Planet der Bettler – Anmerkungen zur Kultur, Soziologie und Politik des Bettelns

Von Nikolaus Dimmel

In der Dynamik des Bettelns spiegelt sich die neoliberale Refeudalisierung des Sozialen. Christina von Braun hat gesagt, dass der Körper die letzte Deckung des Geldes ist. So lange man in der warenproduzierenden Gesellschaft der Eigentümer verkaufen kann, verkauft man: seine Vagina, seine Niere, seine Haare, seine Kinder in die Lohnsklaverei, seine Arbeitskraft, seine Zukunft oder seinen Körper post-mortem als Ersatzteillager. Wer nichts mehr zu verkaufen hat bettelt.

Wer indes keine Charaktermaske als Warenträger mehr aufsetzen kann, mithilfe derer er sich zu Markte trägt, scheidet aus. Daher muss der Bettelnde, um akzeptiert und entgolten zu werden, leisten. Er muss Geschichten erzählen, eine Pieta geben, einen Tag lang stillstehen. Wer bloß einen Stumpf statt einer Extremität zeigen kann zockt mit dem schwindenden symbolisch-kulturellen Kapital der Religiosität. Wer bloß einen leeren Starbucksbecher schüttelt und „biiete, biiete“ stammelt, geht leer aus. Auf ihn richtet sich die Aggressivität der Leistungswilligen. Hier ist einer, der verdienen will ohne zu leisten; der verdienen will ohne Steuern zu zahlen.

Kap 1. Politische Ökonomie auf dem Planet der Bettler

1.1. Ökonomie  

Der neoliberale Kapitalismus ist durch die Umschichtung der Profite aus der Realwirtschaft in die Finanzdienstleistungssphäre gekennzeichnet; Grund: tendenzieller Fall der Profitrate aufgrund fortlaufender Rationalisierung und Automation; daher flächige Desinvestition; Rückgang der Wachstumsraten wird durch finanzwirtschaftliche Innovationen und Praktiken einer neokolonialistischen kapitalistischen Landnahme kompensiert. Eine ganze Reihe von Ökonomen hat in den letzten Jahren argumentiert, dass der marktradikale Kapitalismus in einen manchesterkapitalistischen Modus, allerdings unter Bedingungen einer globalen kapitalistischen Landnahme, eines globalisierten Standortwettbewerbs und unter Bedingungen des 6. Kondratieff-Zyklus (Dominanz der IKT, Biologie und Genetik) zurückfällt. Triebfeder der neoliberalen Deregulierung ist die Kombination  aus (a) finanzkapitalistischen Investmentstrategien (Rolle der Ratingagenturen; Spekulieren gegen Währungen; Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank) und (b) einem „race to the bottom“, in dem die Nationalstaaten in einen wechselseitigen Unterbietungswettbewerb ihrer Sozialstandards einsteigen.  Nach dem Ende des Fordismus kehrt der Kapitalismus in seine Normalverfassung zurück. Und die läuft darauf hinaus, Strategien der extensiven Ausbeutung im Standortwettbewerb zu intensivieren. Die Strategien der Rationalisierung, Automation, Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeit assistieren dieser Strategie, die Arbeit im globalisierten Standortwettbewerb substantiell zu verbilligen.

Der Arbeitslohn wird je nach Qualifikation der Arbeit und Arbeitsstundenproduktivität graduell differenziert gesenkt. Bei der unqualifizierten, ungelernten Arbeit unterschreitet der Lohn das zum Lebensunterhalt erforderliche Niveau, weil im globalen Maßstab eine industrielle Reservearmee das Lohnniveau senkt. Deshalb nimmt in den OECD-Ländern die Zahl der Working Poor zu; deshalb steigt in Industriestaaten der Anteil der ErgänzungsleistungsbezieherInnen in den bedarfsgeprüften Systemen wie Hartz IV oder Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Nicht nur in AfrikaSubsahara oder Indien, sondern auch in den Schwellenländern der EU (Rumänien, Bulgarien) kann der Großteil der Workforce nur mehr im Billiglohnmodus oder gar nicht arbeiten. EU-weit nimmt der Stellenwert der Informellen Ökonomie für die Subsistenz zu und erreicht Volumina bis zu 23% des BSP.

1.2. Politik

Objektive Funktion der politischen Dienstklasse im Auftrag der herrschenden Plutokratie ist die Aussonderung der Überflüssigen und Unverwertbaren durch die anti-etatistische Vermarktlichung der Daseinsvorsorge im „nationalen Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch). Modus der Politik: Privatisierung und Aushöhlung wohlfahrtsstaatlicher Funktionen; Ersetzung von Rechtsanprüchen durch Charity, also milde Gaben; Ersetzung der Professionellen durch Freiwilligenarbeit und Ehrenamt; Ersetzung öffentlicher Gewährleistungsverantwortung durch Eigenvorsorge. Darüber hinaus ist markant: Arbeitsmarktpolitik ist von Workfare-Strategien, unbedingter Orientierung auf den ersten Arbeitsmarkt und Leistungskürzungen geprägt; Ideologien des Wettbewerbs und  der Vermarktlichung („Schwarze Hand“ als Verballhornung von Adam Smith; Trickle Down Theory; ethische Rechtfertigung privaten Reichtums als „verdient“) legitimieren kontrafaktisch (weil: empirisch unbewiesen) steuerliche Umverteilung von unten nach oben durch steuerliche Entlastungen der Reichen (Vermögenssteuer, Schenkungssteuer, Erbschaftssteuer).

1.3. Migration

Bei 1,15 Mrd MigrantInnen und 850 Mio BinnenmigrantInnen sind 250 Mio Klimaflüchtlinge, 50 Mio politische Flüchtlinge und der Rest Wirtschaftsflüchtlinge; Motto: immer der Arbeit nach (le Monde Diplomatique). 2010 lebten in der EU 49,2 Mio ImmigrantInnen. Bulgarien und Rumänien sind dabei „Humankapital-Exportländer“. Das Kapital erhöht seine Beweglichkeit (Aktienumschlagsgeschwindigkeit/Behaltefrist in Minuten gerechnet; High-Speed-Trading; pro Tag fließt so viel Geld um die Welt wie das Weltjahresbruttosozialprodukt). Die Handlungsspielräume der Arbeitsmarkt- und Verteilungspolitiken sämtlicher OECD-Staaten schrumpfen. Die Lohnarbeit muss daher immer dem Kapital und den Beschäftigungsmöglichkeiten hinterher. Dies speist zugleich auch Prozesse der illegalisierten Migration.

1.4. Soziales

Dynamische Zunahme des GINI-Koeffizienten bei gleichzeitiger Austeritätspolitik, Privatisierung und Vermarktlichung sozialer Sicherheit führt zur sozialstaatlichen Entbettung vulnerabler Gruppen. Diese Vulnerabilität, also soziale Verletzlichkeit, entsteht durch die gezielte Entsicherung sozialer Risiken (Leistungsrücknahme). Es geht um zugleich um die Erziehung und die Bestrafung der Armen (Loic Wacquant).  Das Ergebnis der globalisierten Lohndumpingstrategien im Standortwettbewerb ist augenfällig. In beinahe allen OECD-Ländern sinkt die Lohnquote seit 30 Jahren im Längsschnitt. Soziale Ungleichheit vertieft sich dramatisch. Es entstehen Billiglohnsegmente, Leichtlohngruppen und eine Sphäre der riskant flexibilisierten Arbeit. Die Zahl der Working Poor hat sich in den USA 2000-2010 beinahe verdreifacht (auf 11,5%), liegt in Canada bei 8%, in der EU bei 7%.  Jürgen Habermas hat diese Entwicklung als Re-Kommodifizierung, als Wiederkehr harter Marktzwänge beschrieben. Das wohlfahrtsstaatliche Versorgungsnetz wird insbesondere an seinen Rändern durchlässiger und brüchiger.  Sieghard Neckel sprach von einer Refeudalisierung der Ökonomie. Die Entwicklung in Großbritannien, einem der Labore neoliberal inspirierter Gesellschaftszerstörung, gibt ihm recht. 2014 hat Großbritannien die Sanktionsschraube für Arbeitslose angezogen. Bezieher von Arbeitslosengeld, die angebotene Nullstundenverträge verweigern, werden mit einer Sperre sämtlicher Sozialleistungen im Ausmaß von zumindest drei Monaten sanktioniert. In diesen Nullstundenverträgen legt der

Arbeitgeber einseitig und außerhalb jedes Kollektivvertrags den Stundenlohn für den Arbeitnehmer fest, aber nicht wann und wie lange dessen Arbeitskraft gebraucht wird. Der Arbeitnehmer verpflichtet sich darin, auf Abruf bereitzustehen, bekommt aber keine Garantie, dass er überhaupt arbeiten kann. Mehr als 10% der Unternehmen nutzen diese neue Form der Flexibilisierung und des Zwangs hinein in den Niedriglohnsektor extensiv. Die Zahl dieser „Standby-Verträge“ liegt ggw bei 1,4 Mio. Vor allem junge Arbeitnehmer, Frauen und über 65-Jährige werden auf Abruf verpflichtet. Die Arbeitslosen werden mit dem Verlust ihrer Subsistenz in die Abrufvereinbarungen gezwungen. Sie sind an einen unsicheren, miserabel bezahlten Job gebunden.  Derartige und ähnliche Praktiken finden sich beinahe allen WorkfareProgrammen in OECD-Staaten von Hartz-IV über die Griechische Arbeitslosengeld-Reform 2011 bis hin zur Österreichischen BMS 2011. Staaten wie Rumänien oder Bulgarien haben entweder gar kein oder nur ein minimales soziales Netz. In Griechenland, dem Laboratorium der Rückkehr in den Manchesterkapitalismus wird seither Arbeitslosengeld in Höhe von maximal 360 Euro im Monat maximal ein Jahr lang gezahlt. Danach ist Schluss. Eine Sozialhilfe, Mindestsicherung oder Grundsicherung wie Hartz IV existiert nicht. Wer kein Arbeitslosengeld mehr bekommt, verliert automatisch auch seine Krankenversicherung. Das betrifft aktuell bereits 60% der Arbeitslosen, die von der Arbeitslosigkeit ins Elend abrutschen. Auch in Spanien erhalten mehr als 2,1 Mio Menschen keinerlei staatliche Hilfe mehr, weil sie das Arbeitslosengeld aufgebraucht haben und das haushaltsbezogene Sozialgeld in Höhe 400 € nur 6 Monate lang gewährt wird. Im Ergebnis frisst sich die relative und akute Armut in die Industriegesellschaften hinein. In der EU sind 125 Mio bzw. knapp 25% von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, 9% leben in akuter Armut; bei den Unter-18-Jährigen sind 28,1% armutsgefährdet. In Rumänien (42%) oder Bulgarien (49%) liegen die Werte doppelt so hoch. In Bulgarien sind 44,1% materiell depraviert und in Rumänien sind es 29,9% (Zahlen Eurostat für 2013). In den USA sind 48 Mio bzw 15% armutsgefährdet (Food Stamp Program) und 7% akut arm. Jedes 4. Kind ist auf Lebensmittelmarken angewiesen. In Japan sind vglw. 16% armutsgefährdet und 7% akut arm.  In Griechenland, Spanien, Italien, Portugal oder Irland lebt im Durchschnitt bereits ein Drittel aller Kinder in Armut oder ist marginalisiert. In Irland sind bereits 40% aller Kinder von Armut betroffen. Aber nicht nur in den Armenhäusern Europas wie Portugal werden Kinder nicht mehr ausreichend mit Nahrung versorgt. In München kommen 20% aller schulpflichtigen Kinder ohne Frühstück in die Schule. Das Arbeitslosengeld im Bulgarien und Rumänien setzt festen Wohnsitz, aktive Arbeitssuche und Beitragszahlung von 12 Mo (Bulgarien: 9 Mo) voraus. In beiden Ländern wird das Arbeitslosengeld zwölf Monate gezahlt, errechnet sich aus „Sozialem Referenzindikator“ (ca. 110 Euro), vorherigem Bruttoeinkommen und der Länge der Beitragszahlung. Ein Facharbeiter mit vorherigem Bruttoverdienst von 400 Euro und fünfjähriger Beitragszahlung erhält in Rumänien neun Monate lang rund 105 Euro Arbeitslosengeld. In Bulgarien erhalten Arbeitslose 60% ihres Netto-Durchschnittslohnes der letzten 24 Monate in Form von Tagessätzen. Der Mindesttagessatz beträgt derzeit rund 4 €. Ein Facharbeiter mit vorherigem Nettoverdienst von 250 Euro und fünfjähriger Beitragszahlung erhält acht Monate lang rund 150 Euro Arbeitslosengeld. Eine einheitliche Sozialhilfe gibt es in Rumänien und Bulgarien nicht.  Je nach Region werden Mindesteinkommen, Familienbeihilfe und Heizkostenbeihilfe gezahlt. Voraussetzungen für den Erhalt von Sozialhilfeleistungen sind: fester Wohnsitz im Land, Einkommen unter dem garantierten Mindesteinkommen (Rumänien: 30 € pro Person/Monat, in Bulgarien 33 € pro Person/Monat), Nachweise erfolgloser Arbeitssuche, kein Immobilien- und bewegliches Vermögen). Empfänger von Sozialhilfeleistungen in Rumänien + Bulgarien zu gemeinnütziger Arbeit wie Straßenkehren oder Schneeräumen verpflichtet. In Rumänien wird das Arbeitspensum von Gemeindeverwaltungen im Einzelfall festgelegt, in Bulgarien beträgt die Pflichtarbeitszeit 56 Stunden monatlich. Insgesamt kann eine Familie mit drei Kindern in Rumänien und Bulgarien maximal 150 € Sozialhilfeleistungen monatlich erhalten. Dazu kommt in Rumänien Kindergeld in Höhe von 10 €, in Bulgarien in Höhe von 18 monatlich. Diesen Einkommen steht in Rumänien und Bulgarien ein Preisniveau gegenüber, das westliches Niveau erreicht. Lebensmitteldiscounter bieten Waren zu ähnlichen Preisen an wie in Deutschland, die Kraftstoffpreise liegen auf österreichischem Niveau. Im Ergebnis war und ist der Siegeszug des Marktradikalismus in der Mehrzahl der OECD-Gesellschaften mit einer massiven Zunahme sozialer Ungleichheit, mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbunden. Wo der Neoliberalismus Etappensiege errungen hat, hat er den Planeten in einen Planet der Ungleichheit, Ausgrenzung und Armut und damit eben nicht mehr nur für jene ´ganz unten`: in einen Planet der Bettler verwandelt.

 Kap. 2. Buying Coins

Ergebnis eines 3-Jährigen Projektes, wo wir mit Bettlern u.a. in London, Rom, Berlin, Warschau, St. Petersburg, Seoul, Mumbai, Ulan Baatar und Delhi gearbeitet haben. Folgendes scheint uns bemerkenswert:

  1. Bettler ist eine moralische Waschmaschine – Tradition der religiösen Heilsökonomie; Gabe an den Bettler ist ein „Token“ für den Eintritt in das Paradies, das Himmelreich oder andere eskapistische Vorstellungszustände.
  2. In der Dynamik des Bettelns spiegelt sich die neoliberale Refeudalisierung des Sozialen. Christina von Braun hat gesagt, dass der Körper die letzte Deckung des Geldes ist. So lange man in der warenproduzierenden Gesellschaft der Eigentümer verkaufen kann, verkauft man: seine Vagina, seine Niere, seine Haare, seine Kinder in die Lohnsklaverei, seine Arbeitskraft, seine Zukunft oder seinen Körper post-mortem als Ersatzteillager. Wer nichts mehr zu verkaufen hat bettelt. Wer indes keine Charaktermaske als Warenträger mehr aufsetzen kann, mithilfe derer er sich zu Markte trägt, scheidet aus. Daher muss der Bettelnde, um akzeptiert und entgolten zu werden, leisten. Er muss Geschichten erzählen, eine Pieta geben, einen Tag lang still stehen. Wer bloß einen Stumpf statt einer Extremität zeigen kann zockt mit dem schwindenden symbolisch-kulturellen Kapital der Religiosität. Wer bloß einen leeren Starbucksbecher schüttelt und „biiete, biiete“ stammelt, geht leer aus. Auf ihn richtet sich die Aggressivität der Leistungswilligen. Hier ist einer, der verdienen will ohne zu leisten; der verdienen will ohne Steuern zu zahlen.
  3. Bettler als soziale Ligatur: Betteln ist ein Akt der Vergewisserung des sozialen Bandes durch Geben und Nehmen; im Betteln steckt; die Gabe erinnert an den reziproken Akt der Gabe bei Marcel Mauss: das Geben schafft sozialen Frieden; der Bettler erinnert uns an den pathologischen Charakter des ´homo oeconomicus`.
  4. Bettler sind symbolische Ikonen: Bettler erinnern nicht nur an die Vanitas des physischen und sozialen Daseins, sondern insbesondere auch an die Möglichkeit des jederzeitigen Absturzes der Mittelschichten; und je dramatischer die Mittelschichten erodieren (OECD 2014) desto zugespitzter der Konflikt
  5. Bettler sind sozial kompetent: sich mit fast nichts durchzuschlagen setzt hohe Management-Fähigkeiten voraus; Bettler sind keine Opfer, sondern handelnde Akteure (Geschichte: Fritz in Berlin- S-Bahn; Mike in London – Referat über den industriellen Strukturwandel im Nordosten Schottlands; Gaukler-Kinder in Dehli)
  6. Betteln findet immer in einem konkreten sozialen, kulturellen, religiösen, politischen und ökonomischen Kontext statt, von dem seine Praktiken abhängen: Bsp.- Südkorea (Betteln als Verletzung des Ansehens des Clans; Clan verliert Gesicht wenn Bettler einer Großfamilie zuordnet wird; Japan: Betteln vor Shopping-Malls – Einkaufstempeln gilt als Zerstörung des Einkaufserlebnisses, das als quasi-religiöser Akt und soziale Ausgleichshandlung (Entschädigung für entfremdete Lohnarbeit) verstanden wird, daher hohes Gewalt/Aggressionspotential der „Window-Shopper“
  7. Betteln ist immer inszeniert; Rom (im Rinnstein knien und den Kopf auf das Pflaster drücken; Mumbai (scheinbar drogierte, halbtote Kinder mit dem Kopf an das Seitenfenster des Taxis schlagen, um Geld zu erbetteln; Seoul: Geistig Behinderte werden in Gummi-Säcke gesteckt und schieben kriechend ein Holzwagerl mit einem Radio und Bettelschüssel darauf vor sich her)
  8. Betteln ist immer organisiert (St. Petersburg; Newski Prospekt IsaaksKathedrale: alte Frauen mit Leinensäcken um die Hüfte und leerer Ikone betteln wippend vor der Kirche)
  9. Betteln ist immer eine Profession, ein Beruf. In Indien galt das Betteln bis Ende der 1980er Jahre als Beruf bzw. Profession. Daher war Bettler ein Beruf. Auch heute noch gilt Betteln als Teil der sozialen Reproduktion. Kamat (1997) führt dazu aus: „Like prostitution, begging is (one of the) oldest profession(s) on earth. Although varying by geography and the times, begging is universal. Even the richest countries like America have beggars in one form or another.“ Betteln wird heute als eine Form der informellen Arbeit angesehen.
  10. Betteln basiert vielfach auf Tradition. In Malaysia, Indonesien und Myanmar betteln Mönche als religiöse Praxis. In Indien betteln sogar Brahmanen wenn sie heilige Stätten besuchen. Vielfach erben Bettler ihre Profession. Kinder werden geschult. In Malaysia werden Kinder zwischen 7 und 12 Jahren in Shopping Malls geschickt, um „prayer stickers“ mit Koran-Versen vor den Geschäften zu verkaufen. In Mumbai setzen Eltern 3-4-Jährige auf eine vom Meer geflutete Mole vor der Moschee. Die „panhandler“ (Bettler) argumentieren, dass sie damit eine Familientradition fortführen. Bettler üben ihre Performance. In Kalkutta gibt es Schulen dafür. In Duschanbe (Tajikistan) trommeln kleine Kinder in Fußgängerunterführungen, während ihre Eltern sie überwachen.
  11. Betteln ist immer auch eine Reaktion auf gesellschaftlichen Strukturwandel. Personen reagieren auf Life-Events und rapiden sozialen Abstieg mit Betteln. In Ulan Baatar ist das Betteln Reaktion auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Nomadisierenden Gesellschaft (Schwarze Winter; Standardisierung der Fleischproduktion).
  12. Bettler entwickeln eine quasi-berufliche Identität. Viele betteln über Abschnitte ihres Lebensverlaufes hinweg.
  13. Bettelverbote sind ein globales (weltweit zu beobachtendes) Phänomen. Betteln ist etwa in Oslo, Sao Paulo, Osaka, Seoul, Toronto, Paris, London oder St. Petersburg verboten. Der Unterschied begründet sich daraus, wie diese Bettelverbote exekutiert werden.

Kap. 3: Soziologie des Bettelns

Betteln ist überwiegend ein (groß)städtisches Phänomen. Bettler nutzen dort einerseits die touristischen Strukturen, suchen andererseits die urbane Anonymität. Daraus ergibt sich ihre Überlappung mit jugendlichen Subkulturen und Nichtseßhaften. Aufgrund der geringeren Dichte sozialer Kontrollzugriffe können sie Gaben/Spenden ohne ein hohes Maß sozialer Kontrolle „einwerben“. Modernes Betteln widerspiegelt extreme Exklusions- und Belastungserfahrungen zumeist im gesellschaftlichen Strukturwandel (Modernisierung). Das Betteln selbst in tief in der Sozialgeschichte von Randgruppen und sozialer Ungleichheitsbewältigung verankert.

3.1. Räume des Bettelns

Betteln findet im öffentlichen Raum statt. Es ist daher unmittelbar von der neoliberalen Privatisierung des öffentlichen Raums berührt. In Berlin vertreiben private Sicherheitsdienste die Bettelnden von den bislang öffentlichen Flächen am Potsdamer Platz. Die Stadt hat ihren öffentlichen Gestaltungsanspruch daran aufgegeben. In Toronto verbietet es das Verwaltungsstrafrecht, sich einem Kunden am Bankomaten (ATM) von hinten auf weniger als 3 Meter zu nähern.

Betteln wird weitgehend mit sozial-destruktivem, sozial-schädlichem Verhalten im öffentlichen Raum gleichgesetzt. Es indiziert soziale Unordnung und Desorganisation, eine Existenz außerhalb von Arbeits-, Wohnungs- und Gütermarkt. Deshalb wird es regelhaft als polizeibedürftige Situation wahrgenommen. Betteln und Straßenzeitungsverkauf sind traditionell vor allem Aktivitäten von Wohnungs- und Obdachlosen sowie neuerdings von BettelmigrantInnen. Die wachsende Zahl von Bettelnden wird in Europa sukzessive auf Bettel-Standorte und in Bettlerzonen zugewiesen. Dabei treten zwischen den einzelnen Gruppen der Bettelnden intensivierte Standortkonkurrenzen auf. In mehreren Ländern werden Bettel-Lizenzen als Standort-Lizenzen vergeben (Analogie: Straßenmusiker).

3.2. Praktiken des Bettelns

Betteln kann im Wesentlichen (a) passiv-submissiv, (b) aktiv oder (c) aggressiv sein. Bei einem Teil dieser Bettelkonstellationen handelt es sich um ein symbolisch-moralisch angereichertes Tauschgeschäft, bei einem anderen um eine Strategie des Unter-Druck-Setzens (Appell an schlechtes Gewissen, Peinlichkeit), von der man sich gleichsam „freikauft“. Bettelnde betteln üblicherweise so lange, bis sie die Summe ´beisammen` haben die sie benötigen. BettlerInnen versuchen regelhaft nicht, ihr Einkommen zu maximieren.

3.2.1. Passiv-submissives Betteln

Beim passiv-submissiven Betteln signalisieren die Bettelnden ihre Hilfebedürftigkeit visuell. Dabei dominieren drei Arten des Rollenspiels, nämlich das (a) archaisch-religiöse Betteln (b) die demonstrative Zuschaustellung materieller Deprivation (c) die Entblößung körperlicher Defekte. (ad a): Beim archaisch-religiösen Betteln kniet der Bettler auf dem Boden (vielfach im Eingangsbereich religiöser Einrichtungen), simuliert ein Gebet und hält gleichzeitig einen Spendenbecher. Submissive BettlerInnen sprechen Personen mit religiösen Dispositiven und „Sehgewohnheiten“ an. (ad b) Bei der demonstrativen Zurschaustellung materieller Deprivation nutzt der Bettler Textschilder, die auf seine Notlage hinweisen oder zeigt eine drastische Notlage wie beim „Mutter-Kind-Betteln“. Zum Rollenspiel gehört, vor Passanten zusammenzubrechen oder auf Knien über das Trottoir zu rutschen. (ad c) Bei der Entblößung körperlicher Defekte werden demonstrativ und provokant Amputationen, Verstümmelungen oder Deformationen gezeigt. Krücken und improvisierte Gehhilfen dienen als Requisiten des Rollen/Schauspiels.

3.2.2. Aktives Betteln

Aktives Betteln findet sich vorwiegend bei bettelnden Jugendlichen im innerstädtischen Raum, die Passanten quasi- vertraulich ansprechen, um von ihnen Geld zu borgen oder zu schnorren. Alternativ wird PassantInnen eine idR deprimierende Geschichte erzählt, an deren Ende die Bitte um etwas Geld steht. Diese Form des Bettelns ist mitunter mit dem Vortragen von Kunststücken oder Musikeinlagen verbunden, wo Bettelnde nach einer Vorstellung mit offener Hand oder mit einem Behältnis auf die Passanten zu und bitten um eine Spende.

3.2.3. Das aggressive Betteln

Aggressiv bettelnde Personen suchen den körpernahen Kontakt oder Körperkontakt zu den potentiellen Spendern. Sie sprechen Passanten aufdringlich an, stellen sich ihnen in den Weg, umringen sie in Gruppen, zerren an ihnen oder verfolgen sie über einige Meter hinweg energisch. In Berlin inszenieren Bettelnde Schreikonzerte, während sie den ausgewählten Spendern hinterherlaufen. In St. Petersburg haben bis 2006 Bettlergruppen Fußgänger eingekreist und körperlich attackiert, bis sich diese loskaufen konnten. Formal erfüllte dies den Tatbestand der Nötigung und des Raubes. Die Russische Polizei reagierte mit einem Pogrom und einer Massendeportation.

3.3. Populationen des Bettelns

Die Gründe für das Betteln sind vielgestaltig; sie haben  vordringlich ökonomische, dann aber auch religiöse, kulturelle und soziale Motive und Ursachen.

Fünf soziale Gruppen von Bettelnden stehen in den Europäischen Wohlfahrtsstaaten im Vordergrund: a) eine kaum klar zu differenzierende Gruppe von touristisch Durchreisenden (Straßenmusikanten, Gaukler, Schausteller, Trottoirzeichner), b) Pendel-MigrantInnen aus Schwellenländern innerhalb der EU (organisiertes Betteln), c) wohnungs- bzw. obdachlose Bettelnde, d) Personen mit Wohnsitz und Zuerwerbsmotiven  zu geringen Sozialleistungen, d) Street Corner Societies und jugendliche Subkulturen (Punks) sowie Straßenkinder.

(1) Straßenmusikanten, Gaukler, Schausteller und Trottoirzeichner erbetteln Gegenleistungen für ihre mitunter artistisch-riskanten Darbietungen/Showeinlagen. Durch Leistung wird eine moralische Leistungsverpflichtung etabliert.

(2) Die als „Bettelbanden“ etikettierten organisierten und in Gruppen reisenden/auftretenden bettelnden PendelmigrantInnen sind Ausdruck der sozialen Exklusion dieser Population in ihren Herkunftsländern. Ihr Betteln geht vielfach auf rassistische oder ökonomische Push-Faktoren wie hohe Arbeitslosigkeit, kulturelle Marginalisierung oder Stigmatisierung als Roma/Sinti zurück. Dieser ´Push` ist zugleich von weithin unrealistischen Annahmen der Subalternen über die Bedingungen in der Zielgesellschaft geprägt.

(3) Für wohnungs- oder obdachlose StaatsbürgerInnen kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten ist Betteln eine Überlebensstrategie jenseits wohlfahrtsstaatlicher Transferleistungssysteme. Während die Zugangschancen zu existenzsichernden Transferleistungen zuletzt mit der BMS eingeschränkt wurden, man also hier um Hilfe „betteln“ muss, während die Nichtinanpruchnahme bedarfsgeprüfter Leistungen zunimmt, während die Zahl der  Randgruppen, der Wohnungs- und Obdachlosen mit der Durchsetzung neoliberaler Reproduktionsverhältnisse zunimmt, betteln weder Obdachlose noch Mindestsicherungs- oder SozialhilfeempfängerInnen in proportionaler Weise. Betteln findet also trotz Leistungsausschlüssen und dem ´Non-Take-Up` von bedarfsgeprüften Leistungen kaum statt. Es muss indes als Ausdruck dysfunktionaler Wohlfahrtssysteme gesehen werden, wenn mündigen Minderjährigen das Antragsrecht auf Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung verwehrt wird.

(4) Bettelnde Personen mit regulärem Wohnsitz und Zuerwerbsmotiven zu geringen Sozialleistungen verkörpern eine sehr kleine Gruppe. In St. Petersburg sitzen bettelnde Frauen am Eingang zu Klöstern. Sie betteln „from nine to five“, verstehen dies als Arbeitsplatz, kehren danach in ihre Gemeindewohnung zurück.

(5) Street Corner Societies und jugendliche Subkulturen mit kontrakulturellen Attitüden (Punks) sowie Straßenkinder finden sich insbesondere im Einzugsbereich von Bahnhöfen und U-Bahnstationen. Sie sind Ausdruck für das Fehlfunktionieren wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme. Diese Bettelpopulationen sind deutlich unterschieden etwa von jenen in den Schwellen- und 3.Welt-Ländern, wo Betteln vielfach Ausdruck der bäuerlichen Entwurzelung und Landflucht in die Slums der Megacities ist. Betteln stellt hier ein Phänomen des Ankommens an die Ränder der Städte dar. Gebettelt wird einerseits in religiösen Kontexten, vor Kirchen und Klöstern. Andererseits konzentriert sich das Betteln auf touristische „Hot_Spots“. Es sind Touristen, die die Drastik der Bettelinszenierung als beängstigende Folklore erleben.

3.4. Organisiertes Betteln

Organisiertes Betteln ist das politische Kernstück des Bettelkonfliktes. Dabei fallen der juristische und soziologische Organisationsbegriff auseinander. Denn: weltweit wird organisiert gebettelt. Faktisch setzt Betteln immer Körpertraining, eingeübte Mimik und Körperhaltung, Requisiten, spezifische Kleidung oder das Auswendiglernen von Sätzen in fremder (unverstandener) Sprache voraus. Es folgt einem strategischen Kalkül hinsichtlich Ort, Zeit und Methode. Der Vorhalt, Betteln sei organisiert, geht also fehl. Denn Betteln ist immer organisiert. Hervorzuheben ist allerdings das organisierte Betteln in Gruppen, die gemeinsam an den Bettelort reisen, sich strategisch platzieren oder positionieren, sodass sie etwa zueinander Sichtkontakt haben und so ein Netzwerk von Bettelnden darstellen, welches Einnahmen vielfach gemeinsam oder für einen informellen Unternehmer bewirtschaftet.

In den letzten Jahren hat in den Fußgängerzonen der Städte in Mittel- und Nordeuropa die Zahl der in Gruppen organisierten Bettler zugenommen. Dies hat die ´stand-alone`-Bettler von angestammten Plätzen verdrängt und etabliert Konkurrenzsituationen. Innerhalb der Bettlerpopulationen lassen sich rigide Hierarchien und Konflikte um Standorte nachzeichnen.  Anmerkung: Diese organisierten Bettlergruppen sind freilich keine „Bettlerbanden“. Denn der Begriff der „Bande“, der auf den strafrechtliche Qualifikationsmerkmal der Bandenkriminalität verweist, ist damit per se noch nicht erfüllt. Unerheblich oder alleine oder in Gruppen kann Betteln als aggressives Betteln immer den Straftatbestand der Nötigung, der Freiheitsberaubung oder des Raubes erfüllen. In der Tat handelt es sich bei den organisierten Bettlergruppen um Familien oder um unternehmensähnliche Konglomerate der informellen Ökonomie, wobei die MitarbeiterInnen oder Clanmitglieder an ihrem Herkunftsort systematisch ausgesucht, mitunter ausgebildet werden, um sie im Weiteren gezielt in Bettelzonen zentraleuropäischer Städte verbringen zu können.  Der Großteil der als „Bettler-Banden“ etikettierten organisierten Bettlergruppen stammt aus Süd-Ost- bzw. Ostmitteleuropa (Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kosovo, Tschechien). In diesen unternehmensähnlichen Konglomeraten der informellen Ökonomie werden Einnahmen der Bettelnden entweder familiär verwaltet oder abgeführt (abgeschöpft) und zentral verwaltet. Untersuchungen aus D zufolge müssen bis zu 90% der Einnahmen die Almosenempfänger ihren Hintermännern als „Aufwandserstattung“ abliefern.1 Dies deckt sich mit Befunden aus St. Petersburg, Berlin, Warschau oder Moskau. Die „Ausbildung“ der BettlerInnen umfasst Informationen über geeignete Orte, Rechte und Pflichten von BettlerInnen (etwa Verhalten im Falle einer Polizeikontrolle) sowie das Einüben geeigneter Bettelhaltungen und -strategien.  Weil die Organisatoren der Bettelfahrten mangels Sprachkenntnis ihrer MitarbeiterInnen nur auf die stumme Zurschaustellung von Leid setzen können, werden in den Bettelgruppen vor allem hilflose Alte, offenkundig verwahrloste Kinder, Körperbehinderte sowie augenscheinliche Kriegskrüppel mit hohem Demonstrations-, Peinlichkeits- und Mitleidseffekt eingesetzt. Während der Kriegskrüppel-Effekt in Russland (Afghanistan´-/Tschetschenien-Trauma) funktioniert, läuft die Inszenierung in Österreich vielfach ins Leere. Organisierte „Bettlerbanden“ reisen idR als Gruppe (teils auch im öffentlichen Verkehrsmittel) mit wenig Gepäck, nehmen Bahnhöfe (Bus/Zug) als Ausgangspunkt, halten sich bei ihren Bettelaktionen an exakte Einsatzort- und und Zeitpläne. Sie verteilen sich vormittags über ihre Einsatzgebiete (Fußgängerzonen) und verlassen diese nach Geschäftsschluss.

Vielfach werden BettlerInnen von „Supervisoren“ oder Überwachungspersonal begleitet. Gebracht und abgeholt werden sie vielfach mit Kleinbussen, wobei die Nächtigung in Kleinbussen auf       Autobahnparkplätzen, in Abbruchhäusern, Pensionen, Notschlafstellen oder improvisierten Zeltlagern in Waldstücken erfolgt.  Die Tragik der organisierten Bettelgruppen liegt darin, dass sie nicht verstanden haben, wie Leistung im Kapitalismus funktioniert. Ihre auf den Unvoreingenommenen mitunter blödsinnig wirkenden Appelle an religiöse Schuld- und Heilsökonomien (Betteln mit Heiligenbildchen) scheitern an einem säkularisierten Publikum; das Herumwedeln mit einem leeren Pappbecher verstört in einer Gesellschaft, die nur auf Leistung reagiert; das Herzeigen von Schildern durch junge, scheinbar arbeitsfähige Menschen führt zu aggressiver Zurückweisung; die Dislozierung von Bettelnden in Sichtweite voneinander hat nichts von der Aufmerksamkeitsökonomie kapitalistischer Gesellschaften verstanden, in der Leiden nach den Grundsätzen des Product-Placement inszeniert werden muss, um verkaufbar zu sein; die schiere Größe der bettelnden Gruppen verkennt völlig die Gesetze des Marktes, der auf Knappheit, aber nicht auf den Überfluss von Elend reagiert.

3.4. Bettelbeziehungen aus Sicht der Bettler

Britische wie Deutsche Studien haben gezeigt, dass biographische Abstiegserfahrungen, eine eingeschränkte Resilienz, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Kindesmissbrauch und famililäre Gewalt (Inzest, körperliche Gewalt, sexuelle Übergriffe) als Auslöser für Bettel-Praktiken gelten. Bettelnde haben häufige Kontakt mit Sanktionsträgern: 2 von 3 Obdachlosen haben Vorstrafen etwa wegen Ladendiebstahls oder der Nichtbezahlung von Strafen. Bettelnde sind zugleich vom Selbstverständnis getragen, dass dies eine Alternative zum abweichenden Verhalten, insbesondere dem Ladendiebstahl, und Prostitution sei. Die meisten Bettelnden berichten widersprüchlich sowohl von Abwertungserfahrungen, Belästigung, Übergriffen und Gewalt wie auch von Mitleid und Spendenbereitschaft.

3.5. Bettelbeziehungen aus Sicht der Passanten/Gebenden

Die soziale Beziehung zwischen Bettelnden und Gebenden ist ebenso unreflektiert wie schief. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass das Gros der Passanten Kontakt meidet, während ein kleinerer Teil Bettler als aufdringlich/aggressiv erlebt. Dabei lassen sich Projektionen von sozialen Handlungen kaum sinnvoll unterscheiden. In den Reaktionen der PassantInnen vermengen sich religiöse, (ideologische), soziale und politische Motivlagen. Der Bettelnde erinnert den potentiellen Geber peinlich an die Vanitas von Gesundheit, körperlicher Integrität und materiellen Gütern. Der Bettler verkörpert für den Gebenden zugleich eine Art ´moralischer Waschmaschine`, in welcher sich dieser von Schuld und Angstprojektionen durch Entrichtung eines Obolus befreit. Der Bettler öffnet den Weg ins Paradies. Im Akt des Gebens steckt auch die Anerkennung des Gebenden für die Selbstentblößung sowie die Bereitschaft des Bettelnden, gedemütigt zu werden. Der Bettelnde eröffnet die Möglichkeit, auf ihn herabsehen zu können. Zugleich zollt der Gebende dem Bettler ggf darin auch Respekt für den Mut, sich zu ´outen`.  Betteln verkörpert damit eine soziale Praxis, in der eine Person Geld, Nahrungsmittel, Drogen (Zigaretten), Alkohol oder andere Güter durch die Zurschaustellung jeweiliger ´trigger` (körperliche Deformation`; Kunststücke; Darstellung von Posen, welche an moralische Affekte appellieren) erhält. Es findet auch ein symbolischer Austausch statt, der von psychischen Projektionen und Übertragungen überlagert wird. Vielfach können die Gaben an die BettlerInnen als Vermeidungsstrategie decodiert werden, als Strategie, nicht mit dem Bettelnden in Kontakt zu kommen; in diesen Fällen findet dann kein Augenkontakt, keine sichtbare bzw erkennbare Kommunikation zwischen den Beteiligten statt.

4. Paradoxien der Politiken des Bettelns

Der Umgang mit den organisierten Gruppen von Bettelnden aus Südosteuropa ist durch ein Kaleidoskop mehrerer Paradoxien geprägt: Erstens ist die repressive, auf selektive Bettelverbote abzielende Politik des Bettelns in Österreich durch rassistische und antiziganistische Attitüden sowie einen responsibilisierenden Habitus (wie er aus der Armutsdebatte bekannt ist) geprägt. Dieses Politikmuster radikalkleinbürgerlicher ´law and order`-Fraktionen muss als ideologisch-hegemoniales Projekt verstanden werden: es geht ihm darum, Armut und den Umstand fehlender Existenzmittel zu kulturalisieren und zu naturalisieren, die ökonomischen Triebfedern dahinter zu verdecken bzw. unkenntlich zu machen. Dabei lassen sich folgender Argumentationsfiguren unterscheiden:

  1. Betteln wird in antiziganistisch-rassistischen Reflexen als Ausdruck völkischer Minderwertigkeit verstanden (biologisches Argument)
  2. Betteln wird im neoliberalen Selbstverschuldens-Dispositiv als Ausdruck individueller Inkompetenz verstanden, als fehlende Marktfähigkeit und Marktfitness der Betroffenen (Blödheitsargument)
  3. Betteln gilt als Ausdruck der Kultur einer fehlenden Leistungswilligkeit der Betroffenen (Kulturalisierungsargument)
  4. Im Betteln verdichtet sich die Figur des Sozialschmarotzers (er will ohne Gegenleistung versorgt werden, zahlt keine Steuern, liegt dem Gemeinwesen auf der Tasche).

Darüber hinaus kommt es zu einer überschießenden, gleichsam „hyperventilierenden“ Regelung des Gesetzgebers: eine repressive Kontrolle des Bettelns im Landespolizeirecht ist ebenso wenig erforderlich wie die die Definition gewerbsmäßigen oder organisierten Bettelns. Der Strafenkatalog reicht völlig hin, um kriminelle Praktiken (Menschenhandel, Sklaverei, Nötigung, Erpressung) zu sanktionieren. Das Strafrecht definiert hinlänglich, was eine kriminelle Organisation ist.

Zweitens spiegelt die Strategie einer inklusiven Verarbeitung, die in einer rechtlich und sozialpolitisch nicht-anschlussfähigen Weise von „Notreisenden“ spricht, um daraus die Forderung nach dauerhafter Unterbringung und Versorgung der in Gruppen organisierten BettelmigrantInnen abzuleiten, eine anti-legalistische Haltung und ist von einer grundsätzlichen Unkenntnis des Gemeinschaftsrechts geprägt. Denn auch BürgerInnen aus Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Tschechien oder Ungarn müssen gem. RL 38/2004 bei Grenzübertritt jedes EUBürgers (Ausnahme Durchreise) unerheblich aus welchem Grunde drei Dinge nachweisen: a) hinreichende Mittel zum eigenen Lebensunterhalt, b) eine sämtliche Risiken abdeckende Krankenversicherung, c) eine angemessene Wohnunterkunft. Wer dies nicht nachweisen kann hat nur noch die Möglichkeit, sich beim AMS arbeitssuchende zu melden, wird aber nach 4 Monaten eine Anmeldebescheinigung benötigen und selbst nach der Judikatur des EuGH spätestens nach 6 Monaten fremdenrechtlich beamtshandelt werden. Die erwogene Sonderbehandlung für „Notreisende“ scheint gleichheitsrechtlich in absurder Weise rechtswidrig. Würde sie doch arbeitsuchende Belgier oder Niederländer mit KVAnspruch und ALG-Anspruch in Österreich schlechter stellen als Personen die ohne irgendeinen Sozialleistungsanspruch aus südosteuropäischen Ländern einreisen. Daneben schließen es die fremdenrechtlichen Regelungen über DrittstaatenausländerInnen aus, dass mittellose Personen Sozialleistungen in Österreich beziehen (§ 11 NAG). Auch eine Aufenthaltsbewilligung wird nicht zu erlangen sein. Wenn überhaupt wird man „Notreisende“ aus EU-Mitgliedstaaten auf die Möglichkeit verweisen können, sich beim AMS arbeitssuchend zu melden, um im Weiteren ggf auch Mindestsicherung zu beziehen, jedenfalls für die Dauer von 3 Monaten nach der Unionsbürgerrichtlinie und Aufenthaltsrichtlinie aus 2004. Gelingt die Arbeitsaufnahme nicht, ist mit einer Ausweisung zu rechnen. Für nicht-arbeitende/nicht-arbeitsuchende BürgerInnen aus EUMitgliedstaaten (Arbeitnehmereigenschaft) besteht diese Möglichkeit allerdings nicht.

Drittens ist der institutionell-administrative Umgang mit der Bettelszene durch die gänzliche Abwesenheit der Anwendung gesundheitspolizeilicher und verwaltungsrechtlicher Bestimmungen geprägt. So findet erheblichenteils keine Erfassung der Instrumentalisierung von Minderjährigen für Bettelzwecke im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe statt. Nur in der Stmk, Wien, Ktn, Oö und Nö ist das Mitführen von unmündigen Minderjährigen beim Betteln untersagt. Zweifellos steht in Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilferechts das Wohl der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund. Verboten ist jede Mitführung eines Kindes oder Jugendlichen beim Betteln. Dies ist selbst dann gegeben, wenn eine bettelnde Person mit ihrem Kind stumm dasitzt und mit offener Hand bettelt. Vor dem Hintergrund, dass bettelnde Personen vielfach keine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder haben und somit ihre Kinder mitführen müssen, kommt diese gesetzliche Regelung für die Betroffenen einem generellen Bettelverbot für Personen mit Betreuungspflichten gleich, egal ob hierbei Kinder bzw. Jugendliche direkt zum Betteln eingesetzt werden oder nicht. Ob dieser Ausschluss von Personen mit Betreuungspflichten von der Bettelei durch die Judikatur, die ein generelles Bettelverbot als verfassungswidrig qualifiziert hat, gedeckt ist, steht dahin. Fakt aber bleibt, dass das Kindeswohl im Einzelfall durch das Mitführen beim Betteln verletzt werden kann.

Viertens ist der politische Umgang mit dem Betteln beinahe zur Gänze durch das Fehlen konstruktiver politischer Interventionen und ein Verständnis der sozialen Funktion des organisierten Bettelns geprägt: 1. ist organisiertes Betteln Ausdruck einer Pathologie der Sozialsysteme der Herkunftsländer die nur in diesen Ländern selbst behoben werden kann. Mitgliedstaaten der EU haben das Primärrecht der EU zu befolgen und Sekundärrecht anzuwenden/umzusetzen. Dazu gehört jedenfalls Art 35 der EU Charta das Grundrechte. Im Übrigen haben auch Rumänien, Bulgarien, Slowakei u.a. Länder die ESC ratifiziert bzw. ist diese in Kraft. Art 12, 13, 14 beinhaltet die Selbstverpflichtung der Staaten, ein bedarfsdeckendes System sozialer Sicherheit vorzuhalten/zu gewährleisten. 2. löst organisiertes Betteln die soziale Reproduktionsmisere der Bettelnden nicht (oder nur punktuell), da alleine die Pendelmigration erhebliche Ressourcen verbraucht. 3. verfestigt das organisierte Betteln die Dynamik von Ausgrenzungsprozessen im Herkunftsland der BettlerInnen, Insofern sind die Bettelnden im Sinne Marx´ Teil des Lumpenproletariats, eines politisch reaktionären, passiven und unqualifizierten Milieus, welchen dem sozialen Konflikt ausweicht. Marx fasst das Lumpenproletariat als „tiefsten Niederschlag“ der relativen Überbevölkerung, der industriellen Reservearmee, als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“, als Gruppe von Vagabunden, entlassenen Soldaten, entlassenen Zuchthaussträflingen, entlaufenen Galeerensklaven, Gaunern, Gauklern, Tagedieben, Taschendieben, Taschenspielern, Spielern, Zuhältern, Bordellhaltern, Lastträgern, Literaten, Orgeldrehern, Lumpensammlern, Scherenschleifern, Kesselflickern und Bettlern“. Nach ihrer ganzen Lebenslage sei, so Marx, das Lumpenproletariat „bereitwillig, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“.

Fünftens (schließlich) spiegelt sich in soziologischer Perspektive im Bettel-Diskurs der Kampf der mittleren und unteren Mittelschichten gegen ihren sozialen Abstieg. In der dominanten Melange aus Ausländerfeindlichkeit, Antiziganismus, Hängematten-Diskurs, Gratifikationskrisen, Abstiegsängsten und endemischer Unsicherheit erscheint das organisierte Betteln als eine Art ideologischer Blitzableiter. Mit dem Auftritt des ausländischen Bettlers bricht die Zukunft des Kapitalismus, nämlich die Drohung mit einer globalisierten Prekarität der Un- und Schlechtqualifizierten, sozial Abgehängten und Überflüssigen, die Drohung mit sozialem Ausschluss und einem Absturz in die informelle Ökonomie ein in das rassen- und sortenreine Biedermeier-Idyll der Braven und Fleißigen.

In der Figur des Bettlers scheint durch, was der finanzmarktgetriebene Kapitalismus den Lohnabhängigen in Zukunft verspricht.

 

 

Das Referat wurde am 13. Mai 2014 von Nikolaus Dimmel gehalten und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt. Weitere Infos: /http://nikolaus-dimmel.com/Nikolaus-Dimmel.com/Short_Cut.html

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