Automatisierung aus dem Arbeitsprozess gedrängt.“7 Und an anderer Stelle schreibt Negt: „Es ist eben ein Skandal, (…) für Millionen von Menschen das zivilisatorische Minimum für eine menschliche Existenzweise nicht zu sichern: nämlich einen Arbeitsplatz, einen konkreten Ort, wo die Menschen ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, um von bezahlter Leistung zu leben. (…) Wenn ich in diesem Zusammenhang von Gewalt spreche, so meine ich das buchstäblich: Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt, ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule, der Lehre in der Regel in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozess erworben worden sind und jetzt, von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten, in Gefahr sind zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen.“8 Es ist interessant, das ein weiterer Protagonist einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, Oswald von Nell-Breuning (1890-1991), zu Beginn der 1980er Jahre in einer Diskussion mit Negt um die 35-Stunden-Woche ihm folgendes zurief: „Junger Freund, sie kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären zehn Stunden völlig ausreichend, wenn die Menschen vernünftig mit ihren Ressourcen umgingen.“9 Und Karl Georg Zinn stellt mit Keynes im Hinblick auf Wachstum und Produktivität folgendes fest: „Ersparnisse zu absorbieren, wenn keine Nettoinvestitionen mehr vorgenommen werden, wäre zwar durch staatliche Kreditaufnahme und/oder durch einen positiven Außenbeitrag (bzw. Nettokapitalexport) möglich, aber es stellt sich die Frage, ob bei Kredittilgung die Gläubiger bereit und in der Lage sind, ihren Konsum zu steigern. Kredittransaktionen zwischen den Konsumenten erhöhen die Konsumnachfrage im Mehrjahresdurchschnitt ohnehin nicht, sondern dienen der zeitlichen Konsumverschiebung. Das (…) Nachfrageproblem, das bei einer Nettoinvestition von Null, aber anhaltendem Produktivitätswachstum virulent wird, könnte sich letztlich als unlösbar erweisen. Keynes plädiert deshalb dafür, den Gordischen Knoten des Nachfrageproblems, wenn und wie es sich in hoch entwickelten, relativ gesättigten, wachstumsschwachen Volkswirtschaften dauerhaft einstellt, durch kürzere Arbeitszeiten zu durchschlagen. Wenn Keynes‘ Wachstumsskepsis von der historischen Entwicklung bestätigt wird, dürften sich die aktuelle Aversion gegen Arbeitszeitverkürzung und damit auch die Kritik an Keynes‘ Zukunftsvision sinkender Arbeitzeit(en) als recht kurzsichtig herausstellen.“10

Fritz Vilmar (1929-2015), Zeitlebens ein Freund der Gewerkschaften, hat in diesem Kontext schon 1974 bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1974/75  11 die Gewerkschaften davor gewarnt, jetzt und in Zukunft nicht alle Kraft auf eine kollektive Arbeitszeitverkürzung zu lenken. Reine Lohnrunden würden die seit Ende der 1950er Jahre zurückgekehrte Arbeitslosigkeit nicht mehr beseitigen – mit allen kontraproduktiven gesamtwirtschaftlichen Folgen, nicht zuletzt auf die so auch schwindende Macht der Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen. Vilmar hat mit seiner Prognose leider recht behalten. Die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften schaffen es seit Langem nicht mehr, den zumindest verteilungsneutralen Spielraum innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung zu generieren – geschweige denn Realeinkommenssteigerungen oberhalb der Produktivitätsrate mit einem Umverteilungseffekt zugunsten der Lohnquote durchzusetzen. Und die 1984, endgültig aber erst 1995 und auch nicht in allen Branchen, durchgesetzte 35-Stunden-Woche ist längst von der wirtschaftlichen Realität wieder in Richtung einer 40-Stunden-Woche überholt worden.

Der letzte gewerkschaftliche Versuch einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung scheiterte 2003 in Ostdeutschland in der Metall- und Elektroindustrie kläglich. In der ostdeutschen Stahlindustrie dagegen gelang noch die zumindest stufenweise Umsetzung der 35-Stunden-Woche am 7. Juni 2003. Danach kam nichts mehr in Sachen kollektiver Arbeitszeitverkürzung.

Was sind die Fakten?

Fakt ist, dass seit 45 Jahren in Deutschland Massenarbeitslosigkeit vorliegt, die Milliardenbeträge an fiskalischen Kosten verursacht,12 die höher ausfallen als die vielgescholtene Staatsverschuldung. Offensichtlich war in der Vergangenheit das reale Wachstum für eine vollbeschäftigte Wirtschaft nicht ausreichend. Die Produktivitätsraten waren in der Tat fast immer größer. Fakt ist auch, dass es in der Welt eine noch viel größere Massenarbeitslosigkeit als in Deutschland gibt, die nichts als Verelendung, Landflucht und Kriege verursacht. Nur in der EU sind zurzeit (Corona-unabhängig) rund 14 Millionen Menschen als arbeitslos registriert. Die tatsächliche Arbeitslosenzahl liegt um ein Vielfaches höher. Das gilt auch für Deutschland, wo jahresdurchschnittlich 2019 die registrierte Arbeitslosenzahl bei 2.267.000 lag und die tatsächliche bei rund 3.200.000. Rechnet man darauf noch die stille Reserve von rund 1.000.000, so lag die wirksame Arbeitslosigkeit bei rund 4.200.000.13 Dabei ist die Geschichte des Kapitalismus schon immer von Arbeitslosigkeit geprägt worden.14 Vollbeschäftigung und Profitinteressen sind ein Widerspruch.15 „Sinn des durch technischen Fortschritt angetriebenen Produktivitätsanstiegs ist es ja gerade, Arbeit durch Kapital einzusparen.

An der Parabel von der Farmerfamilie in den USA16 zeigt Wassily Leontief (1905-1999), wie die Substitution von Arbeit durch Kapital infolge des technologischen Wandels in sozialen Fortschritt transformiert werden kann: Wenn bei gegebener Ernte Maschinen menschliche Arbeit übernehmen, dann hat die Farmerfamilie mehr Zeit außerhalb der Arbeit. Im Kapitalismus wird jedoch die harmonische Beziehung zwischen Arbeit und Kapitaleigentümer behindert. Es stellt sich deshalb die ökonomisch-gesellschaftliche Aufgabe, durch Arbeitszeitverkürzung die Teilhabe am technischen Fortschritt auch der Beschäftigten sicherzustellen.“17 Dies genau passiert aber nicht. Die Produktivitätsfortschritte werden nicht adäquat in Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen umgesetzt. Die Gewerkschaften sind im Rahmen der Tarifautonomie seit Langem viel zu schwach, um diese beiden wichtigen gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten in Tarifverträgen umzusetzen.

Ohne politische Hilfe wird eine Verteilungspartizipation auch in Zukunft nicht gelingen. Ein gesetzlicher Mindestlohn, der mit zurzeit 9,35 Euro ein Armutslohn ist, und von vielen Kapitaleignern nicht einmal gezahlt wird,18 reicht da nicht aus.19 Man muss sich das einmal langsam durch den Kopf gehen lassen: In einem der reichsten Länder der Erde, wie Deutschland, gibt es heute als Vereine organisierte sogenannte „Tafeln“ zur Armenspeisung.20 Und der Deutsche Bundestag nimmt das zur Kenntnis und das war es. Außerdem werden Frauen immer noch diskriminierend für gleiche Arbeit wesentlich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Der Gender Pay Gap liegt hier bei 21,0%.21 Nicht zuletzt muss der Staat ständig abhängig Beschäftige, die 40 Stunden in der Woche hart arbeiten, mit Kinder-, Eltern- und Mietgeld u.a. alimentieren, weil die von den Kapitaleignern gezahlten Arbeitsentgelte zur Reproduktion nicht ausreichend sind. Hier würde Adam Smith (1723-1790) heute nur mit dem Kopf schütteln. 1776 sagte er: „Ein Mensch muß von seiner Arbeit immer leben, und sein Lohn muß zumindest ausreichen, um ihn zu ernähren. In den meisten Fällen muß er sogar etwas höher sein; andernfalls wäre es ihm unmöglich, eine Familie zu ernähren, und die Gattung solcher Arbeiter könnte die erste Generation nicht überdauern.“22

Gesamtwirtschaftlicher Fakt ist weiter, dass von 1960 bis 2019 das Arbeitsvolumen (trotz Wiedervereinigung) nur von 56,2 auf 62,6 Milliarden Stunden (um 11,4%) zugenommen hat, während das Potenzial der Erwerbspersonen von 26,3 auf 46,5 Millionen Personen gewachsen ist, also um 76,8%. Das bedeutet, dass heute ca. 65% mehr Menschen um das gleiche Arbeitsvolumen konkurrieren müssen als 1960. Auflösbar war diese riesige Arbeitsplatzlücke nur durch Arbeitslosigkeit und eine Zunahme der Teilzeitarbeit und geringfügig Beschäftigten zu Lasten von Vollzeitarbeitsplätzen. Die 5 vorhandenen Arbeitsplätze wurden auf mehr Beschäftigte mit kürzerer individueller Arbeitszeit verteilt. 2018 waren von den 33.724.000 abhängig Beschäftigen in Deutschland 6.691.000 (19,8%), also fast jeder Fünfte, Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte. Hinzu kamen noch 2.460.000 befristet Beschäftigte und 925.000 Leiharbeiter.23 Teilzeit und geringfügige Beschäftigung ist dabei überwiegend Frauenarbeit!

Wer vor diesem gesamtwirtschaftlichen Hintergrund heute noch ernsthaft glaubt, man könne, auch in Anbetracht der zu erwartenden technologischen Entwicklungen, insbesondere im Hinblick auf eine Digitalisierung der Produktions- und Reproduktionsprozesse, auch nur annähernd in den Zustand einer dringend notwendigen Vollbeschäftigung vordringen, der irrt gewaltig. Man muss vor den Demagogen und Polemikern warnen, die der Bevölkerung einreden wollen, die anstehenden Probleme seien über Wachstum und demografischen Wandel zu lösen. Und auch denjenigen, die mit einem bedingungslosen Grundeinkommen Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, muss hier eine deutliche Absage erteilt werden.24 Diese Protagonisten wollen, wie Kapitalisten es praktizieren, dass andere Menschen für die Grundeinkommensbezieher arbeiten sollen.25Kapitalistischer kann eine Forderung nicht sein. Aber auch den Postwachstumsideologen muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass eine Wirtschaft ohne reales Wachstum zu einer Elendsökonomie verkommt und es unter kapitalistischen (profitgetriebenen) Verhältnissen keine endogene Wachstumslösung gibt.26 Es muss also die Ordnungsfrage diskutiert werden.

Ein weiterer Fakt ist, dass die gewaltige nie geschlossene Arbeitsplatzlücke auf die Arbeitseinkommen drückt. Jedes Ökonomielehrbuch erklärt uns diesen trivialen Zusammenhang. Bei einem Überschuss an Ware Arbeitskraft auf den jeweiligen Teilarbeitsmärkten gibt es keine verteilungsneutralen Lohnerhöhungen. Diese Theorie wird durch die empirischen Befunde überdeutlich verifiziert. So sind seit der Wiedervereinigung in Deutschland von 1991 bis 2019 kumuliert gut 1,4 Billionen Euro auf Basis der um Ab-schreibungen27berichtigten gesamtwirtschaftlichen Lohnquote von 1993 (59,6%) von den Arbeitsentgelten der abhängig Beschäftigten zu den Mehrwert- bzw. Kapitaleinkünften (Zins, Grundrente und Gewinn) umverteilt worden. Insgesamt haben dabei die abhängig Beschäftigten 36.141,8 Milliarden Euro vom berichtigten Volkseinkommen in Höhe von 64.013,3 Milliarden Euro und die Mehrwertbezieher 27.871,5 Milliarden Euro erhalten. Die durchschnittliche bereinigte Lohnquote lag damit bei 56,5% und die Mehrwertquote bei 43,5%.28 Damit einher ging der Aufbau eines gewaltigen Niedriglohnsektors, indem heute fast jeder vierte abhängig Beschäftigte (fast 9 Millionen Menschen) für weniger als 10,80 Euro brutto die Stunde arbeiten muss.29

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) rief den Niedriglohnsektor als einen Erfolg für Deutschland aus. Zur Eröffnung des Weltwirtschaftsforums in Davos sagte er 2005: „Wir haben einen der am besten funktionierenden Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“30 Hier findet noch absolute Mehrwertproduktion statt. Weil der Lohnsatz so niedrig ist, müssen die abhängig Beschäftigten lange Arbeitzeiten anbieten, um überhaupt auf ein Einkommen zu kommen, dass einigermaßen ihre Reproduktion sichert. Dadurch kommt es aber nach Wolfgang Stützel (1925-1987) zu einer anormalen Arbeitsangebotsreaktion. Statt weniger Arbeitszeit anzubieten, um so das Arbeitsangebot zu verknappen, bieten die Beschäftigten mehr Arbeitzeit mit der Folge an, dass jetzt die Löhne noch mehr verfallen.31 Indiz für die Arbeitszeitausweitung bei gleichzeitigem Lohnverfall ist dabei auch die starke Zunahme der Doppelverdiener in den privaten Haushalten. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat sich allein der Anteil der Paare zwischen 50 bis 64 Jahren in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt, wo beide Partner einer Berufstätigkeit nachgehen. Waren es 1997 noch 29%, so liegt der Anteil heute bei 66%.32

Dringender Handlungsbedarf

Vor diesem gesamten Hintergrund besteht ein dringender Handlungsbedarf. Um die gesellschaftlich notwendige Arbeitzeit einigermaßen gerecht zu verteilen, muss auf die wirtschaftspolitische Agenda eine „Kurze Vollzeit für alle“ (Hartmut Seifert) gesetzt wer-den. Die Vollzeit muss abgesenkt und die Teilzeit angehoben werden. Ansonsten wird es weiter, wie schon seit Mitte der 1970er Jahre in Deutschland zu keiner Beseitigung der Arbeitslosigkeit und einem weiteren Verfall der Arbeitseinkommen und immer mehr prekär Beschäftigten kommen – insbesondere auf vielen weiterwachsenden Dienstleistungsmärkten. Wir können hier und heute nicht noch länger zuwarten, wie Bebel schreibt, bis der letzte Kapitalist „expropriiert“ ist. Wir müssen endlich begreifen, dass die auch in Zukunft durch technischen Fortschritt erwachsenen Produktivitätssteigerungen in Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen zur Verteilung gebracht werden müssen. „Das alte Produktionsproblem ist im Grunde gelöst“, schreibt Zinn. „Mißlungen ist bisher, den materiellen Reichtum richtig zu verteilen. Die richtige Verteilung wird nur gelingen, wenn wieder Vollbeschäftigung hergestellt wird. Denn auf absehbare Zeit leben wir noch in einer ‚Arbeitsgesellschaft‘ und dies bedeutet, daß die Mehrzahl der Menschen ihren Lebensstandard durch Erwerbsarbeit verdienen muß. Deshalb schließt die Verteilungsfrage die Verteilung der Arbeit mit ein. So gesehen ist Arbeitslosigkeit primär kein Produktionsproblem (mehr), sondern zu einem Verteilungsproblem geworden.“33

Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung verlangt hier deshalb einen vollem Lohn-, Personal- und Finanzierungsausgleich bzw. ein Eindringen in den Mehrwert. Im Befund liegen in einer real wachsenden Wirtschaft34 bei einer Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich immer eine

Lohnstückkostenneutralität, keine Preissteigerung (keine Inflation) und eine Verteilungsneutralität der Wertschöpfungen vor. Außerdem steigen die Gewinne der Kapitaleigner in gleicher Höhe wie bei verkürzter Arbeitszeit die Reallöhne zulegen.35 Bei diesem nur Gewinner produzierenden Befund, gibt es aber dennoch Kritik. Fragt man nach dem Finanzier, so muss man feststellen, dass sich die abhängig Beschäftigten ihre Arbeitszeitverkürzung selbst finanzieren. Die Kapitaleigner beteiligen sich somit null an der verkürzten Arbeitszeit. Deshalb verlangt eine wissenschaftlich fundierte Arbeitszeitverkürzung immer eine Umverteilung zu Lasten der Kapitaleigner und des von ihnen angeeigneten Mehrwerts zu Gunsten der Arbeitseinkommen. Diese Form einer gerechten gesellschaftlichen Partizipation, an den von den Beschäftigten geschaffenen Werten, zeigt aber gleichzeitig auch die ganze Schwierigkeit, die notwendige Umverteilung unter kapitalistischen Herrschafts- und Eigentumsbedingungen umzusetzen. Und die Schwierigkeit wird noch um ein vielfaches größer, wenn es zu einer EU-weiten Lösung in der Arbeitszeitfrage dringend kommen muss. Damit wissen wir dann aber auch, warum es bei der kollektiven Arbeitszeitverkürzung keine Entwicklung gibt. Den „point of no return“ sollte man jedoch erkennen, bevor es zu spät ist, sagt Jürgen Habermas.36

 

Anmerkungen:

1 Vgl. Bontrup, H.-J., Niggemeyer, L., Melz, J., Arbeitfairteilen. Massenarbeitslosigkeit überwinden!, Hamburg 2007

2 Vgl. Kittner, M., Arbeitskampf. Geschichte-Recht-Gegenwart, München 2005

3 Prantl, H., „Demokratie muss gelernt werden, immer wieder“, in: Bissinger M. (Hrsg.), Demokratie lernen. Zur Verleihung des August-Bebel-Preises an Oskar Negt, Göttingen 2012, S. 46

4 Keynes, J. M., 1930, zitiert bei Reuter, N., Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität, 2. Aufl., Marburg 2007, S. 143

5 Ziegler, J., Ändere die Welt, München 2014, S. 157

6 Kurz-Scherf, I., „Vielleich sind wir immer noch viel zu beschieden“, in: OXI, Wirtschaft anders denken, Nr. 1/2019, S. 18

7 Negt, O., „Multiorganversagen des Systems“, in: Wiener Zeitung vom 2. November 2016

8 Negt, O., Rot-Rot-Grün im Trialog: Schaffen wir linke Mehrheiten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2016, S. 84f.

9 Prantl, H., „Demokratie muss gelernt werden, immer wieder“, a.a.O., S. 46

10 Zinn, K. G., Zinn, K. G., Keynes‘ Wachstumsskepsis auf lange Sicht. Darstellung und Überlegungen zu ihrer aktuellen Relevanz, in: Kromphardt, J. (Hrsg.), Weiterentwicklung der Keynes’schen Theorie und empirische Analysen, Marburg 2013, S. 83f.

11 Vgl. Mandel, E., Wolf, W., Weltwirtschaftsrezession und BRD-Krise 1974/75, Frankfurt a.M.

12 Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), IAB-Kurzberichte 14/2008, 04/2017

13 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2020, Tab. A 4

14 Vgl. dazu ausführlich Niess, F., Geschichte der Arbeitslosigkeit, Köln 1979, Friedrich, H., Wiedemeyer, M., Arbeitslosigkeit ein Dauerproblem, Opladen 1998

15 Vgl. Kalecki, M. (1943), Politische Aspekte der Vollbeschäftigung, in: Werksauswahl, Neuwied 1976, Robinson, J. (1943), Das Problem der Vollbeschäftigung, Köln 1949

16 Vgl. Zinn, K. G., Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, Köln 1998, S. 18f.

17 Hickel, R., Kassensturz. Sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik, Reinbek bei Ham-burg 2006, S. 245

18 Vgl. Fedorets, A., Grabka, M. M., Schröder, C., Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 28/2019, S. 483ff.

19 Vgl. Seils, E., Mangel an Fachkräften oder Zahlungsbereitschaft? Eine Analyse von Daten des DIHK, in: WSI-Report, Nr. 41, August 2018

20Vgl. Selke, S., Die neue Armenspeisung. Der Boom der Tafel Bewegung, in: Blätter für deut-sche und internationale Politik, Heft 1/2009

21 Vgl. Böckler Impuls 5/2919

22 Smith, A. (1776): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, (Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker), aus dem Englischen übersetzt von Monika Streissler, Tübingen 2005, S. 143

23 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2020, Köln 2020, Tab. A 3

24 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2018, Köln 2018, S. 171ff.

25 Vgl. Bontrup, H.-J-., Das bedingungslose Einkommen – eine ökonomisch skurrile Forderung, in: Butterwegge, C., Rinke, K. (Hrsg.), Grundeinkommen kontrovers, Weinheim, Basel 2018, S. 114ff.

26 Vgl. Bontrup, H.-J., Daub, J., Kritik, die an der Oberfläche bleibt, in: OXI, Wirtschaft anders Denken, Nr. 5/2020, S. 20

27 Abschreibungen, zur Erklärung, sind im nichtbereinigten Volkseinkommen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) fälschlicherweise nicht mehr enthalten. Die Kapitaleigentümer haben aber über die Abschreibungsbeträge ihr eingesetztes Kapital verteilungsmäßig zurückerhalten. Bei einer Wiederbeschaffungspreisbewertung der Abschreibungen sogar inkl. Inflation. Dies garantiert ihnen die „Ewigkeit ihres Kapitals“. Deshalb müssen zur Bereinigung die Abschreibungen zum Volkseinkommen addiert und danach das berichtigte Volkseinkommen auf „Arbeitnehmerentgelte“ und „Unternehmens- und Vermögenseinkommen“ aufgeteilt werden.

28 Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 18/Reihe 1.1, eigene Berechnungen

29 Vgl. Grabka, M. M., Schröder C., Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 14/2019, S. 249ff.

30 Schröder, G., zitiert in: Ossietzky, Heft 7/2013, S. 247

31 Vgl. Stützel, W., Marktpreis und Menschenwürde, 2. Aufl., Stuttgart 1982, S. 75f.

32 Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/article 192815051/Doppelverdiener, (Abruf am 29.6.2020)

33 Zinn, K. G., Arbeitszeitverkürzung gegen Massenarbeitslosigkeit, in: Kurz-Scherf, I., Breil G. (Hrsg.), Wem gehört die Zeit, Hamburg 1987, S. 245

34 Wie sich hier ganz konkret eine Arbeitszeitverkürzung ausgewirkt haben könnte, zeigt eine Untersuchung anhand der deutschen Elektrizitätswirtschaft von 1998 bis 2013. Anstatt hier ca. 60.000 Arbeitsplätze zu vernichten, hätte man alle Arbeitsplätze erhalten können, wenn man bei vollem Lohnausgleich die damals bestehende Arbeitszeit von 35 Stunden je Woche auf 25 Stunden abgesenkt hätte. Vgl. dazu ausführlich Bontrup, H.-J., Arbeitszeitverkürzung in der Elektrizitätswirtschaft, in: WSI-Mitteilungen, Heft 6/2016

35 Vgl. zur theoretischen Ableitung, Bontrup, H.-J., Lohn und Gewinn, Volks- und betriebswirt-schaftliche Grundzüge, 2. Aufl., Wien, München 2008, S. 312ff.

36 Über Habermas und sein Leben, in: Frankfurter Rundschau vom 18.06.2019

 

 

 

Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht in: Sozialismus, Heft 9/2020 Heinz-J. Bontrup https://www.sozialismus.de/
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