ver.di erkämpft Tarifvertrag Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung an der Charité – das war sensationell und wegweisend zugleich

123 comiis.netDie Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat die Beschäftigten in 295 Krankenhäusern im Frühjahr 2016 bundesweit befragt. Heraus kam, dass die Pflegekräfte 36 Millionen Überstunden in den Krankenhäusern vor sich herschieben, durchschnittlich sind das mehr als 32 Stunden pro Beschäftigten.

Das Ganze hat mittlerweile sogar eine eigene Struktur bekommen, zusätzlich zu den unvorhersehbaren Überstunden werden bereits wegen Personalmangels regelmäßig vier Überstunden pro Beschäftigten in die Dienstpläne eingestellt, weil ohne das Engagement des Pflegepersonals das System Krankenhaus nicht mehr funktionieren würde.

Um die Überstunden gar nicht erst aufkommen zu lassen, wären im Krankenhausbereich 17.800 zusätzliche Stellen notwendig. Auf der andren Seite schließen einige Krankenhausgesellschaften aus Personalmangel ganze Stationen, über Tage und Wochen, wegen einem Personalmangel, den sie sicher auch mit zu schlechten Arbeitsbedingungen selbst mit verursacht haben.

Vor diesem Hintergrund hat ver.di nun an dem großen Krankenhaus Charité in Berlin neue Wege bei den Tarifverhandlungen eingeschlagen und nach langem Kampf sensationell erreicht, dass in der Klinik ein Tarifvertrag unterzeichnet wurde, der eine Mindestbesetzung auf den Stationen mit verbindlichem Personalschlüssel vorschreibt. Intern wird von 220 neuen Fachkräften ausgegangen, die die 4.300 Pflegekräfte an der landeseigenen Charité entlasten sollen.

Der Abschluss kann als erster Schritt einer bundesweiten Bewegung für mehr Personal in den Krankenhäusern und als Signal für eine bessere Klinikfinanzierung gesehen werden.

Diesmal war bei den Tarifverhandlungen zwischen ver.di und der Charité einiges anderes. Während den vier Jahre andauernden Tarifverhandlungen hatte nicht an erster Stelle mehr Lohn, sondern eine Mindestbesetzung auf den überlasteten Stationen gestanden. Der Charité-Vorstand lehnte das zunächst rundherum mit der Argumentation ab, dass der Personalbedarf von der jeweiligen Zahl und dem Zustand der Patienten abhänge und weil die für die Personalkosten zuständigen Krankenkassen nicht mehr Geld in Aussicht stellten. Außerdem zweifelte der Arbeitgeber an der Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfes und holte dafür Gutachten ein. Sogar der wissenschaftliche Dienst des Bundestages war involviert und der stellte fest: „Dass Fragen der Personalbemessung zu den tarifvertraglich regelbaren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen entsprechend dem § 9 Abs. 3 Grundgesetz gehören, den … Arbeitsablauf, – verteilung und -belastung werden unmittelbar durch die Personalbemessung bestimmt und gehören zum verfassungsrechtlich verbürgten Mandat tarifautonomer Gestaltung der Arbeitsverhältnisse“. Flankierend kam das Arbeitsgericht in Berlin zur Hilfe und stellte fest: „Die unternehmerische Freiheit hört da auf, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten beginnt.“

Der Durchbruch kam dann Ende April 2016. Eine überwältigende Mehrheit von 89,2 Prozent der ver.di -Mitglieder an der Charité sprach sich für den Tarifvertrag über Gesundheitsschutz und Mindestbesetzungsregelungen in der Pflege aus. Der Tarifvertrag gilt nun für alle der insgesamt ca. 14.000 Beschäftigen an der Charité mit der Auswirkung z.B., dass nun eine Pflegekraft auf den Intensivstationen im Schnitt zwei Patienten pro Schicht versorgt, bislang waren es oft bis zu fünf Kranke.

Der Abschluss ist einer der ersten Schritte der bundesweiten Bewegung für mehr Personal und ein wichtiger Anstoß, dass Bund und Krankenkassen endlich für eine bessere Finanzierung der Pflege sorgen und die Folgen einer völlig verfehlten Gesundheitspolitik aufarbeiten.

Er macht aber auch noch auf die Wichtigkeit der Arbeitszeitverkürzung aufmerksam.

Würden die Arbeitszeit der 22 Millionen Beschäftigten, die in Vollzeit arbeiten auf 30 Wochenstunden reduziert, würden 750.000 Arbeitsplätze entstehen. Mit den tollen Nebenwirkungen, wie weniger Stress, weniger psychische Belastung und Hartz IV käme in die Tonne.

Der Arbeitskampf an der Charité kann uns zumindest einen Weg zeigen, wie man dort hinkommen könnte.

Elementare Voraussetzung dafür aber sind starke Gewerkschaften im Betrieb, mit aktiven gewerkschaftlichen Betriebsgruppen und vielen Unterstützern in der Bevölkerung, die ja von gesunden und ausgeschlafenen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich auch viel zurückbekommen.

 

Quellen: ver.di, ossietzky, vitamin c/Charité