Vor 30 Jahren schrieb Franz Steinkühler über das Sozialstaatsprinzip als Verfassungsgebot und die Solidarische Arbeitnehmergesellschaft – ein Artikel, der heute noch aktuell ist

„Zehn Jahre Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und beschleunigte unternehmerische Rationalisierung haben soziale Ungerechtigkeiten, Chancenungleichheiten, zunehmende Armut … und die Missachtung der Lebensinteressen breiter Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik bewirkt. Dies alles geschieht, obwohl das Sozialstaatsgebot die staatlichen Organe zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise nach dem Maßstab von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet.“

Dies ist ein Zitat von Franz Steinkühler (damals Zweiter Vorsitzender der IG Metall) aus dem Jahr 1986 und erschreckend aktuell. Inzwischen sind wichtige Bastionen gewerkschaftlicher Solidarität und Kampfkraft geschleift worden. Ein Ergebnis der über 40 Jahre andauernden massenhaften Erwerbslosigkeit und einem ständig wachsenden Anteil untertariflich bezahlter und prekärer Arbeitsverhältnisse.

Die zunehmende Vereinzelung und Individualisierung der Beschäftigten, gepaart mit wachsenden Existenzängsten, besonders der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, erschwert in weiten Bereichen der Arbeitswelt das Zusammenfinden zum Widerstand und zum kollektiven Kampf für die gemeinsamen Interessen.

Auch das Motto des 15. Ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall im Oktober 1986 in Hamburg wäre auch heute noch angebracht, es lautete: „Gemeinsam kämpfen für Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaftsfreiheit, Arbeit für alle und soziale Demokratie.“

Franz Steinkühler im Oktober 1986:

Solidarische Arbeitnehmergesellschaft verwirklichen

„Gemeinsam kämpfen für Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaftsfreiheit, Arbeit für alle und soziale Demokratie“ – Unter diesem Motto findet vom 19. bis 25. Oktober 1986 m Hamburg der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall statt. Er findet statt vor dem Hintergrund einer nun schon zehn Jahre andauernden Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, die mit beschleunigter technischer Modernisierung, massivem Sozialabbau und vermehrten Angriffen auf die Arbeitnehmer und Gewerkschaftsrechte durch Unternehmer und Regierung einhergeht. Die IG Metall hat sich diesen wachsenden Herausforderungen gestellt und unter schwierigen Bedingungeneindrucksvolle Erfolge erkämpft.

Die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise

In den Staaten der OECD sind zur Zeit über 31 Millionen Menschen als arbeitslos registriert. 1985 erreichte die Zahl der registrierten Arbeitslosen in der Bundesrepublik mit 2,3 Millionen den höchsten Jahresdurchschnitt seit der Währungsreform und entsprach damit einer Arbeitslosenquote von ca. 10 Prozent. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit noch viel höher. Zu den offiziellen Arbeitslosen ist die sogenannte stille Reserve hinzuzuzählen. Die Bundesanstalt für Arbeit beziffert diese Gruppe auf 1,4 Millionen Männer und Frauen. Demnach beträgt der Gesamtumfang der Arbeitslosigkeit seit geraumer Zeit fast 4 Millionen. Die Gesamtkosten der Arbeitslosigkeit für Bund, Länder und Gemeinden sowie der Sozialversicherungsträger beliefen sich allein im Jahr 1984 auf 54 Mrd. DM. Neben dem relativ hohen Gesamtumfang der Arbeitslosigkeit ist auch ein hohes Maß an gesellschaftlicher Ungleichverteilung und Konzentration von Arbeitslosigkeit zu erkennen. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau haben den Prozeß der dauerhaften Ausgrenzung beschleunigt und verfestigt. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist erheblich angestiegen. Weiter zugenommen hat auch die Zahl der älteren Arbeitslosen und die der Jugendlichen ohne Arbeitsplatz. Schätzungen gehen davon aus, daß gegenwärtig eine Million Jugendliche ohne Ausbildung oder Arbeit sind.

Deutliche Tendenzen einer zunehmenden Spaltung des Arbeitsmarktes in einen wachsenden Sockel registrierter und verdeckter Arbeitslosigkeit und in „Nichtbetroffene“ werden sichtbar. Die Polarisierung der Arbeitsmarktchancen und die Leistungseinschränkungen im Zusammenhang mit der sozialen Demontagepolitik der Neokonservativen haben das Armutsrisiko erhöht. Armut unter Arbeitslosen ist heute zu einer bitteren Realität geworden. Über diese finanzielle Notlage hinaus bedeutet der Ausschluß aus dem Erwerbsleben für viele Arbeitslose auch den Verlust an sozialer Identität und gesellschaftlicher Kontakte; sie beeinträchtigt die Lebensplanungen und das psycho-soziale und körperliche Wohlbefinden der Betroffenen.

Die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise hat in den vergangenen Jahren nicht nur zu einer wachsenden Zahl von materiell nicht gesicherten Erwerbslosen, sondern auch auf breiter Front zu einem Rückgang der Realeinkommen geführt. Die Einkommensunterschiede zwischen Kapital und Arbeit haben sich zugunsten des Kapitals massiv verändert: Der auf die abhängig Beschäftigten entfallende Anteil am gesamten Volkseinkommen erreichte 1985 mit 67 Prozent den Wert von 1961. Der Rückgang der Realeinkommen und die vielfältigen Formen der sozialen Kürzungen führten zu erheblichen Belastungen der Arbeitnehmerhaushalte. Die Nettogewinne der Unternehmen dagegen verzeichneten in den letzten Jahren zweistellige Steigerungsraten; das Kursniveau der Aktien verdreifachte sich, die Geldvermögensbildung im In- und Ausland nahm sprunghaft zu.

Die beachtlichen Gewinnzunahmen der vergangenen Jahre haben allerdings kein entsprechend starkes Wachstum der Investitionen ausgelöst. Ohne die Beschäftigungswirkungen der Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 bzw. 38 Stunden in der Woche hätten sich die globalen Arbeitsmarktprobleme nochmals verschärft. Allein in der Metallindustrie hat die wöchentliche Arbeitszeitverkürzung über 100000 Arbeitsplätze gesichert und geschaffen.

Im Vordergrund der neokonservativen Sozialpolitik der vergangenen Jahre stand der Abbau des Sozialstaates durch die Umverteilung „von unten nach oben“, um Mittel freizumachen für eine kapitalorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Umverteilungspolitik der neokonservativen Bundesregierung verfährt nach der sogenannten „Hafer-Pferdeäpfel-Theorie“: Man muß den Pferden nur genügend Hafer zum Fressen geben, dann machen sie soviel Mist, daß davon auch die Spatzen nocht gut leben können. Insgesamt gilt: Die sozialen Benachteiligungen und Unterschiede sind durch die Politik der Bundesregierung verschärft worden. Am Ende steht die Zwei-Drittel-Gesellschaft mit all ihrem sozialen Sprengstoff, wie wir sie aus dem Land von Margret Thatcher kennen.

Verschärft werden die Verschlechterungen der sozialen Lage der Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen durch den strukturellen Umbruch der Wirtschafts- und Produktionsstrukturen. Durch das beschleunigte Eindringen der neuen Produktions- und Kommunikationstechniken in die Fabriken und Büros werden die Art der Arbeit und die beruflichen Anforderungen verändert sowie die Sicherheit der Arbeitsplätze von immer mehr Beschäftigten gefährdet. Gleichzeitig entstehen neue psycho-soziale und gesundheitliche Belastungen, ohne daß es zu einem gravierenden Rückgang der bisherigen Belastungen kommt, und neue Formen der elektronischen Kontrolle des Menschen treten hinzu. Es steht zu befürchten, daß sich vor dem Hintergrund der breiten Anwendung der neuen Techniken die Schere zwischen dem langsameren Produktionsanstieg und dem schnelleren Produktivitätszuwachs immer weiter öffnet. Auf mittlere Sicht dürfte das reale Wirtschaftswachstum bei einer jährlichen Durchschnittsrate von 2 bis 2,5 Prozent deutlich unter dem Anstieg der Produktivität je Beschäftigtenstunde liegen. Das Produktionswachstum wird also mit immer weniger Beschäftigten verwirklicht werden können. Wenn man tatenlos zuschaut, wenn man eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit verweigert, dann führt dieser Prozeß zwangsläufig zu einem weiteren drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Zehn Jahre Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und beschleunigte unternehmerische Rationalisierung haben soziale Ungerechtigkeiten, Chancenungleichheiten, zunehmende Armut in „alter“ und „neuer“ Form und die Mißachtung der Lebensinteressen breiter Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik bewirkt. Dies alles geschieht, obwohl das Sozialstaatsgebot die staatlichen Organe zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise nach dem Maßstab von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet.

Das Sozialstaatsprinzip als Verfassungsgebot

Das Grundgesetz bestimmt im Artikel 20 Abs. 1: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ und in Artikel 28 Abs. 1: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“ Diese positive Verfassungsentscheidung erhebt das Sozialstaatsprinzip zu unmittelbar geltendem Verfassungsrecht. Daraus ergibt sich das Recht und die Pflicht der Staatsorgane zu sozial gestaltender Tätigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen soziale Gerechtigkeit und soziale Strukturen nicht im Selbstlauf erreicht werden können.

Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Grundsatz in die Worte gefaßt: „Das Gebot des sozialen Rechtsstaates ist im besonderen Maße auf einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten zwischen dem Menschen ausgerichtet und dient zuvörderst der Erhaltung und Sicherung der menschlichen Würde, dem obersten Grundsatz der Verfassung… die freiheitliche demokratische Grundordnung … hat im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen; das Sozialstaatsprinzip soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit… verwirklichen.“

Das Grundgesetz verbietet damit eine unsoziale Gesellschaftsordnung. Verfassungsgebot ist vielmehr, jedem Gesellschaftsmitglied ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Die Tatsache, daß in der Bundesrepublik Deutschland eine lange Phase politischer und gesellschaftlicher Stabilität möglich war, hat seine Ursache unter anderem darin, daß über den „Verfassungskompromiß“ hinaus in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik zwischen den gesellschaftlichen Gruppen in den zentralen Fragen der gesellschaftlichen Ordnung -Wachstum, Fortschritt und aktive staatliche Sozialreform – weitgehend Übereinstimmung bestand. Die von den Gewerkschaften in diesem Zeitraum durchgesetzten sozialen Errungenschaften und die ab Mitte der sechziger Jahre eingeleitete Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik entsprachen dem Geist und der Zielsetzung des Verfassungsgebots.

Im gesamten Zeitraum haben sich die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert und teilweise angeglichen. Es ist der deutschen Gewerkschaftsbewegung gelungen, sozialstaatliche Leistungen zu verallgemeinern und für alle durchzusetzen, um so den Menschen ein angemessenes Leben zu ermöglichen.

Trotz aller Widersprüchlichkeiten, denn der Gegensatz von Arbeit und Kapital wurde auch dadurch nicht aufgehoben, erwies sich die Kombination von Wachstums- und Wirtschaftspolitik und der Ausbau des Sozialstaates als tragfähige Basis des gesellschaftlichen Kompromisses. Die politische und gesellschaftliche Ordnung schien bis Anfang der achtziger Jahre, wenn auch mit Einschränkungen, erstmals die Forderungen der Arbeitnehmer nach Vollbeschäftigung und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ernst zu nehmen.

Die neokonservative Strategie: Spaltung der Gesellschaft

Seit Beginn der achtziger Jahre deutet sich in dieser Entwicklung ein tiefer Einschnitt an. Die politischen Reaktionen von Arbeitgebern und neokonservativer Politik auf die Veränderungen im Gefolge der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise sind Zeichen für einen Bruch mit der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung der jüngeren Vergangenheit. Seit geraumer Zeit erleben wir in der Bundesrepublik den Versuch, das soziale Sicherungssystem entsprechend den marktradikalen Grundsätzen des Neokonservatismus umzugestalten. Der Sozialstaat wird abgebaut und das bestehende Niveau sozialstaatlicher Eingriffe in die Wirtschaft drastisch zurückgenommen. Neokonservative Politiker und Arbeitgeber wollen das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, insbesondere das System der sozialen Sicherung dem Marktmechanismus unterordnen und die bestehenden demokratischen Ansprüche zurückdrängen:

– Im Rahmen einer ordnungspolitischen Strategie soll über den Abbau von tariflichen und gesetzlichen Arbeitnehmerschutzrechten und über eine Flexibilisierung und Deregulierung von Arbeitsbedingungen und -verhältnissen den Prinzipien der Konkurrenz zum breiten Durchbruch verholfen werden. Das Kernstück dieser Politik ist das Beschäftigungsförderungsgesetz; in die gleiche Richtung wirken die Verschlechterungen des Jugendarbeitsschutzes und die Einschränkungen des besonderen Kündigungsschutzes der Schwerbehinderten. Dabei werden arbeitsmarktbedingte Diskriminierungen nicht beseitigt, sondern vorhandene noch vertieft und neue hinzugefügt, indem der Gesetzgeber für unterschiedliche Beschäftigungsgruppen unterschiedliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses trifft.

– Parallel zu der Einschränkung des Sozialstaats und der Absenkung des Einkommensniveaus steht der Angriff der neokonservativen Regierung und der Unternehmerverbände auf die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte.

Im Verhältnis von Arbeit und Kapital will die neokonservative Regierung eine strukturelle Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals herbeiführen. Während der Abbau der tariflichen und gesetzlichen Arbeitnehmerschutzrechte auf eine schleichende Aushöhlung des Anspruchs auf ein „Normalarbeitsverhältnis“ zielt, wird mit der Änderung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz beziehungsweise mit den in Aussicht genommenen Gesetzgebungsmaßnahmen (z. B. Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes) die Aushebelung des gesamten Systems der industriellen Beziehungen angestrebt – mit der Absicht, die Handlungsfähigkeit und -möglichkeiten der Gewerkschaften innerhalb und außerhalb des Betriebes einzuschränken.

Die Neokonservativen betreiben die Spaltung der Gesellschaft und verstärken damit die Tendenz zu größeren gesellschaftlichen Ungleichheiten. Durch ihre Politik beschleunigen sie die soziale Desintegration der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Nicht Gleichheit und Sicherheit für alle stellen die sozialen Ziele staatlicher Politik dar, sondern mehr Ellenbogen und mehr Konkurrenz.

Die Gewerkschaften verteidigen den Sozialstaat

Mit der Verteidigung des Sozialstaates stellen die Gewerkschaften der neokonservativen „Konkurrenzgesellschaft“ das Ziel der „solidarischen Gesellschaft“ entgegen. Sie wollen allen Menschen ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben ermöglichen und die sozialen und politischen Voraussetzungen schaffen, damit die Mehrheit der Bevölkerung am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und die Grundrechte wahrnehmen kann. Dabei wissen sich die Gewerkschaften im Einklang mit der Verfassung, wenn sie die neokonservative Politik mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Sie befinden sich in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, wenn sie

– die Verantwortung des Staates für die Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Umweltpolitik hervorheben;

– zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht die Ausweitung der Mitbestimmung und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz, im Betrieb, im Unternehmen und in der Gesamtwirtschaft fordern;

– zur sozialen Beherrschung und Steuerung der neuen Technologien, zur menschengerechten Gestaltung der Produktivitätsverhältnisse eine zukunftsgerichtete und humane Technologiepolitik verlangen;

– für eine solidarische Sozial- und Gesellschaftspolitik zur Verhütung und zum Ausgleich materieller und nichtmaterieller Ungleichheit kämpfen und die Herstellung von einheitlichen Lebensverhältnissen fordern;

– für die Arbeitszeitverkürzung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Schaffung größerer individueller Freiheiten eintreten;

– die Koalitionsfreiheit und die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte verteidigen.

 

Vorstellungen der IG Metall zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise

Die zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe der Gewerkschaften ist der entschlossene Kampf für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, gegen Sozialabbau und für die Demokratisierung der Wirtschaft mit dem Ziel, ausreichend Arbeitsplätze und interessante Arbeitsbedingungen für alle zu schaffen. Die Beschleunigung des qualitativen Wachstums, die soziale Beherrschung der Produktivitätsentwicklung, der Kampf für eine gerechte Verteilung der vorhandenen Arbeit durch eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden in der Woche mit vollen Lohnausgleich und die Umverteilung des Volkseinkommens zugunsten der Arbeitnehmer und sozial Schwachen in der Gesellschaft sind auch weiterhin die Kernpunkte unserer politischen Strategie.

Für uns gibt es zwischen der Verwirklichung der Vollbeschäftigung und ökologischer Belange keinen Gegensatz. Unser Ziel ist es, eine Synthese zwischen Ökologie und Ökonomie herbeizuführen. Mit dem DGB fordert die IG Metall beschäftigungspolitische Initiativen, die Umweltschutz und qualitatives Wachstum gemeinsam verwirklichen. Wir haben uns im DGB-Programm „Umweltschutz und qualitatives Wachstum“ darüber hinaus dafür ausgesprochen, Umweltschutzinvestitionen vorrangig durch strenge bundeseinheitliche Auflagen, Gebote, Verbote und Abgaben unter Beachtung des Verursacher- und Vorsorgeprinzips anzuregen. Außerdem verlangen wir, daß alle ökonomischen Entscheidungen stärker an ökologischen Kriterien ausgerichtet werden, weil nur so die fortgesetzte Zerstörung der Lebensgrundlagen aufgehalten und vorhandene Schädigungen beseitigt werden können.

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Krise und die soziale Beherrschung der Produktivitätsentwicklung sind nur zu bewältigen, wenn die Beteiligung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften am Wirtschaftsprozeß erweitert wird. Die IG Metall unterstreicht nochmals die Forderung nach paritätischer Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb, im Unternehmen und in der Gesamtwirtschaft als wichtigen Bestandteil einer umfassenden demokratischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Mitbestimmung auf allen Ebenen des Wirtschaftsprozesses stellt darüber hinaus eine wichtige institutionelle Voraussetzung für eine beschäftigungssichernde und bedarfsorientierte Reformpolitik dar.

In unserem Konzept zur sozialen und demokratischen Bewältigung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise spielt neben der beschäftigungssichernden Wirtschafts- und Finanzpolitik die Tarifpolitik eine zentrale Rolle. Die IG Metall hat 1984 gegen den konzentrierten Widerstand von „Kabinett und Kapital“ im schwersten Arbeitskampf der Nachkriegsgeschichte mit der Durchsetzung der 38,5- bzw. 38-Stunden-Woche den ersten Schritt zur 35-Stunden- Woche mit vollem Lohnausgleich durchgesetzt. Mit der Arbeitszeitverkürzung sind über hunderttausend Arbeitsplätze allein in der Metallindustrie neu geschaffen oder gesichert worden. Die IG Metall hat mit den Arbeitszeittarifverträgen ihre Fähigkeit zur solidarischen und demokratischen Bewältigung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise erneut unter Beweis gestellt. Die beschäftigungssichernde Wirtschafts- und Finanzpolitik und die aktive Tarifpolitik sind auch weiterhin die zuverlässigen Instrumente zur Sicherung und Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen.

Die neuen Produktions-, Informations- und Kommunikationstechniken sind flexibel und vielschichtig anwendbar. Dieses Flexibilitätspotential der neuen Techniken kann entweder dazu benutzt werden, den Menschen in eine totale Abhängigkeit des unternehmerischen Gewinnstrebens zu bringen oder man kann es zur Anreicherung und Bereicherung der menschlichen Arbeit einsetzen.

Will man letzteres erreichen, dann müssen die Gewerkschaften Einfluß nehmen sowohl auf die Technikentwicklung als auch auf die Technikanwendung.

In der dem 15. Ordentlichen Gewerkschaftstag vorliegenden Entschließung „Rationalisierung und technischer Wandel“ betont die IG Metall, daß die Erreichbarkeit dieser Zielsetzung von der Reichweite und Qualität sozialstaatlicher und ökologisch verantwortlicher Politik und den Möglichkeiten der Arbeitnehmer, über Inhalte und Ziele zukünftiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung mitzubestimmen, abhängt. Die IG Metall hat deshalb das Aktionsprogramm „Arbeit und Technik – der Mensch muß bleiben“ verabschiedet. In diesem Programm sind unsere Prinzipien für die sozial und umweltverträgliche Gestaltung von Arbeit und Technik festgelegt. Von ihm gehen schon heute entscheidende Impulse für die humane und solidarische Gestaltung der Arbeit in der Metallwirtschaft aus.

Im Mittelpunkt der neokonservativen Politik der zurückliegenden Jahre stand der massive Sozialabbau. Die IG Metall wird einer weiteren Verschlechterung der Lebenslage und einer fortgesetzten Zerstörung des Sozialstaates, insbesondere einer nochmaligen Aufweichung von Arbeitnehmerrechten entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Wir wenden uns gegen jede Form der Privatisierung sozialer Risiken. Die IG Metall fordert eine solidarische Sozialpolitik. Dazu gehört der Kampf gegen die sich ausbreitende Armut und für die Reform der einzelnen Sicherungssysteme. Die Gewerkschaften haben zur Sicherung und zum weiteren Ausbau zahlreiche Vorschläge gemacht (z. B. Ergänzungsabgabe, Arbeitsmarktbeitrag von Beamten und Freiberuflern usw.).

Sicherung und Ausbau der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte

Eine solidarische Arbeitnehmerpolitik mit einer Zukunft für alle wird sich politisch nur dann durchsetzen lassen, wenn die Gewerkschaften gegen die Angriffe der neokonservativen Politik und der Unternehmer verteidigt werden können. Die Substanz des Sozialstaates kann nur erhalten werden, wenn der Kampf um Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführt wird. Deshalb muß das Streikrecht verteidigt und gesichert werden! In der Entschließung des Vorstandes heißt es: „Neben der unverzichtbaren Korrektur der Änderung des § 116 AFG bedarf es . . . unverzüglicher gesetzlicher Schritte. Der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag fordert die sofortige Verabschiedung eines ,Ersten Gesetzes zur Sicherung des Streikrechts’“.

Die Aussperrung muß verboten werden; die Gerichte sind aufgefordert, ihre bisherige streikfeindliche Rechtsprechung zu korrigieren. Der Schrecken der kalten Aussperrung muß ein Ende haben. Die bloße Wiederherstellung des alten § 116 AFG reicht hierzu nicht aus.

Die soziale Demokratie und die solidarische Bewältigung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise ist ohne starke Gewerkschaften nicht möglich. Wer den Gewerkschaften ihre Rechte nehmen bzw. einschränken will, der legt die Axt an den Lebensbaum der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland.

Wenn die Gewerkschaften einen weiteren Machtgewinn der Arbeitgeber und der neokonservativen Politik verhindern und die Zukunft gestalten wollen, dann müssen sie die betriebliche und politische Mobilisierung verstärken und ökonomischen und politischen Druck ausüben. Hauptansatzpunkt bleibt dabei der Betrieb. Dies ist unser originäres Handlungsfeld, für das die Gewerkschaften einen Alleinvertretungsanspruch reklamieren. Wenn wir im Betrieb stark sind, werden wir auch in der Lage sein, einen gesellschaftspolitischen Anspruch zu formulieren und eine politische Mobilisierung zu erreichen. Darüber hinaus müssen wir uns viel stärker in die Politik einmischen, denn der Weg zu einer arbeitsorientierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und zu gesellschaftlichen Reformen wird nur gegen den Widerstand der Neokonservativenund durch die breite Mobilisierung der Arbeitnehmer möglich sein.

Hierzu ist eine umfassende Politisierung der Gewerkschaftsarbeit notwendig.

Wir kämpfen dabei nicht für oder gegen eine bestimmte politische Partei, sondern wir nehmen Partei für oder gegen eine bestimmte Politik.

Wer die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland wahren und ausbauen will, wer die Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte verteidigen und sichern will, der muß das Prinzip der Einheitsgewerkschaft verteidigen. Auf der Grundlage der Einheitsgewerkschaft kämpfen die in der IG Metall zusammengeschlossenen Arbeitnehmer für eine solidarische Gesellschaft und fürein friedliches Miteinander der Menschen in der Welt.

Von der weltpolitischen Konfrontation zur Kooperation

Die deutschen Gewerkschaften verurteilen die trotz Wirtschaftskrise und Massenelend weiter anwachsenden Rüstungsaufwendungen. Denn Rüstung tötet nicht nur im Krieg. Die Hungernden und Sterbenden in den Ländern der Dritten Welt und die Millionen Arbeitslosen auf der ganzen Welt zahlen den Preis für die Milliardenbeiträge, die alljährlich für militärische Zwecke aufgewendet werden. Diese Milliarden fehlen für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für den Umweltschutz und für die Sozialpolitik. Deshalb fordern wir aus sicherheitspolitischen und ökonomischen Gründen eine neue Verteidigungsstrategie, die das Kriegsrisiko vermindert und die Rüstungsausgaben senkt.

Wir wollen, daß die zunehmende Konfrontation durch eine neue Phase der Entspannungspolitik beendet wird. Die IG Metall fordert eine allgemeine und kontrollierte Abrüstung in Ost und West, die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa und das weltweite Verbot aller biologischen und chemischen Waffen. Nicht Konfrontation, sondern Kooperation ist das Leitmotiv in der Sicherheitspolitik.

Die IG Metall lehnt deshalb die von den beiden Supermächten betriebene Entwicklung und Erprobung von Waffen für den Weltraum ab. Wir verlangen von den USA und der UdSSR, daß sie ihre technischen Anstrengungen zur Entwicklung und Anwendung militärischer Systeme im Weltraum einstellen und stattdessen einen Beitrag zur Überwindung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise in den Industrieländern bzw. des Massenelends in der Dritten Welt leisten.

Die IG Metall lehnt die Ausweitung von Rüstungsexporten ab. Die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie können weder durch vermehrte Rüstungsproduktion noch durch mehr Rüstungsexporte gesichert werden. Nur konsequente Produktionsumstellungen können die Abhängigkeit von Rüstungsaufträgen vermindern und Arbeitsplätze sichern helfen. Dazu hat die IG Metalleine Reihe von Konversionsvorstellungen entwickelt.

Die Gewerkschaften wissen, daß innerer und äußerer Frieden sich wechselseitig bedingen. Frieden, Entspannung und Abrüstung sind nur möglich, wenn in der Gesellschaft die Menschenrechte gewahrt und das Zusammenleben nach den Prinzipien der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit organisiert ist.

Der gewerkschaftliche Kampf für eine solidarische Gesellschaft ist immer auch ein Kampf für ein friedliches und solidarisches Miteinander der Menschen in der Welt.

Diese Grundwerte und Ziele werden auch weiterhin die Politik der IG Metall bestimmen. Der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall wird auf dieser Basis seine Beratungen durchführen und Wege für eine solidarische Arbeitnehmerschaft aufzeigen.

 

Quelle: 586 GMH 10/86

Franz Steinkühler, geb 1937 in Würzburg, Lehre als Werkzeugmacher, war von 1961 bis 1963 Geschäftsführer der IG Metall in Stuttgart und Schwäbisch Gmünd, von 1963 bis 1972 Bezirkssekretär und danach bis 1983 Bezirksleiter des IG Metall-Bezirks Stuttgart. Im Oktober 1983 wurde er zum Zweiten Vorsitzenden seiner Gewerkschaft gewählt. Im Oktober 1986 verzichtete Mayr aus Altersgründen darauf, sich wieder zu Wahl zu stellen, und Steinkühler wurde zum Vorsitzenden gewählt. Als Chef der IG Metall zeigte Steinkühler in den Tarifverhandlungen durchaus Kompromissbereitschaft. Gleichwohl gelang ihm 1990 die gestaffelte Einführung der 35-Stunden-Woche. Steinkühler wurde als Vorsitzender der IG Metall 1989 und 1992 wiedergewählt. Im Mai 1993 geriet er jedoch in Verdacht, seine Position als Aufsichtsratsmitglied der Daimler-Benz AG für Insidergeschäfte ausgenutzt zu haben. Unter dem Eindruck der Kritik trat er am 25. Mai 1993 vom Posten des IG Metall-Vorsitzenden zurück. Zu seinem Nachfolger wurde Klaus Zwickel gewählt.