Arbeitsgerichte urteilen im Interesse der Konzerne

Von Rolf Geffken

I. Klassenjustiz

Vor jetzt 46 Jahren erhielt der Verfasser dieser Zeilen noch vor seinem ersten juristischen Staatsexamen die Mitteilung, er werde wegen seines Buches „Klassenjustiz“ das anstehende Referendariat nicht als Beamter absolvieren können. Ein Sturm der Entrüstung auch in der Sozialdemokratie führte schließlich zur Aufhebung dieser Entscheidung durch die politische Führung der Freien und Hansestadt Hamburg . Vielleicht war es besser, dass p o l i t i s c h e Instanzen ausdrücklich den Diskurs über „Klassenjustiz“ damit zuließen und nicht Richter, die sich dabei gegebenenfalls selbst hätten beurteilen müssen… Klassenjustiz war und ist kein Schimpfwort sondern ein wissenschaftlicher Begriff.

Das zitierte Büchlein war denn auch hervorgegangen aus einer Seminararbeit bei dem Juristen und Soziologen Klaus Dammann und nicht etwa Teil einer politischen Propagandashow. Anders als Autoren wie Wolfgang Kaupen, Rüdiger Lautmann und Theo Rasehorn sah der Verfasser allerdings das Wesen der Klassenjustiz nicht bloß in einer schichtenspezifischen Justiz zu Lasten von Angehörigen unterer Schichten , sondern im Nachgang zur Einschätzung des Juristen Karl Liebknecht in ihrer Funktion als Teil eines letztlich gegen die Interessen und Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse gerichteten Staatsapparates. Wobei die Justiz vor allem a u c h die Interessen des besonders mächtigen Monopol- und Großkapitals durchsetzen helfe.

Die Erinnerung an diese Definition von Klassenjustiz stellt sich unweigerlich ein, wenn man sich vergegenwärtigt, wie lange deutsche Gerichte, die sogar zT kriminell agierenden Automobilkonzerne bei deren systematischen Betrug an Kunden und Öffentlichkeit ungeschoren ließen. Irgendeine Art von Mut gegen die Mächtigen bewies dabei k e i n deutscher Richter. Auch nicht als sogar die nicht unbedingt als „antikapitalistisch“ bekannte US-amerikanische Justiz vorexerzierte, welche Sanktionen gegen solche Konzerne angemessen waren und welche nicht.

II. Justiz im Interesse der Automobilindustrie?

Die deutsche Justiz zeigte irgendwie „Verständnis“ für die gebeutelte deutsche Exportindustrie und wollte anfangs wenig bis gar nichts wissen von Sanktionen für die Manipulationen beim Abgasskandal. Immerhin: Eine gewisse Kritik an der Halbherzigkeit deutscher Gerichte beim Umgang mit den bekanntlich nach wie vor „ahnungslosen“ Bossen der Automobilindustrie ließ sich auch in den hiesigen Medien nicht vermeiden. Doch was gänzlich und nachhaltig unter den Teppich gekehrt wurde oder dort von Anfang an verblieb, das war der Umgang deutscher Arbeitsgerichte mit den „Manipulationen“ der deutschen Automobilindustrie bei sogenannten Scheinwerkverträgen. Dieser Umgang, auf den nachfolgend im Einzelnen anhand einiger Urteile norddeutscher Arbeitsgerichte eingegangen werden wird, ist zunächst vor allem dadurch gekennzeichnet, dass – wie noch oben unter Ziff. VIII.6. ausgeführt werden wird – auf unterschiedliche Klagen von Arbeitnehmern auf Festanstellung mit dem Hinweis, sie seien in die Arbeitsorganisation des Unternehmens eingegliedert, stets dadurch reagiert wurde, dass die jeweils geltend gemachten Indizien für eine Eingliederung noch während des laufenden Prozesses vor Ort „kaschiert“ wurden.

Mit der Charakterisierung dieser Rechtsprechung als Klassenjustiz scheint es allerdings nicht getan zu sein. Vielmehr dürfte diese Rechtsprechung in der allseits bekannten „Anstalt“ verhandelt werden müssen, weil nur dieser Ort für die Absurditäten dieser Rechtsprechung angemessen zu sein scheint. Wie man nachfolgend sehen wird, ist nämlich diese Rechtsprechung einer ernsthaften bloß „juristischen“ Kritik kaum noch fähig.

Da geschieht nämlich etwas Ungeheures und es scheint, die Akteure wüssten es genau, wüssten aber auch, dass die Öffentlichkeit sich nicht dafür zu interessieren scheint. Diese Rechtsprechung andererseits etwa als „Rechtsbeugung“ zu bezeichnen, wäre zu plump und würde es den Kritisierten allzu leicht machen, die Kritik – wie in solchen Fällen meist üblich – als „unsachlich“ abzuqualifizieren, denn natürlich sind die gesetzlichen Regelungen immer irgendwie „interpretierbar“ und andere „Auffassungen“ unter Juristen fast immer „vertretbar“. Eines aber lässt sich belegen: Diese Rechtsprechung ist von einem solchen Maß an „Verständnis“ für die allmächtigen Automobilkonzerne geprägt, dass es dem Betrachter schwerfällt, noch von einer unabhängigen und sachlich argumentierenden Justiz zu sprechen.

III. Neoliberale Destruktion durch Leiharbeit

Worum geht es? Beobachter wissen: In den letzten 40 Jahren wurden die hergebrachten und ehedem anerkannten Strukturen des deutschen Arbeitsrechts systematisch durch eine neoliberale Gesetzgebung zerstört. Dazu gehört vor allem die Einführung der noch in den 1970er Jahren unbekannten „Leiharbeit“. An deren Beginn stand allerdings nicht ein neoliberaler Gesetzgeber sondern ein „verständnisvolles“ Bundesverfassungsgericht, das meinte, man könne mit einer zu starken Reglementierung der „Zeitarbeit“ den sogenannten Zeitarbeitsfirmen doch nicht das Grundrecht (!) auf Berufsfreiheit nehmen, zumal – schon damals stand die Gefahr des dauerhaften „Verleihs“ im Raum – „kaum eine Lebenserfahrung“ (!) dafür spräche, dass in Betrieben längere Zeit hindurch fremde Arbeitnehmer tätig seien. An dieses Verständnis, mit dem das Tor weit für die später systematisch legalisierte Leiharbeit aufgestoßen wurde, mögen heute Richter nur ungern erinnert werden: Gerade der ständige Versuch, die Leiharbeit auch im Einzelfall auszudehnen und vor allem die Existenz von Leiharbeit in den Unternehmen zu einer Dauererscheinung werden zu lassen, war nachfolgend Gegenstand unzähliger Gerichtsentscheidungen. So viel zur „Lebenserfahrung“ von Richtern…

Die Leiharbeit war gerade den großen Unternehmen (und nicht bloß den „kleinen“ Zeitunternehmen) viel zu wichtig für den Personaleinsatz und die Personalstruktur Betriebe, als dass sie darauf hätten verzichten wollen. Die Leiharbeit wurde zum festen Bestandteil der Personalpolitik in den Unternehmen. Und: Leider freundeten sich auch Gewerkschaften und Betriebsräte mit dieser Art Personaleinsatz an, schien diese doch geeignet, den Bestand der Stammbelegschaften auf Kosten der Manövriermasse der Leiharbeiter zu sichern.

IV. Der Trick mit den Scheinwerkverträgen

Den großen Unternehmen aber reichte schließlich diese Art zusätzlicher „Flexibilität“ (neben sachgrundlosen Befristungen, erleichterten Kündigungen, Namenslisten bei Sozialplänen usw.) nicht mehr: Sie erfanden die sog. „Werkverträge“, mit denen sie ganze Produktionsbereiche innerhalb (!) des Unternehmens „ausgliederten“, um auf diese Weise die Belegschaften dauerhaft zu spalten und Lohnkosten zu senken (und damit auch die Gegenmacht der Belegschaften zu untergraben). Zunächst fing es scheinbar harmlos an: Fuhrparks wurden Fremdfirmen übertragen, IT-Abteilungen durften von Spezialisten betrieben werden, Buchhaltungen wurden gar nach Indien „outgesourct“. Doch warum dabei stehen bleiben, wenn alles und jedes z. B. in den großen Automobilfirmen „ausgegliedert“ werden kann? So könnte man doch z. B. alles was sich irgendwie „bewegt“ und innerhalb des Unternehmens wie ein „Transport“ aussieht, als „Logistik“ aussondern (aber natürlich ohne dass sich am Produktionsablauf etwas ändert). Oder?

Das ArbG Emden jedenfalls behauptete in einer Reihe von Urteilen: „Bedenken, dass die (!) Logistik nicht geeignet wäre, als abgegrenzter Bereich outgesourct und einem Dienstleister zur selbständigen Erbringung übertragen zu werden, hat das Gericht nicht.“ Was galt und gilt in der Rechtsprechung z. B. als „Logistik“? Man sollte es nicht für möglich halten: Darunter waren auch gerade Arbeitsvorgänge, die unmittelbar mit der Produktion zusammenhängen. So fuhren mehrere der betroffenen Kläger bei VW gemeinsam mit Stammbeschäftigten (!) sog. Routenzüge, um Produktionsteile an die Produktionslinie zu bringen. „Just in Time“. Total abgestimmt auf die Produktion selbst. Doch auch d a s sei „keine Produktion“, meinte die Kammer 1 des ArbG Emden. Die Kammer verließ sich auf das Wirtschaftslexikon von Gabler und fand: Logistik sichere „die Verfügbarkeit des richtigen Gutes, in der richtigen Menge … am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, für den richtigen Kunden …“. Daran schloss sich die Schlussfolgerung des Gerichts an: „Entsprechend der vorstehenden (!) Definition diene die Tätigkeit des betroffenen Klägers, der – achja – Verfügbarkeit des richtigen Gutes, am richtigen Ort …“ usw. Auch das Entriegeln der Behälter und das Schließen der Anlage könne „noch (?) dem Begriff Logistik … zugeordnet werden“. Bei VW und Daimler waren es schließlich auch die Testfahrer und eine Vielzahl von Technikern und IT-Experten, die für „Werkvertragsfirmen“ tätig wurden. Und zwar immer in demselben Arbeitsbereich, in denen auch zuvor (oder sogar weiterhin!) Stammbeschäftigte tätig waren.

VW ging n o c h weiter: Das Unternehmen übertrug die gesamte innerbetriebliche „Logistik“ nicht etwa einem echten „Fremdunternehmen“ sondern einer konzerneigenen Tochterfirma, der AutoVision GmbH (später „VW Group Services“). Die Beschäftigten waren bzw. sind in den Arbeitsprozess voll eingegliedert und befördern nicht nur – wie bereits oben beschrieben – Produktionsteile an die „Linie“, sondern fuhren und fahren auch Pkws auf Bänder, in Hallen, auf Stellplätze und auf Eisenbahnwaggons und Schiffe (z. B. in Emden), nehmen Nachkontrollen und Reinigungen vor usw.. Sie tragen Arbeitskleidung mit VW-Emblem und Namensschildern. IT-Techniker hatten eine E-Mail-Account des Unternehmens und alle folgten den Weisungen von VW-Vorgesetzten. Wohl gemerkt: Ihr Arbeitgeber ist Teil des Konzerns. In seinen Aufsichtsratsgremien sitzen leitende Angestellte des Konzerns und ohne die Aufträge des Mutterunternehmens würde dieser „Dienstleister“ gar nicht wirtschaftlich bestehen können. Solche Dienstleister sind schlicht Teil der Gesamtarbeitsorganisation – wie auch immer spitzfindige Juristen dieses drehen möge.

Die Betriebsräte wehrten sich fast nicht gegen die gezielte Errichtung solcher Unternehmen, deren bloße E x i s t e n z bereits manipulativen Charakter hatte und hat, weil etwas „fremdes“ vorgetäuscht wurde, was niemals „fremd“ war oder auch nur s e i n sollte. Die IG Metall schloss mit diesen Firmen eigene Tarifverträge ab und vereinbarte im Fall der „AutoVision“ bei VW sogar die Zuständigkeit der Stammbetriebsräte. Folge: Die angeblichen „Fremdbeschäftigten“ wählten und wählen den Betriebsrat der Stammbelegschaft mit dem (zufälligen?) Ergebnis, dass diesem fast keine „Fremdbeschäftigten“ angehören, gleichwohl aber der Betriebsrat in deren Namen spricht … Für andere „echte“ Fremdfirmen organisierte die IG Metall die Wahl eigener Betriebsräte, z. B. für die Firma Hofer Getriebetechnik GmbH, deren Mitarbeiter teilweise an selben Arbeitsplätzen im VW Werk Wolfsburg tätig waren wie die Stammbeschäftigten.

V. Sanktionen gegen die Kläger?

Aus Sicht der Betriebsräte war damit doch alles in Ordnung? Oder? Zumindest wenn das Wichtigste nur die Wahl irgendeines Betriebsrates hätte gewesen sein sollen. Die betroffenen Kollegen waren und sind allerdings anderer Meinung. Nicht etwa nur deshalb, weil sie bisweilen maximal 2/3 des Gehaltes eines Stammbeschäftigten beziehen, sondern auch weil sie sehr oft wie Beschäftigte zweiter Klasse von vielen Vorgesetzten behandelt werden. Dies jedenfalls trat beispielsweise zutage im Falle des betroffenen Murat C., der unter seinen Kollegen für Klagen auf Festanstellung als Stammbeschäftigte geworben hatte und gegen den man systematisch „ermittelt“ hatte, ob es etwas „zu ermitteln“ gäbe. Zunächst wurde er zwangsfreigestellt und der Werkschutz führte ihn vom Betriebsgelände. Damit – so fast wörtlich – die Ermittlungen frei von seiner Einflussnahme (also der eines einzelnen einfachen Arbeiters!) erfolgen konnten. Nachdem man schließlich „fündig“ geworden zu sein schien, kündigte man ihm. Merke: Also erst d a n n! Der Hinweis seines Anwaltes, es sei rechtsmissbräuchlich, erst zu ermitteln, ob es etwas zu ermitteln gäbe, und dann nachdem man fündig geworden sei, schließlich zu kündigen, wurde vom ArbG Hannover und auch vom LAG Niedersachsen zurückgewiesen. Es spiele keine Rolle, ob man auf diese Weise und aus jenem Anlass Gründe „gesucht“ habe. Es sei unbedeutend, „dass die Beklagte den Kündigungssachverhalt erst durch eigene Ermittlungen aufgeklärt (!) hat“. Noch deutlicher das LAG Niedersachsen in der Berufungsinstanz. Es sei „unerheblich“, ob die Beklagte Kündigungsgründe gesucht und Beschwerden gegen den Kläger gesammelt hat. Allein entscheidend sei, dass zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung objektiv ausreichende Kündigungsgründe vorliegen, würden. Tatsächlich hatte der Arbeitgeber systematisch Kollegen des Klägers, darunter solche, deren Vertragsverlängerung anstand, befragt, ob sie nicht eine Beschwerde gegen den Betroffenen einreichen wollten. Mit welcher Respektlosigkeit dabei Vorgesetzte dem Betroffenen und seinen Kollegen andererseits begegneten, ergibt sich aus folgenden unter Beweis gestellten Beschimpfungen: „Ihr seid nix, ihr könnt nix, ihr seid einfach nur Putzer.“ Ein Abteilungsleiter erklärte sogar laut und vernehmlich an die Adresse des Betroffenen und seiner Kollegen: „Diese Kanacken sind schlimmer als Tiere.“ Für das LAG Niedersachsen und das ArbG Hannover hatte all dieses keine Bedeutung. Beweise wurden nicht erhoben. Auch nicht über die Aufforderung zur Abgabe von Beschwerden über den Kläger. Es hatte einfach keine Bedeutung. Auch nicht für die Glaubwürdigkeit eines Vorgesetzten als Zeugen. Ein Vorgesetzter hatte den Kollegen des Betroffenen prophezeit, dieser werde nie wieder zurückkehren. Dafür werde e r sorgen! Die Bedeutung für das Gericht: Keine.

Zur angeblich mangelnden Relevanz des „Suchens“ nach Kündigungsgründen stellte sich im Prozess die Frage: Wenn die Tochterfirma des weltweit größten Automobilunternehmens ermitteln durfte, ob es etwas gegen einen einfachen aber missliebigen Arbeiter zu ermitteln gab, welche Möglichkeiten hatte dann eigentlich ein einfacher Arbeiter. „Zu ermitteln“, ob es vielleicht auch Verfehlungen auf Seiten des Unternehmens gab? Rhetorische Frage: Irrrelevant. Klassenjustiz? In einem anderen Werk war ein Betriebsratsmitglied, das sich für die Belange der Beschäftigten der AutoVision einsetzte, bedeutet worden, er solle vorsichtig sein mit seinem Engagement: Er laufe sonst Gefahr, „gegen den Betriebsfrieden“ zu verstoßen.

VI. Der Trick mit der Überlassungserlaubnis

Doch allem und allen zum Trotz: Die Betroffenen wehrten sich. Sie erhoben Klage auf Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses mit dem Stammbetrieb nach § 10 AÜG. Nach dieser schon längere Zeit existierenden Vorschrift kommt ein Arbeitsverhältnis mit dem Stammbetrieb zustande, wenn in dem Beschäftigungsverhältnis eine „verdeckte Arbeitnehmerüberlassung“ liegen sollte. Die Vorschrift lief viele Jahre leer, weil die sogenannten Fremdfirmen regelmäßig über eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis verfügten und dies nach dem Wortlaut des § 9 Nr. 1 i.V.m. § 10 Abs. 1, S. 1 AÜG a.F. das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses zum Stammbetrieb verhinderte. Übrigens ein erstaunliches Ergebnis angesichts der Tatsache, dass all diese Fremdfirmen angeblich gar keine Arbeitnehmerüberlassung betrieben, sondern hier angeblich nur „Werkverträge oder Dienstverträge“ erfüllten. Es war also deshalb auch nur eine sog. „Vorratsüberlassungserlaubnis“, die man einfach aus der Tasche zog, wenn einer der Beschäftigten auf die Idee kam, sich „einzuklagen“. Ein Skandal. Ein glatter Rechtsmissbrauch. Auch die Präsidentin des BAG Schmidt forderte (außerhalb eines Urteils), es müsse verhindert werden, „das Werkverträge, die keine sind, ohne Weiteres in Leiharbeit überführt werden, weil der Vertragsarbeitgeber im Konfliktfall eine Verleiherlaubnis aus der Tasche zieht. Dieses Hase- und Igel-Spiel zu Lasten der Arbeitnehmer ist schon deswegen problematisch, weil dann für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis plötzlich ganz andere Regeln gelten. Warum sollte die Unsicherheit dem Arbeitnehmer aufgebürdet werden?“

Zwar hatten die Landesarbeitsgerichte zuvor schon die Berufung auf diese ominöse „Vorratserlaubnisse“ als Rechtsmissbrauch eingestuft und die ArbeitsrechtsprofessorInnen Christiane Brors und Peter Schüren hatte dazu ihrerseits überzeugende Argumente geliefert. Aber das BAG ließ sich nicht überzeugen. Es stünde nun einmal im Gesetz, dass nur dann, wenn wegen Fehlens einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis der Vertrag zwischen Verleiher und Entleiher unwirksam sei, ein Vertrag zwischen Entleiher und Arbeitnehmer kraft Gesetzes zustande komme. Das BAG, das jahrzehntelang das deutsche Arbeitsrecht mit „Rechtsfortbildungen“ und „Rechtsschöpfungen“ oftmals sogar g e g e n das Gesetz prägte , verwies ausgerechnet auf den Gesetzeswortlaut und forderte in seiner Entscheidung mehrfach indirekt den Gesetzgeber auf, das Gesetz entsprechend zu ändern, wies ihm also den „Schwarzen Peter“ zu.

VII. Das „Machtwort“ des Gesetzgebers

Dies geschah dann tatsächlich mit dem Gesetz „gegen den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen“. Die Bundesregierung begründete ihren Mitte 2016 vorgelegten Gesetzentwurf damit, die Leiharbeit werde auch zukünftig „die nötige Flexibilität für Auftragsspitzen oder Vertretungen bieten“, hingegen werde „der Verdrängung von Stammbelegschaften … entgegengewirkt“. In der Tat: Die immer weitere Ausbreitung von Werkverträgen hatte zusätzlich zu dem erheblichen Anteil von fast 1 Mio. Leiharbeitnehmern zu massiven Spaltungen der Belegschaften geführt.

Es war gerade das BAG, dessen 7. Senat in einer Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass die Einheit der Belegschaft ein wesentlicher Grundwert der Betriebsverfassung sei. Wörtlich: Das Gesetz begrenze im kollektiven Interesse der Belegschaft deren Spaltung. Durch die „gesetzliche Klarstellung“, wer Arbeitnehmer sei und „die Pflicht, Leiharbeit offenzulegen, (würden) missbräuchliche Umgehungen des Arbeits- und Sozialrechts durch vermeintliche (!) Werkverträge verhindert“. Tatsächlich wurde die (entgegen dem Gesetz von den Unternehmen eingeführte) Vorratserlaubnis abgeschafft, indem in § 1 AÜG verlangt wurde, dass Verleiher und Entleiher in ihrem Vertrag die Überlassung von Arbeitnehmern ausdrücklich als Arbeitnehmerüberlassung bezeichnen müssten, bevor sie den Leiharbeitnehmer überlassen würden. Verdeckte Arbeitnehmerüberlassung war danach ausgeschlossen. Ferner seien Arbeitsverhältnisse zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer unwirksam und würden deshalb zu einer Festanstellung beim Stammbetrieb bzw. dem Entleiher führen, wenn die Arbeitsverhältnisse zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer (also bei Werkverträgen zwischen angeblichem Dienstleister und betroffenem Arbeitnehmer) nicht ausdrücklich als solcher gekennzeichnet seien und die Person des Leiharbeitnehmers nicht konkretisiert sei.

Also wäre – wie es die Kammer 1 des ArbG Emden in einem Urteil vom 28.09.2018 formuliert hat – jedenfalls mit Wirkung vom Zeitpunkt der gesetzlichen Neuregelung an, z. B. der zwischen den Klägern und der „AutoVision“ geschlossene Arbeitsvertrag unwirksam und ein Arbeitsverhältnis zwischen ihnen und der Firma VW „zustande gekommen, wenn die Beklagte den (die) Kläger in der Zeit ab 01.04.2017 als Leiharbeitnehmer beschäftigt hätte“.

VIII. Justiz ignoriert Gesetzgeber

D a s also war und ist nun für eine an den Interessen der Automobilkonzerne orientierte Rechtsprechung des Rätsels Lösung: Man muss es über die Frage entscheiden, o b der Werk- oder Dienstvertragsbeschäftigte ein Leiharbeitnehmer, oder genauer: ein „verdeckter“ Leiharbeitnehmer, war oder ist und d. h.: Man muss die Frage beantworten, ob er in die Arbeitsorganisation des „Entleihers“ eingegliedert war, den Weisungen des Entleihers unterlag oder ob er im Rahmen eines angeblichen Dienstleistungsauftrages nur bestimmte abgrenzbare Aufgaben für die angebliche Fremdfirma erledigte.

Und richtig: Hier setzte und setzt der ganze Einfallsreichtum deutscher Arbeitsgericht ein, um auf den Weg einer systematischen Verhinderung einer Eingliederung durch juristische Subsumtionstechniken zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, das der Gesetzgeber durch die AÜG-Novelle eigentlich verhindern wollte: Die Ermöglichung von verdeckter Leiharbeit. Im Einzelnen:

1. Alles darf „ausgegliedert“ werden

Zunächst muss alles und jedes im Betriebsablauf durch Werkverträge „ausgegliedert“ werden können und zwar a u c h, wenn es eigentlich „eingegliedert“ b l e i b t. Dass dies von den Niedersächsischen Arbeitsgerichten und dem Landesarbeitsgericht in Hannover bejaht wird, hatten wir schon oben anhand der innerbetrieblichen „Logistik“ gesehen. Dass man dort die sogenannten Routenzüge, welche der Produktionslinie zuarbeiten, zu Arbeitsprozessen „außerhalb der Produktion erklärte, hatten wir bereits erwähnt. Die Entscheidung des ArbG Emden vom 28.09.2018 (1 Ca 84/18) tat dies unter Hinweis auf ein „Wirtschaftslexikon“. Es folgte aber auch dem ArbG Emden, dass in mehreren Urteilen vom 28.09.2018 (z.B. 1 Ca 84/18) unter Hinweis auf wikipedia Logistik als „Branche“ (!) bezeichnete und folgendes ausführte: „Die Logistik ist mit einem Umsatz von 222 Mrd. Euro und 2,9 Mio. beschäftigt und die drittgrößte Branche in Deutschland. Der deutsche Logistik-Markt ist der größte weltweit.“ Die Branche (?) Logistik wird zum Beleg für die „Selbständigkeit“ von Routenzügen in der Automobilindustrie genommen. Die Deutsche Bahn und die Spedition Schenker dienen als Beleg für die Seriosität des Tricks mit der vermeintlichen „Intra-Logistik“. Nach der Logik solcher Entscheidungen könnte man den Arbeitsprozess in einem Restaurant auch so gestalten: Die Küche stellt das Essen wie bisher bereit. Dann jedoch transportiert die „Abteilung Logistik“ die Tablets zum Tresen, von wo aus sie von den Kellnern den Gästen serviert werden. Der Transport von der Küche zum Tresen ist ja „eindeutig“ kein Serviervorgang sondern ein Transport, so wie die Anlieferung von Fleisch und Mehl durch einen Lieferwagen des Großhandlers vor der Tür. Oder? Halten wir fest: U m zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, m u s s t e n die Richter so argumentieren. Also vom Ergebnis her. N i c h t vom Gesetz. Ganz so wie das Reichsgericht es 1923 in seinem sogenannten Betriebsrisikourteil formulierte: „Man darf … um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu kommen (!) überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (!) ausgehen, sondern muss vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seitdem entwickelt haben.“ Das war – wie später übrigens auch der Arbeitsrechtler Kurt Biedenkopf ausführte – „Klassenkampfdenken“. Man könnte auch mit dem Verfasser sagen: Das war: Klassenjustiz.

2. Der Trick mit der Konzernleihe

Dann aber wäre es natürlich auch zu wünschen, dass die bedauernswerten Arbeitgeber keinen Nachteil dadurch erleiden, dass sie beim „Transportvorgang“ nicht a u c h eigene Beschäftigte einsetzen. Das Arbeitsgericht Emden hatte hier vorgebaut: Nach ihm spielt es keine Rolle, ob der Transport im arbeitsteiligen Zusammenwirken mit Stammbeschäftigten erfolgt. Dies ändere jedenfalls nichts an der ja durch Vertrag (!) festgelegten Trennung von Stammbelegschaft und Fremdbeschäftigten. Um die Hürden für die geforderte Eingliederung in den Betrieb besonders hoch zu legen, verlangte man sogar den Nachweis, dass der Betroffene n i c h t in die Arbeitsorganisation der Fremdfirma (!) eingegliedert sei. Wie d a s angesichts der Tatsache, dass die Fremdfirmen gar keine sichtbare Arbeitsorganisation haben, geschehen sollte, beantwortete das Gericht jedoch nicht.

Dem Einwand, man wirke mit Stammbeschäftigten arbeitsteilig zusammen, begegneten das ArbG Emden und andere Gerichte mit dem Einwand – Achtung! -, die Fremdfirma (!) setze „n e b e n ihren eigenen Mitarbeitern auch VW-Mitarbeiter ein“. Aha? Ja. Und zwar soll es sich dabei um Stammbeschäftigte handeln, die von VW an die angebliche Fremdfirma AutoVision „ausgeliehen“ wurden. Zunächst: Dies waren Behauptungen des verklagten Unternehmens. Waren von den Klägern bestritten worden! Dokumente wurden nie vorgelegt. Niemand hatte sich zudem als „ausgeliehen“ zu erkennen gegeben. Die Argumentation mit der Konzernleihe war offensichtlich ein neuer Trick, nachdem der mit der Vorratsüberlassungserlaubnis vom Gesetzgeber abgeschafft worden war. Hinzu kommt, dass selbst für den Fall der „Leihe“ an den „Verleiher“ die Überlassungsdauer wegen der angeblich jahrelangen Praxis längst überschritten und damit rechtswidrig geworden war. Doch nicht nur das: Nach richtiger und europarechtskonformer Auslegung des AÜG erlaubt dieses die Konzernleihe nur, soweit die betroffenen Arbeitnehmer nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt o d e r beschäftigt werden. Sämtliche der in Rede stehenden Stammbeschäftigten, sei es Vorgesetzte oder „Kollegen“ aber waren n i c h t zum Zwecke der Konzernleihe eingestellt worden.

Die gesamte Konstruktion der Konzernleihe erfolgte nachträglich und die Gerichte übernahmen sie. Kritiklos. Während die Kammer 4 des LAG Niedersachsen in mündlichen Verhandlungen über eine eingelegte Berufung immerhin erstmals dies problematisierte und die Rechtsauffassung der Betroffenen teilte (das Urteil liegt noch nicht vor), erklärte die Kammer 1 des ArbG Emden im Urteil vom 28.09.2018 die Problematik kurzerhand für irrrelevant. Entscheidend sei nur (Achtung: Argumentation vom Ergebnis her!), „dass es bei einer tatsächlich praktizierten Arbeitsnehmerüberlassung, sei es im Konzern oder nicht, zu einem Wechsel des Weisungsrechts vom Verleiher auf den Entleiher kommt.“

Die Frage, ob diese Konzernleihe überhaupt zulässig war, interessierte die Kammer 1 des ArbG Emden gar nicht! Die Weisungen von Vorgesetzten, die Stammbeschäftigte der VW waren, wurden also kurzerhand zu „Weisungen … für die AutoVision, nicht aber für die verleihende Beklagte“ erklärt. Der Kammer 4 des LAG Niedersachsen erschien ihrerseits diese Argumentation doch etwas zu abenteuerlich und sie folgte jedenfalls im Rahmen der mündlichen Verhandlung (das Urteil liegt noch nicht vor) der Argumentation der Kläger und sah die Konzernleihe als vermutlich nicht zulässig an.

Allerdings spielte dies im Ergebnis keine Rolle, da die Kammer 4 ihrerseits eine ziemlich abenteuerliche Argumentation als „Ersatz“ parat hatte. Sie war plötzlich der Meinung, dass die Eingliederung erst für nach dem 01.04.2017 geschlossene Arbeitsverhältnisse hätte berücksichtigt werden können, weil es keine Übergangsvorschriften gäbe und weil ja der Arbeitgeber die Möglichkeit hätte haben müssen, hier die Situation ab dem 01.04.2017 anders zu regeln. Eine unglaublich groteske Argumentation, denn die Diskussion über den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen wurde in ganz Deutschland und über die Medien geführt und selbstverständlich hätte der größte Automobilkonzern der Welt jederzeit die Möglichkeit gehabt, seine Praxis hier anzupassen.

Noch schlimmer: Während im Hinblick auf diese Problematik die Vorsitzende der Kammer andeutete, sie würde die Revision vermutlich gegen das Urteil zulassen, stellte sich dann nach Verkündung des Urteils heraus: Die Revision wurde nicht zulassen. Anders die Kammer 8 des LAG Niedersachsen, die (noch v o r der AÜG-Novelle 2017) die Revision ausdrücklich zuließ . Allerdings mit der sicher unbeabsichtigten Folge, daß die IG Metall die Revision trotzdem n i c h t einlegte, weil diese angeblich „keine Aussicht auf Erfolg“ gehabt hätte…..

3. Kein Rechtsmissbrauch!

Keine Rolle spielte auch, dass die Vorgesetzten – eindeutig als Stammbeschäftigte – gleichzeitig den VW-Beschäftigten Weisungen erteilten und dann im selben Arbeitsprozess „unterschiedliche Hüte“ hätten aufgehabt haben müssen (was aber nie vorgetragen wurde). Beweis über diesen bestrittenen Rollenwechsel wurde nie erhoben. Die Berufung auf den Trick mit der Konzernleihe war – ebenso wie die frühere Berufung auf die sog. Vorratsüberlassungserlaubnis – nach Auffassung der Kläger Rechtsmissbrauch.

Die gegenteilige Auffassung des ArbG Emden mutet geradezu abenteuerlich an: Die Bejahung des Rechtsmissbrauchs setze voraus, dass die Konstruktion der Konzernleihe in einer mit Treu und Glauben unvereinbaren Weise nur dazu verwendet werde, sich zum Nachteil des anderen Vertragspartners Vorteile zu verschaffen. Das ArbG Emden konstatierte, eine solche nachteilige Verwendung sei „vorliegend“ zu verneinen. Warum? Weil der Betroffene als Leiharbeitnehmer nur hätte begrenzt eingesetzt werden können, als Werk- oder Dienstvertragsbeschäftigter aber hingegen unbegrenzt… Ist das noch juristisch kommentierbar?

4. Die Weisungen

Das schier absurdeste Kapitel dieser Rechtsprechung aber sind die Anforderungen an die Existenz von Weisungen durch Vorgesetzte. War die Eingliederung der Betroffenen als faktische Leiharbeitnehmer nicht ohnehin nach den obigen Ausführungen für die Gerichte vom Tisch, so eröffnete sich nun der „verständnisvollen“ Rechtsprechung ein weites Feld des argumentativen Einsatzes. An sich ging und geht es nur – wie generell bei Arbeitsverträgen – um den Nachweis abhängiger fremdbestimmter Arbeit. Dass diese im Regelfall „weisungsgebunden“ ausgeübt wird, ist selbstverständlich (§ 611a BGB). Gemacht wurde daraus aber nicht etwa der Nachweis der abhängigen Arbeit (durch Eingliederung), sondern der Nachweis von Weisungen.

Die Realität ist folgende: Arbeiter in der Produktion erhalten nur vereinzelt ausdrückliche „Weisungen“. Sie lesen bei Dienstbeginn die ausgehängten Einsatzpläne und verfügen im Übrigen über einen Handscanner, der ihnen zusätzlich auf digitalem Weg Weisungen erteilt. Weitere Weisungen erhalten Sie deshalb nur, soweit der zuständige Meister sie außerplanmäßig voranders einsetzt (z. B. Umsetzungen). Richtig: Letzterer befindet sich ja in der „Konzernleihe“, ist faktisch also gar kein Vorgesetzter des Unternehmens VW, auch wenn der Betroffene davon nichts weiß. Handscanner: Sie wurden eingesetzt von der „Fremdfirma AutoVision“, so VW und die Gerichte. „Nein!“ rufen die Betroffenen. Sie stehen im Eigentum von VW und werden von der Zentrale in Wolfsburg programmiert! Nein „!“ antwortete das beklagte Unternehmen. Der ganze Einsatz erfolgte angeblich d u r c h die AutoVision. Aha. Und die Betroffenen können es nur bestreiten. Sie bleiben aber beweispflichtig. Also ändert all dieses nichts aus Sicht der Rechtsprechung… Und die restlichen Weisungen – vorausgesetzt die Konzernleihe sei kein ausreichendes Gegenargument des Konzerns -? Richtig: Für d i e sind die Betroffenen bis ins letzte Detail darlegungs- und beweispflichtig. Auf Deutsch: Sie müssen Tag für Tag ab dem 01.04.2017 dem Inkrafttreten der AÜG-Novelle darlegen und gegebenenfalls beweisen, welcher Vorgesetzte ihnen welche Weisungen, auf welcher Weise, mit welchem Inhalt erteilt hat. Für IT-Techniker und andere Büro-Angestellte ist dieses nicht ganz so schwer. Sie drucken aus ihrem PC einfach alle E-Mails aus, die sie von Vorgesetzten mit Weisungen erhalten haben. Und der Arbeiter vor dem Band? Na klar: Er macht sich Notizen. Denn am 01.04.2017 (kein Aprilscherz!) wusste er ja: Ich muss nun alle Weisungen protokollieren, weil das Arbeitsgericht Emden oder das Arbeitsgericht Hannover dieses im Falle einer (damals noch gar nicht beabsichtigten!) Klage auf Feststellung wissen will. Also unterbricht der Betroffene kurz die Arbeit und notiert sich alles. Ja? Oder er macht mit dem Handy Fotos (obwohl es verboten ist). Aber von was? Die Weisung kam ja mündlich. Egal: Der Kläger ist darlegungs- und beweispflichtig. Auch wenn dies von ihm gar nicht im Detail umgesetzt werden, sondern nur nachträglich aus seiner Erinnerung heraus allgemein mit beispielhaften Angaben rekonstruiert werden kann. Ja, aber d a s ist s o „nicht substantiiert“ genug. Basta!

5. Keine Gesamtbetrachtung

Dieses ganze „Weisungs-Theater“ wäre an sich bei einer Arbeit, die nur in Ausnahmefällen durch Einzelweisungen gekennzeichnet ist, gar nicht notwendig. Andere Gerichte entschieden bereits, dass etwa ein Kantinenchef keine Weisungen erhalten muss, weil seine Arbeit „naturgemäß ohne Weisungen“ erledigt werde. Aber bei den „Fremdarbeitern“ in der Automobilindustrie hält die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte entgegen j e d e r Vernunft und Realität an diesem aus der Zeit mittelalterlicher Zünfte stammenden „Weisungs-Bild“ fest! Warum wohl?

Das Gesetz formuliert – übrigens auch seit der AÜG-Novelle! – in § 611a BGB: „Für die Feststellung, ob ein Arbeitsverhältnis vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen.“ D. h. doch: Es ist ein Gesamtbild zu erstellen und n i c h t an einzelnen Fliegenbeinen festzuhalten (vor allem wenn diese gar keine Relevanz in der Praxis besitzen). Doch kein einziges der angerufenen Gerichte unternahm auch nur den  V e r s u c h, noch einmal nach den Intentionen des Gesetzgebers bei der Schaffung der AÜG-Novelle zu fragen.

Eine Rechtsprechung, die s o l c h e Hürden aufbaut, verhindert nicht nur objektiv den Missbrauch verdeckter Leiharbeit. Nein: Sie sichert ihn ab. Sehenden Auges! Zu den vielen weiteren Indizien der Eingliederung der Betroffenen in die Arbeitsorganisation des Automobilunternehmens gehören auch diese Fakten: – das Tragen der Arbeitskleidung des Unternehmens mit Emblem – die Überweisung des Gehaltes durch die VW AG anstatt durch das „Fremdunternehmen“ – die Leistungsbeurteilung durch VW-Vorgesetzte zwecks Auszahlung eines Bonus – der Besitz von Fahrausweisen, Gabelstaplerscheinen und Werksausweisen u.v.w. Die Kammer 10 befragte die dort anwesenden Kläger sogar im Einzelnen (!) in der mündlichen Verhandlung vom 16.07.2019. Die genannten Punkte wurden in der Verhandlung unstreitig. Eine Bewertung nahm die Kammer nicht vor. Die Kläger hofften deshalb bereits, die Klage werde Erfolg haben. Irrtum: In der Urteilsbegründung spielte all dieses keine Rolle mehr.

In anderen Verfahren war überflüssiger Weise immer wieder stereotyp darauf hingewiesen worden, „a l l e i n“ die Dienstkleidung oder „a l l e i n“ die Überweisung des Gehaltes durch die Firma VW usw. begründe keine Eingliederung in die Arbeitsorganisation. Gewiss. Das hatte auch niemand behauptet. Aber es kam eben auf „eine Gesamtbetrachtung“ an. Auf eine Bewertung a l l dieser Indizien, gegebenenfalls auch mit der Folge einer Beweislastumkehr oder mindestens einer Beweiserleichterung für die Kläger.

Aber nichts von alledem geschah und geschieht: Keine Gesamtbetrachtung und keine Gesamtbewertung. Keine Beweiserleichterung, geschweige denn eine Beweislastumkehr.

6. Manipulationen

Noch während der laufenden Prozesse wurden in diesem Verfahren immer wieder Veränderungen an der Oberfläche der Arbeitsorganisation vorgenommen, um jedenfalls den Anschein einer Eingliederung zu widerlegen. Diese Manipulationen bestätigten im Grunde genommen nur die Richtigkeit der Einschätzung, dass die Betroffenen in die Arbeitsorganisation der VW AG eingegliedert w a r e n. Dennoch erfolgten sie.

Im Nachhinein fragt man sich allerdings, ob dieses wirklich notwendig war, selbst die Gerichte erwiesen sich ja als wesentlich „verständnisvoller“ als VW befürchtet hatte. Hier nur einige Beispiele etwa für die von VW vorgenommenen Manipulationen bei den Klagen von Getriebetechnikern im Werk Wolfsburg, die vor dem Arbeitsgericht Braunschweig verhandelt wurden. – Die Mitarbeiter wurden plötzlich nicht mehr in den Anwesenheitslisten und Urlaubslisten aufgeführt. Das Löschen der Daten erfolgte auf Anweisung des zuständigen Meisters. – Ab sofort durfte keine direkte Auftragsvergabe mehr an die Getriebetechniker erfolgen. Vielmehr wurde ein bestimmter Mitarbeiter ausgewählt, um die erteilten Arbeitsaufträge an die „Fremdbeschäftigten“ zu „kommunizieren“. – Noch während des Prozesses wurde von den Mitarbeitern der Fremdfirma verlangt, die nun für ihre Tätigkeit benötigten Werkzeuge aufzulisten.

Ziel sollte sein, dass nicht mehr VW-Werkzeuge verwendet werden, sondern „Hofer-Werkzeuge“(!). – Ebenfalls noch während des Prozesses wurden Namensschilder am Arbeitsplatz eingeführt. Dies erfolgte aufgrund einer Weisung des zuständigen Meisters durch den Unterabteilungsleiter. – Ebenso erfolgte die Streichung der sogenannten externen Mitarbeiter von der gemeinsamen Kaffeeliste (!). – Externe Mitarbeiter wurden noch während des Prozesses nicht mehr in den E-Mail-Verteiler aufgenommen und zwar ausdrücklich mit dem Hinweis, dass auf diese Weise der „Nachweis von Integration ins Team“ erschwert werden sollte. – Im Bereich des Teilebereitstellungslagers wurden 2 Mitarbeiter in ein anderes Büro umgesetzt. – Gemeinsame Arbeiten von Stammbeschäftigten und Fremdbeschäftigten in verschiedenen Werkstätten wurden zunächst durch Trennungsstriche auf dem Fußboden (!) gewissermaßen sortiert, später wurden die Stammbeschäftigten von den Fremdbeschäftigten auch räumlich getrennt.

All dies spielte auch beim Arbeitsgericht Braunschweig keinerlei Rolle in der Einschätzung der Eingliederung, allerdings war zu dem Zeitpunkt noch die Frage der Rechtsfolge der sogenannten Vorratsüberlassungserlaubnis umstritten. Nachdem das BAG meinte, die Vorratsüberlassungserlaubnis würde weiterhin das Zustandekommen von Arbeitsverhältnissen mit dem Stammbetrieb verhindern, erwies sich dieses Problem als gegenstandslos.

7. Wahlrecht ohne Bedeutung

Ein besonders schwerwiegendes Indiz – wenn nicht sogar ein Beleg – für eine Eingliederung der Betroffenen in den Betrieb war und ist die bewusste Schaffung eines aktiven und passiven Wahlrechts zum Betriebsrat des Stammbetriebes. Das Wahlrecht setzt nach dem BetrVG bekanntlich gerade die Eingliederung in den Betrieb voraus. Doch dieses durch Tarifvertrag geschaffene Wahlrecht hatte für die Gerichte ebenfalls keine Bedeutung. Sie folgten der Argumentation der Firma VW, dass dieser Tarifvertrag „nur eine vom Gesetz abweichende Zuständigkeitsregelung nach § 3 BetrVG“ enthalte. Nichts weiter. Nichts weiter?

Halten wir fest: Gäbe es diesen Tarifvertrag nicht, dann hätten die ganz normalen Leiharbeitnehmer nach 3 Monaten wenigstens ein aktives Wahlrecht aufgrund ihrer Eingliederung, während die Beschäftigten des konzerneigenen (!) Tochterunternehmens AutoVision gar kein Wahlrecht hätten. Die Beschäftigten der Zeitarbeitsfirma Y durften wegen „Eingliederung“ wählen, die Beschäftigten der AutoVision mit VW-Dienstkleidung, Gehaltsüberweisung von VW und einem Arbeitgeber, in dessen Aufsichtsgremien leitende Angestellte des Konzerns sitzen, gingen leer aus. Das verstehe wer will. Aber natürlich: Es musste sein, sofern man an dem gewünschten Ergebnis festhielt.

Völlig absurd war in diesem Zusammenhang ein Urteil der Kammer 4 des ArbG Hannover, das entschied, der Auflistung einer Klägerin auf der Wählerliste des Wahlvorstandes käme gar keine Bedeutung zu, weil „diese Wählerliste auch falsch sein“ (könnte). Natürlich „könnte“ es sein, dass die Wählerliste „falsch“ war. Es hätte aber auch nicht sein können. Welche Argumentation!

Auf diesem Niveau bewegen sich einige Urteile in Sachen Scheinwerkverträge. So lehnte z. B. das LAG Bremen in der zweiten Instanz die Gewährung von PKH für die Klage auf Festanstellung mit der „Begründung“ ab, die Klägerin habe keinen Auskunftsanspruch in Bezug auf zwischen der Daimler AG und dem Dienstleister geschlossene Verträge und auch keinen Auskunftsanspruch über die wesentlichen Arbeitsbedingungen einer in derselben Position wie die Klägerin beschäftigten Stammkraft , obwohl sich das Gericht mit der Frage der Erfolgsaussicht der auf eine Festanstellung gerichteten Klage einer Betroffenen gar nicht befasst hatte!! Wie schön, dass Betroffene gegen solche Beschwerden kein Rechtsmittel mehr einlegen können. Der Prozess wurde deshalb auch nicht weitergeführt und der Verfasser durfte als dortiger Prozessvertreter auf seinen Gebühren sitzen bleiben. Das geschah im offenbar „Recht“. Nochmals: Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Festanstellung (die die I. Instanz gewährt hatte!) wurde unter Hinweis auf a n d e r e Anträge (n i c h t auf den Feststellungsantrag!) abgelehnt.

IX. Verhandlung in der Anstalt?

Was immer die getroffenen Arbeitnehmer vortrugen in ihren Verfahren auf Festanstellung: Kein einziges ihrer Argumente drang durch. Oder aber: Drang durch, wurde aber wieder gegenstandslos durch eine andere Argumentation, die dem Automobilunternehmen dennoch zum Erfolg verhalf. Das Absurde: Eine Reihe von Verfahren noch v o r der Novellierung des Gesetzes (z. B. gegen AUDI) waren im Vergleichswege erfolgreich. Nur wenige (z.B. Verfahren von IT-Technikern) waren nach dem 01.04.2017 erfolgreich. Und d a s, obwohl seit diesem Zeitpunkt das Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen in Kraft getreten war.

Zwar reichte nun nicht mehr der Hinweis des Unternehmens auf das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis, aber die Rechtsprechung folgte der Argumentation der Unternehmer, es läge gar keine Eingliederung der Arbeitnehmer in die Arbeitsorganisation des Stammbetriebs vor und damit auch keine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung. Alles und jedes innerhalb des Unternehmens könne fremden Dienstleistungsunternehmen übertragen werden. Als solche galten dann auch dem Konzern selbst gehörende Unternehmen.

Die Weisungen von Stammbeschäftigten wurden unter Hinweis auf die „Ausleihe“ dieser Beschäftigten an die Fremdfirma für bedeutungslos erklärt. Für die Weisungen selbst wurde den Beschäftigten eine Darlegungslast aufgebürdet, die diese nicht erfüllen konnten. Der Hinweis auf die Einsatzsteuerung durch Einsatzpläne und digitale Weisungen wurde wieder mit dem Hinweis auf die angebliche Zuständigkeit der Fremdfirma beantwortet. Jede Gesamtbetrachtung einer Vielzahl von Indizien für die Eingliederung wurde vermieden, egal ob es das Tragen der Dienstkleidung, die gemeinsame Nutzung von Werkseinrichtungen, die Überweisung der Gehälter durch den Stammbetrieb, das Wahlrecht zum Betriebsrat des Stammbetriebes usw. betraf. Alles und jedes wurde für irrrelevant erklärt.

Dabei fand eine Auseinandersetzung mit dem erklärten Ziel des Gesetzgebers, dem Unwesen der verdeckten Leiharbeit ein Ende zu bereiten, nicht statt. Schon vor diesem Hintergrund ist unklar, welche Forderung denn j e t z t noch an den Gesetzgeber gestellt werden könnte. Wenn die Justiz vom Gesetzgeber – hier sogar entgegen dem neoliberalen Trend der letzten Jahrzehnte – geschaffene Gesetze konsequent unbeachtet lässt und weitere und andere und neue Arten von Rechtsmissbrauch (wie bei der angeblichen Konzernleihe) zulässt, dann hilft auch nicht mehr der Appell an den Gesetzgeber. Der Gesetzgeber kann nicht jedes Mal auf eine selbst gegen das Gesetz judizierende Rechtsprechung dadurch reagieren, dass er „klarstellende“ Gesetze schreibt.

Es soll nicht bestritten werden, dass zahlreiche Gesetze handwerklich schlecht gemacht sind. Aber man darf in diesem Fall nicht unberücksichtigt lassen, dass bereits die jetzige Gesetzesnovelle eine Klarstellung gegenüber der falschen Rechtsprechung, die sich von den Vorratsüberlassungserlaubnissen beeindrucken ließ, war.

Es genügt schon, dass die Betroffenen selbst bei immer wieder neuen Anläufen zur Durchsetzung ihrer Rechte immer neuen Argumenten von Seiten der Rechtsprechung begegnen, mit denen ihr Anliegen zurückgewiesen wird. Es kann aber nicht angehen, dass nunmehr der Gesetzgeber a u c h noch auf jede absurde Rechtsprechung in der Weise reagiert, dass er das, was eigentlich ohnehin schon klar war, noch einmal zusätzlich „klarstellt“. Es ist wie mit dem Wettlauf von Hase und Igel (den ja im Übrigen auch die Präsidenten des BAG seinerzeit ins Gespräch gebracht hatte!). Der Hase kann machen, was er will und rennen wie er will: Der Igel in Gestalt einer verständnisvollen Rechtsprechung deutscher Arbeitsgericht ist bereits da. Deshalb helfen auch juristische Argumente wenig. Jedem neuen und bislang nicht bekannten Argument wurde bisher mit neuen Argumenten begegnet, die alle nur ein Ziel und ein Ergebnis hatten: Die Ablehnung einer vom Gesetzgeber bei verdeckter Leiharbeit an sich vorgesehene Festanstellung im Stammbetrieb.

Die einseitige an den Interessen der Großunternehmen ausgerichtete Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ist mit dem Begriff Klassenjustiz treffend gekennzeichnet. Und doch reicht dieses nicht, denn die Kennzeichnung wird keine Folgen haben. Deshalb kommt es darauf an, die ganze Absurdität und Durchsichtigkeit dieser Rechtsprechung aufzuzeigen und anzuprangern und das geht nur auf der Bühne. In der Anstalt. Nicht mehr im Gerichtssaal.

X. Ausblick

Gleichwohl ist die Frage nach einem politischen und rechtlichen Ausblick berechtigt. Angesichts der jahrelangen Untätigkeit oder sogar Mitwirkung der Gewerkschaften und auch der Betriebsräte an dem Prozess der Spaltung der Belegschaften durch Leiharbeit und Werkverträge kann es nur eine Antwort geben: Die Gewerkschaften müssen den Einsatz „scheinfremder“ oder auch „fremder“ Dienstleistungsunternehmen i n den Betrieben ablehnen und den Einsatz von Beschäftigten gleich welcher Art in Tarifverträgen regeln, um die im AÜG festgelegten Rechtsfolgen zu sichern. Die Betriebsräte ihrerseits müssen jedem Fremdeinsatz widersprechen und zwar a u c h unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung, die dem weiteren Rechtsmissbrauch keinen Widerstand entgegengesetzt hat, sondern ihn duldete oder sogar ermöglichte. Es geht hier nicht um bloße Kritik.

Es geht um die Glaubwürdigkeit des Sozialstaates. Um die Abwehr einer an den Interessen von Großkonzernen ausgerichteten Klassenjustiz im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung.

 

 

 

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