Die SPD – Partei der Arbeit?

Von Rainer Perschewski

„Wir wollen zeigen: Die SPD ist und bleibt die Partei der Arbeit“[1] Mit diesen Worten stimmte 2009 der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Frank-Walter Steinmeier, die SPD auf die Oppositionspolitik gegen die CDU/CSU/FDP Regierung, das zweite Kabinett der Bundeskanzlerin Angela Merkel ein. Mit dem bis dahin für die SPD schlechtesten Bundestagswahlergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg in Höhe von 22,7 Prozent, suchte die SPD ihren neuen Kurs mit einer stärkeren Fokussierung auf die „Arbeit der Zukunft“[2]. Die Wortwahl kam nicht von ungefähr, denn das Stammpotential der klassischen SPD-Wähler aus der Arbeiterschicht war ihr abhandengekommen. „Die Zukunft der SPD liegt in der Rückbesinnung auf ihre Wurzeln als Arbeiterpartei“[3], schrieb 2018 selbst das Handelsblatt. Die Orientierungsänderung der SPD konnte bis heute nicht erreicht werden. Wo steht die SPD heute im Parteiengefüge Deutschlands?

Von wegen Arbeiterpartei – die Mitgliederstruktur

Mit nun fast 160 Jahren ist die SPD die älteste Partei in Deutschland und blickt zurück auf eine wechselvolle Geschichte. Eine Geschichte, die mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung eng verbunden ist. Immer noch prägen die Verbindungen zu den Gewerkschaften einen Teil ihrer Politik. Ein Blick in die Mitgliederstruktur der SPD ist da ernüchternder. „Von wegen Arbeiterpartei,“ titelte die Tagesschau 2013[4] und beschrieb unter dieser Schlagzeile das typische SPD-Mitglied als einen Mann um die 60, Beamter, mit einem Hochschulabschluss. Untersuchungen zur Sozialstruktur der im Bundestag vertretenden Parteien in Deutschland[5] zeigen in der SPD einen Anteil der über 65jährigen, der fast die Hälfte der Mitglieder ausmacht. Gerechterweise muss allerdings hinzugefügt werden, dass der Anteil der SPD in dieser Altersgruppe zwar am höchsten ist, jedoch alle anderen Parteien – mit Ausnahme von Bündnis90 / Die Grünen – ihr dicht dahinter folgen. Die erwerbstätigen Mitglieder sind in der SPD mit etwa 40 Prozent in der Minderheit (Gesamtbevölkerung: 54 Prozent). Der Anteil der Arbeiter beträgt nur 16 Prozent mit sinkender Tendenz. Die dominierende Gruppe in der SPD sind Beamte und Angestellte aus dem öffentlichen Dienst (44 Prozent). 54 Prozent der Mitglieder verfügen dazu über Abitur und Hochschulabschluss, womit die SPD unter den Parteien allerdings keinen Sonderstatus einnimmt. Den halten die Grünen: 87 Prozent ihrer Mitglieder haben Abitur bzw. Hochschulabschluss. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung (33 Prozent) liegt er bei allen Parteien des Bundestages deutlich darüber. Der signifikanteste Unterschied, über den die SPD im Vergleich zu den anderen Parteien verfügt, ist ihr Anteil gewerkschaftlich organisierter Mitglieder. 35 Prozent der SPD-Mitglieder sind auch Mitglied einer Gewerkschaft, das ist der höchste Anteil unter den Parteien. Die Tendenz ist aber sinkend, denn 1998 waren es noch 45 Prozent. Nur die Linken, die mit steigender Tendenz 33 Prozent ihrer Mitglieder auch als Gewerkschaftsmitglieder führen, reichen in dieser Frage nahezu an die SPD heran. Aus den Erhebungen festzuhalten ist, dass sich in den Parteien doch noch die historischen Traditionen widerspiegeln. So spielt in den Unionsparteien die Konfessionszugehörigkeit eine große Rolle (mehr als 50 Prozent sind Mitglied in der katholischen Kirche). Dagegen ist in der SPD die evangelische Kirche (47 Prozent der Mitglieder) stärker vertreten und sind die Mitglieder der Linken zu fast 80 Prozent konfessionslos. Unter diesem Blickwinkel des historischen Hintergrunds ist auch die Verbindung der SPD zu den Gewerkschaften zu betrachten.

Schwarze Flecken der SPD

Würde man auf der Straße Menschen nach den Unterschieden zwischen der SPD und der CDU fragen, würde die Antwort vielen schwerfallen. In der linken Szene überwiegt eine sehr kritische Sicht auf die SPD. Danach steht die SPD für das Beispiel eines endlosen Versagens der ehemals revolutionären Partei und deren Verrat an der (internationalen) Arbeiterklasse.[6] Die Liste ist lang. Wichtige Phasen in der Geschichte Deutschlands sind von Fehlern der SPD-Führungen begleitet. Das beginnt im Juni 1913 mit der Zustimmung der Reichstagsfraktion zur Besitzsteuervorlage zur Deckung der Rüstungskosten bzw. im August 1914 mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten, die letztlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung führte, zunächst zur Abspaltung der USPD und später zur Gründung der KPD. Die Weimarer Republik begann mit der SPD-Beteiligung an der Niederschlagung der Novemberrevolution und der zumindest geduldeten Verfolgung und Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im Weiteren steht die SPD für eine Reformpolitik in der Weimarer Republik ohne wirkliche Reformen, für die Unterstützung der Kandidatur Hindenburgs zum Reichspräsidenten und schließlich für die völlige Unterschätzung der Nazi-Partei und den fehlenden Widerstand gegen die Machtergreifung der Nazis im Januar 1933. Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 stellte sich die Partei unter der Führung von Kurt Schuhmacher mit Unterstützung der Alliierten in den Westzonen gegen die Einheitsbestrebungen in der Arbeiterbewegung und für die Separierung Westdeutschlands zur Bundesrepublik. Die nächsten Stationen waren die Zustimmung zur Wiederbewaffnung und zum NATO-Betritt Deutschlands. Mit dem Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 beseitigte die SPD schließlich auch ideologisch die Reste marxistischen Gedankenguts aus ihren Dokumenten und bekannte sich zur sozialen Marktwirtschaft mit der Perspektive eines „demokratischen Sozialismus“.

Die Entwicklung der SPD als Regierungspartei zwischen 1945 und 1990 in Westdeutschland und seit 1990 ist ebenso von „historischen“ Entscheidungen der SPD-Führungen geprägt. In der ersten Regierungsbeteiligung nach 1945, in der „großen Koalition“ unter Bundeskanzler Kiesinger (1966 – 1969) stimmte die SPD trotz einer großen Oppositionsbewegung für die Notstandsgesetzgebung. Die Regierung Brandt (1969 – 1974) steht für die einzige Regierungszeit der SPD, in der fortschrittliche Reformen im Bildungsbereich und im Arbeitsrecht durchgesetzt wurden und eine Entspannungspolitik im Ost-Westkonflikt eingeleitet wurde. Aber die Politik Brandts steht auch für den „Radikalenerlass“, mit dem Kommunistinnen und Kommunisten aus dem öffentlichen Dienst entfernt und mit Berufsverboten belegt wurden. In der Regierung Schmidt (1974 – 1982) wurden bereits wieder die ersten Sozialabbaumaßnahmen beschlossen und es kam zum „Nato-Doppelbeschluss“, mit dem eine neue Stufe der Hochrüstung eingeleitet wurde. Das löste die größten Friedensdemonstrationen seit dem Kampf gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr in den 1950er Jahren aus. Die SPD/Grüne Regierung mit dem Kanzler Gerhard Schröder (1998 – 2005) schließlich steht für den ersten (völkerrechtswidrigen) Krieg in Europa mit der Kriegsbeteiligung Deutschlands am NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Dazu kam mit den sogenannten „Hartz-Reformen“ der größte Sozialraub seit dem zweiten Weltkrieg. Keine Regierung vorher hat soziale Leistungen (Rente, Arbeitsloseunterstützungen etc.) in einem derartigen Umfang gestrichen und die Grundlage für Massenarmut gelegt. Die neue SPD-geführte Regierung Scholz dürfte als die Regierung in die Geschichte eingehen, die eines der größten Rüstungsprogramme in der Geschichte dieses Landes eingeleitet hat. Die ökonomischen und sozialen Folgewirkungen ihrer Beteiligung an der westlichen Sanktionspolitik und die Folgen der angekündigten ‚großen Transformationen‘ Digitalisierung und ökologischer Umbau sind noch nicht absehbar.

Diese kurzgefasste Auflistung nur einiger grundlegender Entscheidungen der SPD-Führungen zeigt ihre Rolle als fester Bestandteil des bürgerlichen Herrschaftssystems, in dem sie die Interessen der Arbeiterklasse denen des Monopolkapitals immer wieder unterordnen. Wollte die SPD ursprünglich einmal die Klassengesellschaft überwinden, so wirkt sie heute für die Einbindung der Arbeiterklasse in den Kapitalismus, der als ‚soziale Marktwirtschaft‘ verklärt wird.

Die soziale, politische und ideologische Entwicklung der SPD reflektiert auch den Strukturwandel, dem die Arbeiterklasse seit den Zeiten der Gründung der SPD unterlag. Ebenso schlagen sich in ihr Niederlagen wie auch Erfolge und Errungenschaften der Arbeiterbewegung nieder. Nach 1945 wurden vor allem die „30 goldenen Jahre“ bis zur Krise 1974/75 bewusstseinsprägend. In dieser Zeit der Systemkonkurrenz und des Klassenkompromisses nach dem Sieg über den Faschismus, in einem für die Arbeiterbewegung günstigen internationalen Kräfteverhältnis, gab es einen Boden für die Ausbreitung der sozialdemokratischen Ideologie der „Sozialpartnerschaft“. Sie konnte in großen Teilen der Arbeiterklasse Fuß fassen und wirkt bis zum heutigen Tag. Nach dem Übergang zum Neoliberalismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nahmen Unsicherheit, Prekarisierung, Spaltungen und die Verarmung von Teilen der Arbeiterklasse wieder zu, doch zugleich verloren angesichts der Niederlage des Sozialismus und der Abwicklung der DDR systemkritische Positionen weiter an Einfluss. Letzteres zeigt auch das Verharren der DKP im Status einer ‚Kleinstpartei‘.

SPD und Gewerkschaften

Der Blick auf die Mitgliederstruktur zeigte im Verhältnis zu anderen Parteien die größere Verbindung der SPD zu den Gewerkschaften.[7] In der Entwicklung der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in Deutschland spielte die SPD als politische Bewegung zunächst die übergeordnete Rolle. Gewerkschaften und Arbeitskämpfe wurden als Teil des Kampfes der Sozialdemokratie um eine andere Gesellschaft betrachtet. Der Weg zur Eigenständigkeit der Gewerkschaften begann in Deutschland nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes im wilhelminischen Kaiserreich ab 1890. In den Arbeitskämpfen dieser Jahre wuchs die Erkenntnis, dass es einer übergreifenden Organisationsstruktur bedurfte, um den Unternehmen etwas koordiniert entgegenzusetzen. Auf der Vorständekonferenz der Gewerkschaften am 16. und 17. November 1890 wurde die „Generalkommission der Gewerkschaften“ unter dem Vorsitz von Carl Legien gebildet und von den Gewerkschaften als Dachorganisation akzeptiert. 1892 fasste die Delegiertenkonferenz der Gewerkschaften den Beschluss zur Bildung von Zentralorganisationen. Dieses Vorgehen war in verschiedener Hinsicht nicht unumstritten. Es gab Verbände, die sich strikt gegen eine Zentralisierung stellten und die sich dann aus der Generalkommission verabschiedeten. Stärker war der Konflikt, ob man sich in Berufsverbände oder Industriegewerkschaften organisieren solle. Auch dies führte zu einer Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Am stärksten aber war der Konflikt, der sich aus dem Verständnis der sozialdemokratischen Partei und ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften ergab. Die SPD sah die Gewerkschaften eher als ihre untergeordneten Anhängsel, da die Partei für die politische Führung zuständig war. Carl Legien, der erste Vorsitzende der Generalkommission, sprach 1890 von den Gewerkschaften als Rekrutenschule der Partei und brachte das Verhältnis damit sinnbildlich zum Ausdruck. Mit den Erfolgen der Gewerkschaften im Lohnkampf und mit sozialen Errungenschaften wuchs die Machtstellung der Gewerkschaften nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch gegenüber der SPD. Als angesichts der Russischen Revolution 1905 in der SPD eine Debatte über den politischen Massenstreik als Kampfform ausbrach, wirkten die Gewerkschaftsführungen als Bremser, standen dem politischen Streik (etwa für das allgemeine Wahlrecht) negativ gegenüber und pochten auf ihre Unabhängigkeit von der SPD.

Die Debatte währte bis zum Mannheimer Parteitag der SPD 1906, auf dem August Bebel einen Kompromiss formulierte, der die Gleichberechtigung der Gewerkschaften akzeptierte. Der Verbindung der SPD zu den Gewerkschaften und ihrem Einfluss in ihnen tat das keinen Abbruch. Ob in der Generalkommission, im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund der Weimarer Zeit oder im Deutschen Gewerkschaftsbund seit 1945 – zu allen Zeiten war ein nicht unerheblicher Teil der Gewerkschaftsführungen mit der SPD und ihren Fraktionen in den Parlamenten personell eng verknüpft. Diese besondere Verbundenheit wird bis heute in den Grundsatzprogrammen der SPD nicht nur herausgehoben dargestellt[8], ergänzend besteht der 1968 von Willi Brandt gegründete Gewerkschaftsrat. In diesem wird der Austausch zwischen der SPD und den Gewerkschaftsspitzen mit sozialdemokratischem Parteibuch – also mit fast allen Vorsitzenden der Mitgliedsgewerkschaften des DGB – gepflegt. Bis zum Jahr 2002 war es auch üblich, führende Gewerkschafter als Arbeitsminister in SPD geführten Regierungen einzubinden.

Dieser Austausch ermöglicht, dass wichtige Forderungen der Gewerkschaften von der SPD aufgegriffen werden. Damit ist in der Vergangenheit aber auch immer eine Einbindung der Gewerkschaften gelungen. Inhaltlich besteht ohnehin weitgehende Einigkeit über die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells von sozialen Sicherheitssystemen und industriellen Beziehungen, über die Anerkennung der Tarifautonomie und der Mitbestimmung. Allerdings führt diese Verbindung insbesondere in Regierungszeiten der SPD zu einem mäßig kritischen Umgang mit der SPD-Politik. Einen Riss bekam dieses Bündnis unter Bundeskanzler Gerhard Schröder mit seiner Politik der Agenda 2010 und der Hartz-Reformen. Eine größere Mobilisierung setzten die Gewerkschaften dem nicht entgegen. Nachträglich wurde Schröders Politik in den Gewerkschaften als ideologische Entkoppelung von den gemeinsamen Wurzeln interpretiert. Für die SPD hatte Schröders Agenda gravierende Folgen. Sie verlor in den Jahren danach etwa die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler und ihren Status als eine der beiden großen ‚Volksparteien‘. Für die sozialen Folgen der Agenda (Altersarmut, größere Kluft zwischen Arm und Reich, Prekarisierung, etc.) wird inzwischen allein die Regierung Schröder verantwortlich gemacht.

Auch Veränderungen im Wahlverhalten führten zu einer gewissen Entkoppelung von SPD und Gewerkschaften. Wählten beispielsweise 2005 noch 47 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die SPD, waren es 2021 nur noch 32 Prozent. Das ist immer noch deutlich mehr als in der Gesamtbevölkerung, aber der Ausgangspunkt waren einmal um die 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in den 1970er und 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dies interpretiert ein Teil der SPD-Politiker auch als sinkende Bedeutung der Gewerkschaften für die SPD bei Wahlen. Entgegen dieser sinkenden Tendenz konnte die SPD jedoch im Bundestagswahlkampf 2021 – trotz gegenteiliger Umfragewerte – mit ihren sozialen Themen wie Mindestlohn und Rente in ihrem klassischen Wählerpotential punkten. Mit großem Abstand zu den anderen Parteien trauten 42 Prozent der Wählenden der SPD die größte Kompetenz beim Thema „soziale Gerechtigkeit“ zu. Ähnlich sah es bei den Themen „Alterssicherung“ und „Arbeitsplätze“ aus. Die größte Zustimmung lag bei den Arbeitern und Angestellten.[9] Dass die DGB Gewerkschaften im Wahljahr gleiche Schwerpunkte wie die SPD wählten, darf man sicherlich nicht als Zufall betrachten.

Widersprüchlicher Charakter – aber eben doch Arbeiterpartei?

Betrachtet man die SPD in der historischen Gesamttendenz könnte eine Schlussfolgerung sein, dass sie durch ihre enge Verbindung mit dem Staatsapparat und aufgrund des Fehlens einer antikapitalistischen Stoßrichtung nichts anderes ist als eine unter mehreren bürgerlichen Parteien, die sich nur in Nuancen in ihrer Ausrichtung unterscheiden. Gestützt wird diese Einschätzung dadurch, dass das Agieren der SPD weitgehend auf Wahlen, Parlaments- und Regierungsebenen beschränkt ist. Dennoch greift eine solche Bewertung zu kurz. Die SPD unterscheidet sich von den anderen bürgerlichen Parteien durch ihre enge (auch personelle) Verbindung zu den größten Klassenorganisationen der Lohnabhängigen in Deutschland, den Gewerkschaften. Sie verfügt damit über Einfluss auf Betriebsräte. Sie greift auch Einzelziele der Gewerkschaftsbewegung auf, die im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft realisiert werden können und kann so durchaus unterstützend im Kampf um Tagesforderungen wirken, sofern dies mit ihrer kapitalkonformen Politik kompatibel bleibt. Diese begrenzten Zugeständnisse fördern ihre Verankerung in der Arbeiterbewegung und sichern via Gewerkschaften eine Basis für den eigenen Einfluss. Untermauert wird dieser Einfluss durch die auf vielen sozialen Gebieten recht wirksame Politik in den Städten und Bundesländern, in die die Gewerkschaften oft auch einbezogen werden. Dies reicht, um quasi immer wieder einen politischen Kredit zu erhalten, der den Mythos des über Generationen gewachsenen Bildes der Arbeiterpartei oder zumindest den Eindruck der „sozialen Kompetenz“ erhält.

Die SPD – eine bürgerliche Arbeiterpartei? Solange die SPD Mitglieder und Wähler aus der Arbeiterklasse an sich bindet, zumal mit dem Anspruch, ‚Partei der Arbeit‘ zu sein, werden sich auch die in der kapitalistischen Gesellschaft objektiv vorhandenen Widersprüche bis in die Reihen der SPD fortpflanzen und widerspiegeln. Auch wenn das Parteiestablishment seine Aufgabe darin sieht, die Klassenwidersprüche in der Gesellschaft zu dämpfen und die Arbeiterklasse in das System zu integrieren, wird es doch immer wieder Situationen geben, in denen diese Integrationsfunktion den Interessen und Bedürfnissen der eigenen lohnabhängigen Mitglieder und Wähler so sehr zuwiderläuft, dass sie widerstehen. Seit Schröder haben Mitglieder massenhaft der SPD den Rücken gekehrt. Ein kleinerer Teil der Kritiker blieb in der SPD und brachte seinen Unmut in Kampagnen gegen die GroKo und im Drängen nach einer neuen, linkeren Führung zum Ausdruck. Als auch die neue Führung in der GroKo blieb, setzte der Exodus wieder ein. Ende 2021 hatte die SPD 394000 Mitglieder. Die überraschende Wahl von Scholz hatte bis dahin nicht viel Zuwachs gebracht.[10]

Für die marginalisierten revolutionären Kräfte der Arbeiterbewegung ist das Wirken in Betrieben, in Gewerkschaften und in Wohngebieten und Kommunen eine Voraussetzung, um überhaupt eine Verankerung in der Arbeiterklasse wieder aufzubauen und Möglichkeiten alternativer Gesellschaftsvorstellungen ins Gespräch zu bringen. Hierbei sind sozialdemokratische Kolleginnen und Kollegen trotz Meinungsunterschieden und Diskussionsbedarf nicht als Gegner zu betrachten, sondern als Partner zu gewinnen, mit denen der Kampf um Reformen im Sinne der Werktätigen geführt und das Bewusstsein, eine verändernde Kraft zu sein oder werden zu müssen, entwickelt werden kann.

 Anmerkungen:

[1] Rede Frank Walter Steinmeier, Protokoll des ordentlichen SPD-Parteitages Dresden, November 2009, S. 243

[2] Vgl. Debatte SPD-Parteitag, Protokoll des SPD-Parteitages Dresden, November 2009

[3] Christian Rickers, Kommentar im Handelsblatt, 12.11.2018

[4] Sabine Müller, ARD Hauptstadtstudio, www.tagesschau.de, 29.11.2013

[5] Klein, Becker, Czeczinki, u.a., Die Sozialstruktur der deutschen Parteimitgliedschaften. Empirische Befunde 1998, 2009, 2017, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 1/2019, S.81 ff, Alle Zahlenangaben beziehen sich auf die diese Veröffentlichungen, also auf das Jahr 2017. Neuere empirische Studien zur Sozialstruktur lagen nicht vor. Zur Alterststruktur kann noch herangezogen werden: Oskar Niedermeyer, Parteimitglieder im Jahre 2020, in: ZParl, Heft 2/2020 S.419 ff.; diese Studie bestätigt den Trend.

[6] Eine komprimierte Darstellung der Entwicklung findet sich in: Konstantin Brand, „Das kleine Schwarzbuch der deutschen Sozialdemokratie“, Berlin 2014

[7] Die hier vorgenommene Darstellung hat folgende Literatur als Grundlage: Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften – Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989; Füllbert/Harrer, Arbeiterbewegung und SPD – Die deutsche Sozialdemokratie 1890 -1933, Darmstadt 1974; Wolfgang Schröder, SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft, in: WSI Mitteilungen Nr. 5/2008, Düsseldorf; sowie die umfangreichen Darstellungen mit Dokumenten zur Gewerkschaftsgeschichte der Hans-Böckler-Stiftung unter www.gewerkschaftsgeschichte.de , Stand: März 2022

[8] Das derzeit letzte beschlossene Grundsatzprogramm ist das Hamburger Programm aus dem Jahr 2007.

[9] Forschungsgruppe Wahlen, Kurzanalyse Bundestagswahl 2021 – SPD-Wahlsieg und CDU/CSU Debakel, 26.09.2021

[10] FAZ vom 17.1.2022

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien in http://www.marxistische-blaetter.de/ 
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