Konflikte, die bleiben: Trend zu fragmentierten Arbeitskämpfen setzt sich fort – große Unterschiede zwischen Industrie- und Dienstleistungsbranchen

von Daniel Behruzi

Im ersten Halbjahr 2015 war von einer »Rückkehr der Streiks« die Rede. Im Sozial- und Erziehungsdienst und bei der Post legten Zehntausende wochenlang die Arbeit nieder.

Und 2016? Rückkehr zur bundesdeutschen Normalität scheinbar friedlicher Arbeitsbeziehungen?

Eher nicht. Zwar ist die Zahl der Streiktage im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Die vielen kleineren und etwas größeren Arbeitskämpfe 2016 zeigen aber: Die Klassenkonflikte sind da, um zu bleiben.

2015 fielen mehr als zwei Millionen Arbeitstage wegen Streiks aus – so viele wie seit etlichen Jahren nicht mehr. Verglichen damit ist das diesjährige Niveau gering. In den ersten sechs Monaten 2016 fanden nach Zählung des Wirtschafts-Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung 405.000 Arbeitstage wegen Streiks nicht statt. Das sind allerdings immer noch mehr als im gesamten Jahr 2014.

Es waren nicht die großen Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge, die das Bild 2015 prägten. Vielmehr zeigen die vielen Arbeitskämpfe auf Unternehmens- und Betriebsebene eine Tendenz zur Fragmentierung. Das liegt zum einen daran, dass die Branchentarifverträge an Reichweite und Prägekraft verloren haben. Unternehmen entziehen sich der Tarifbindung oder gehen diese gar nicht erst ein. Zum anderen hat sich insbesondere in ehemals staatlich gelenkten Bereichen ein Wettbewerb der Gewerkschaften entwickelt: Bei Bahn und Lufthansa konkurrieren die DGB-Gewerkschaften mit Spartenorganisationen, was auf allen Seiten die Konfliktbereitschaft schürt.

Rein quantitativ sind die Tarifkonflikte in der Fläche freilich weiterhin entscheidend. Allein die IG Metall zählte bei ihren Warnstreiks im Frühjahr 2016 rund 800.000 Beteiligte in mehreren tausend Betrieben. Damit hat Europas größte Industriegewerkschaft zwar eine Tarifstrategie etabliert, in der flächendeckende Warnstreiks die Regel sind. Eine wirkliche Streikbewegung ist das allerdings nicht. Die Metaller gehen zu Tausenden diszipliniert einige Stunden vors Tor. Und dann ebenso diszipliniert wieder an die Arbeit. Das reicht, um die immer noch gut verdienenden Konzerne dazu zu bewegen, ein paar Zugeständnisse zu machen.

Anders als im Dienstleistungsbereich gelingt es in der Metallindustrie und in der Chemiebranche seit einiger Zeit, die realen Einkommen ohne größere Konflikte zu erhöhen. Zugleich verzichten die großen Industriegewerkschaften aber darauf, die gute konjunkturelle Lage zu nutzen, um qualitative Durchbrüche zu erzielen – beispielsweise bei der Eindämmung prekärer Beschäftigung oder der Verkürzung der Arbeitszeiten.

Die Metaller-Warnstreiks bleiben Teil eines Rituals, keines Machtkampfs. Sie zeigen den Unternehmern den Ausstand als »Schwert an der Wand«, das dort hängen bleiben soll. Zugleich bieten sie der Gewerkschaft Möglichkeiten zur Mitgliedergewinnung. Der Einbindung der IG Metall und ihrer Betriebsräte in korporatistische Strukturen tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit Politik und Kapital wurde unter anderem im »Bündnis Zukunft der Industrie« institutionalisiert. Auf betrieblicher Ebene sind Wettbewerbspakte – bei denen Belegschaftsvertreter und Manager gemeinsam versuchen, dem »eigenen« Unternehmen Konkurrenzvorteile zu verschaffen – schon seit Anfang der 1990er Jahre üblich. Beispiele hierfür waren 2016 der Autozulieferer Mahle und besonders der wegen Abgasbetrugs ins Straucheln geratene VW-Konzern.

Anders sind die Verhältnisse in den Dienstleistungsbranchen, wo von kooperativer Einbindung der Gewerkschaften zumeist keine Rede sein kann. Hier müssen die Beschäftigtenorganisationen zum Teil darum kämpfen, überhaupt als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. So zum Beispiel bei Amazon, wo Beschäftigte mit bewundernswerter Ausdauer seit über drei Jahren immer wieder die Arbeit niederlegen, um den Onlineversandhändler zum Abschluss eines Tarifvertrags zu bewegen. Dabei hat ver.di 2016 durchaus Fortschritte gemacht. Mit Rheinberg, Werne, Bad Hersfeld, Leipzig, Graben und Koblenz sind mittlerweile sechs Versandzentren regelmäßig in die Streiks einbezogen.

Die Beschäftigten agieren immer flexibler: Teilweise verlassen sie unangekündigt den laufenden Betrieb, was den Konzernchefs einige Probleme bereitet. Dennoch zeigt gerade der Konflikt bei Amazon, wie beharrlich sich manche Konzerne gegen den Abschluss von Tarifverträgen sperren.

Die Tendenz, dass Unternehmen eine härtere Gangart gegenüber den Gewerkschaften einschlagen, hat sich 2016 auch anderswo fortgesetzt. Ein krasses Beispiel dafür ist der Rehakonzern Median, der mit einem Federstrich sämtliche Tarifregelungen beseitigen will. Sollte er damit erfolgreich sein, könnte das auf den gesamten Bereich und darüber hinaus ausstrahlen. Hier wird deutlich, wie sich die Ökonomisierung vormals regulierter Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge — von dem Jenaer Soziologen Klaus Dörre als »innere Landnahme« bezeichnet – auf die Arbeitsbeziehungen auswirkt. Antreiber des Konflikts ist der niederländische Finanzinvestor Waterland, der Median Ende 2014 übernommen hat und das Unternehmen seither auf Profitmaximierung trimmt.

Auch in anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens wächst durch die Ökonomisierung das Konfliktpotential. So in den Krankenhäusern, wo die Rationalisierung in den vergangenen Jahren eine neue Qualität erreicht hat. Nach dem Erfolg am Berliner Uniklinikum Charité — wo im April 2016 erstmals personelle Mindestbesetzungen per Tarifvertrag festgeschrieben wurden – begeben sich auch andere Krankenhausbelegschaften auf diesen Weg. Im Saarland hat ver.di sämtliche 21 Krankenhausträger zu einem »Tarifvertrag Entlastung« aufgefordert. Andere Regionen sollen folgen. Diese Bewegung könnte eine der spannendsten des kommenden Jahres werden. Die Widerstände sind enorm. Doch auch auf seiten der Belegschaften ist das Potential groß, wirksam in Aktion zu treten.

Die Bewegung in den Krankenhäusern deutet einen weiteren Trend an: Neben der Lohnfrage wird die der Arbeitsbedingungen zu einem entscheidenden Konfliktfeld. Die Unternehmen haben die Rationalisierungsschraube in den vergangenen Jahren überdreht. Die Folgen für die Gesundheit der Beschäftigten sind beispielsweise an der Zunahme psychischer Erkrankungen deutlich abzulesen. Das provoziert Widerstand, auch auf tariflicher Ebene.

Ein Beispiel dafür ist die Deutsche Bahn, bei der die Gewerkschaften auf kürzere Arbeitszeiten und bessere Bedingungen drängen. Während die DGB-Gewerkschaft EVG kürzlich einen Abschluss erreichen konnte, dauern die Verhandlungen über ähnliche Forderungen mit der Lokführergewerkschaft GDL noch an.

Die Konkurrenz von Gewerkschaften untereinander spielt auch bei der Lufthansa und ihren Töchtern – wo Piloten und Flugbegleiter 2016 mehrfach sehr wirksame Ausstände auf die Beine stellten – eine wichtige Rolle. Verschärft wird diese durch das Gesetz zur »Tarifeinheit«, das die Gewerkschaften zwingt, alles daran zu setzen, die Mehrheit einer Belegschaft zu organisieren. Denn die Existenz sogenannter Minderheitsgewerkschaften wird durch die vorgeschriebene »Tarifeinheit« potentiell in Frage gestellt. Bislang bewirkt das Gesetz – über das das Bundesverfassungsgericht am 24. und 25. Januar verhandeln wird – also eine Zunahme von Konflikten. Dabei wollte die Regierung, die es im Auftrag der Wirtschaftsverbände erlassen hat, damit nach eigenen Angaben die »Friedensfunktion« von Tarifverträgen stärken.

 

 

Der Beitrag erschien in der Tageszeitung junge Welt. Wir spiegeln den Beitrag von Daniel Behruzi mit freundlicher Genehmigung und dem Copyright bei:Verlag 8. Mai GmbH/Tageszeitung junge Welt.
Bild: Wikimedia Commons