18.000 Dortmunder schlucken Pillen gegen den Stress am Arbeitsplatz

burnoutImmer mehr Arbeitnehmer in Dortmund müssen sich künstlich aufputschen, damit sie im Arbeitsalltag durchhalten können. Eine neue Befragung der Krankenkasse DAK ergab, dass 18.000 Dortmunder schon einmal mit verschreibungspflichtigen Pillen am Arbeitsplatz gedopt haben.

Die einen wollen ihre Leistung steigern, die anderen kämpfen gegen den Stress. „Erneut mehr psychische Erkrankungen in Dortmund“, so lautete vor einiger Zeit das bedrohliche Resultat des Gesundheitsreports der DAK, „ jeden Tag fehlen hier 4 Prozent der Beschäftigten krankheitsbedingt“. Auch die AOK schlug Alarm: „Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen sind seit 1999 um fast 80 Prozent angestiegen“. Die Ausfallzeit bei psychischen Erkrankungen dauerte mit 23,4 Tagen je Fall doppelt so lange, wie der Durchschnitt aller Krankentage.

Bei der Befragung durch die DAK gaben 6,7 Prozent der Beschäftigten an, schon einmal Hirndoping eingesetzt zu haben. Für Dortmund mit knapp über 300.000 Erwerbstätigen heißt das: über 18.000 Berufstätige haben wenigstens einmal verschreibungspflichtigen Pillen genommen, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein oder Stress abzubauen. Rund 7500 Arbeitnehmer nutzen sogar regelmäßig Medikamente für diesen Zweck. Nicht eingerechnet sind frei verkäufliche Mittel wie Koffeintabletten, Alkohol oder Gingko-Produkte.

Die Gründe für die krankmachende Situation am Arbeitsplatz sind längst bekannt. Schicht- und Nachtarbeit, Arbeitsplatzunsicherheit, befristete Arbeitsverhältnisse, mangelnde Anerkennung, geringe Qualifikationsmöglichkeiten, permanente Umstrukturierungen, ununterbrochene Ausdünnung der Belegschaften, immer mehr Aufgaben noch oben drauf gepackt, hohe Arbeitsintensität, bezahlte und unbezahlte Überstunden, lange und unplanbare Arbeitszeiten und die zunehmende Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit zeichnen den heutigen Arbeitsalltag aus. Und nach der Arbeit verschwimmen die Grenzen zwischen der Arbeitszeit und der Freizeit zunehmend. Dank E-Mails, Internet, Facebook, Twitter, Handy und Smartphone hat der Arbeitgeber immer wieder Zugriff auf die Beschäftigten.

Diese Belastung trifft fast alle gleich, die Folgen sind aber nicht für alle gleich. Besonders für Frauen führt diese Belastung zu Konflikten und Überlastungen, wenn man an ihre zusätzliche Arbeit in Familie, Kindererziehung und Pflege der Angehörigen denkt.

Mittlerweile erhalten 1,63 Millionen Menschen Rente wegen verminderter Erwerbstätigkeit. Das liegt nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung vor allem an psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angstzuständen. Diese waren in 42,1 Prozent der Fälle für vorzeitige Verrentung verantwortlich. Erst mit einem Anteil von knapp 14 Prozent folgen orthopädische Beschwerden, dann Krebs-, Herz- und Kreislauferkrankungen. Noch 1996 ging nur jeder Fünfte wegen seelischer Leiden in die Frührente, aber jeder Vierte wegen Schwierigkeiten mit Skelett und Muskulatur.

Was die Menschen so stresst und ausbrennen lässt, hat weniger mit arbeitsmedizinisch messbarer Belastung zu tun, als vielmehr mit der bedrückenden Wahrnehmung, allzu sinnentleert einer Beschäftigung nachgehen zu müssen, die lediglich nur noch dem Erwerb von Existenzmitteln dient. Den ökonomischen Zwängen folgt die Entfremdung und macht die Leute krank. Besonders dann, wenn noch offensichtlich ist, dass auf der Unternehmensseite ausschließlich Verwertungsinteressen verfolgt werden.

Es geht nicht um Fälle von individuellem Fehlverhalten oder um wenig belastbare Menschen, die persönliche Schwächen und Probleme haben. Es geht um systematischen Verschleiß, systematisches Auspressen der Kräfte und systematische Gier nach dem Profit.

Die heutigen jungen Beschäftigten sind meistens in eine städtisch ausgerichtete Gesellschaft hineingeboren und darin sozialisiert, in der mittlerweile alles zur Ware geworden ist, selbst ihre Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte. Sie sind einem permanenten Konkurrenzdruck ausgeliefert, bei dem kein Platz mehr für „konkrete Utopien“ ist. Die Logik von Geld und Ware durchdringt alle Lebensbereiche, bis hinein in ihre alltägliche Lebensführung. Sie müssen sich zunehmend als lebendige Waren- und Geldsubjekte verstehen und andauernd an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Ihr möglichst makelloses Gesicht ist zum Markenzeichen mutiert und muss zu Werbezwecken in den „sozialen“ Netzwerken öffentlich gezeigt werden.

Die jungen Menschen wissen genau, dass ihre vielen virtuellen Freunde eigentlich mehr ihre Konkurrenten sind und ihr zukünftiges Leben an Reichtum, Konsumieren, Spaß haben, individuelle Stärke und Durchsetzungsvermögen gemessen wird. Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, dass

  • ihre Arbeitskraft im Zuge der dritten, der mikroelektronischen industriellen Revolution überflüssig geworden ist und nicht mehr gebraucht wird.
  • sie anders als noch ihre arbeitslosen Vorgängergenerationen, nicht zur industriellen Reservearmee gehören, die nach einer Krise wieder eingestellt werden, sondern dass sie überflüssig sind
  • sich durch die Globalisierung und Rationalisierung die Produktivität immens erhöht hat, aber die Anzahl der Arbeitsplätze nicht. Eher hat sich die weltweite Massenarbeitslosigkeit strukturell verfestigt
  • sie keine durchgängige Beschäftigungsbiografie haben werden, sie meist flexible Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, die kaum eine Lebensplanung ermöglichen und sie sich nicht um eine ausreichende Altersvorsorge kümmern können
  • im Konkurrenzkampf soziales Verhalten als Schwäche ausgelegt wird, Gesund- und Fittheit ausgestrahlt werden müssen, sie ständig erreichbar und mobil sein müssen und nirgendwo Wurzeln schlagen können

und wenn sie eine Arbeit haben, sie ständig einer Überforderung ausgesetzt sind, die sie langfristig körperlich und seelische erkranken lässt.

Da gilt es für menschliche Arbeitsbedingungen, für „gute Arbeit“ und für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich zu kämpfen.

Wir können ja schon mal beginnen und am besten so, wie es die IG Metall schon seit langem fordert: Werden wir als Vertrauensleute, Mitarbeitervertretung und Betriebs- und Personalräte doch zu Experten für Burnouts in den Betrieben, werden wird Experten im Selbstschutz und im Erkennen krankmachender Arbeitsbedingungen und gefährdeter Kolleginnen und Kollegen.

Machen wird das Thema im Betrieb öffentlich, decken wir die Ursachen für die schlechten Arbeitsbedingungen auf und nutzen wir unsere Mitbestimmungsrechte und das Arbeitsschutzgesetz, um die Missstände zu ändern!

Lotsen wir die angeschlagenen und kranken Kolleginnen und Kollegen doch zu den betreffenden Beratungsstellen oder helfen ihnen bei Überlastungsanzeigen!

 

Quellen: WAZ, DAK

Bild: medical observer