Zehn Irrtümer in Sachen Arbeitszeit

Von Regina Steiner

Arbeitgebervertreter fordern schon länger flexible Arbeitszeiten. Jetzt ist mit dem Statement des Vorsitzenden der Wirtschaftsweisen die Debatte neu entfacht. Anlass, einmal zehn häufige Irrtümer in Bezug auf die Arbeitszeit auszuräumen.

Der Vorsitzende der fünf Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, hält es für veraltet und antiquiert, dass nach Verlassen der Firma zum Arbeitsschluss der Arbeitstag endet.1 Es sei selbstverständlich, dass man weiterhin auf E-Mails reagiert oder an Telefonkonferenzen teilnimmt. Deshalb findet er das bestehende Arbeitszeitgesetz viel zu unflexibel und fordert Veränderungen. Seit seinen Äußerungen wird in den Medien heftig darüber diskutiert wie flexibel unser Arbeitszeitrecht ist.

Irrtum Nr. 1: Die Erhöhung des Arbeitstags auf 10 Stunden ist nur ausnahmsweise möglich.

Das Arbeitszeitgesetz erlaubt es, den Arbeitstag ohne besonderen Anlass bis zu 10 Stunden zu verlängern. Allerdings muss in einem Zeitraum von sechs Monaten oder 24 Wochen eine durchschnittliche werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden eingehalten werden (§ 3 ArbZG). Dabei darf man nicht vergessen, dass das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) auch den Samstag als Werktag ansieht. Die gesetzliche Grundlage zur Gestaltung der Arbeitszeit ist damit sehr flexibel und im Hinblick auf den Gesundheitsschutz sehr bedenklich. Das ArbZG erlaubt es, einen Beschäftigten vier Monate ununterbrochen 60 Stunden die Woche arbeiten zu lassen. Die verbleibende Zeit bis zur 24. Woche würde genügen, den Durchschnitt von 48 Stunden pro Woche durch eine entsprechende Arbeitszeitreduzierung zu erreichen. Den Wünschen der Arbeitgeberseite wird in den Unternehmen einerseits durch Tarifverträge Einhalt geboten, die andere, bessere Vorgaben, enthalten. Andererseits üben Betriebsräte ihre Mitbestimmung bei der vorrübergehende Verlängerung der Arbeitszeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG) im Interesse der Beschäftigten aus und schützen dadurch Beschäftigte vor Überarbeitung.

Irrtum Nr. 2: Verstößt der Arbeitgeber gegen die 10-Stunden-Regel, kann der Betriebsrat vor das Arbeitsgericht ziehen.

  Trotz der großen Flexibilität die das ArbZG bietet, kommt es in den Betrieben regelmäßig vor, dass die Höchstarbeitszeit von 10 Stunden überschritten wird. Bestimmte Aufträge müssen unbedingt fertig werden. Die Beschäftigten arbeiten über die Grenzen von 10 Stunden pro Arbeitstag hinaus, ohne dass der Arbeitgeber einschreitet. Die Betriebsräte erfahren dies oftmals erst, wenn sie die Arbeitszeitaufzeichnung auswerten.

Der Arbeitgeber hat in jedem Fall dafür zu sorgen, dass das ArbZG in seinem Betrieb eingehalten wird. Er kann sich nicht auf die Position zurückziehen, er habe die Arbeitszeit nicht angeordnet. Obwohl hier ein klarer Verstoß gegen § 3 ArbZG vorliegt, wird der Betriebsrat vor den Arbeitsgerichten keine Hilfe bekommen. Denn ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren ist immer nur dann möglich, wenn der Arbeitgeber gegen die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats verstoßen hat und die AngeleVorherige Seite23Nachfolgende Seitegenheit gesetzlich nicht abschließend geregelt ist. Eine Überschreitung der Höchstarbeitszeit ist verboten und damit bleibt kein Raum für Mitbestimmungsfragen. Dem Betriebsrat bleibt nur der Gang zur zuständigen Aufsichtsbehörde. Diese kann gegen den Arbeitgeber ein Bußgeldverfahren einleiten.

Irrtum Nr. 3: Die Ruhezeit wird nicht unterbrochen, wenn man nur mal kurz vor dem Schlafengehen die Mails checkt.

Das ArbZG schreibt vor, dass Beschäftigte nach Beendigung ihrer täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden einhalten müssen (§ 5 ArbZG).2 Diese Regelung ist den Arbeitgebern ein besonderer Dorn im Auge. Und es gibt durchaus gewerkschaftsnahe Arbeitszeitberater, die diese Vorschrift ebenfalls in Frage stellen.

Im Sinne eines wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutzes hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Urteil ausgeführt, dass Ruhezeit nur dann vorliegt, wenn der Arbeitnehmer frei über seine Zeit verfügen kann. Er erhält nur dann einen Ausgleich für die durch Arbeit hervorgerufene Ermüdung, wenn er sich aus dem betrieblichen Zusammenhang vollständig zurückziehen kann.3 Wer nach Feierabend noch online ist und sei es auch nur für kurze Zeit, zieht sich nicht vollständig von der Arbeit zurück. Beim Lesen von E-Mails ist man mit den Anforderungen und Problemen der Arbeit konfrontiert und wird sofort über Lösungsmöglichkeit und Strategien nachdenken. Das unterbricht die Ruhezeit.

Irrtum Nr. 4: Pausenzeiten können spontan auf Zuruf durch den Arbeitgeber angeordnet werden.

In einigen Branchen ist der Arbeitsanfall über den Tag verteilt nicht unbedingt vorauszusehen. Das ist insbesondere im Einzelhandel oder in anderen Branchen, die mit unterschiedlichem Kundenaufkommen zu tun haben, der Fall. Die Arbeitgeber möchten die Zeiten mit wenig Arbeitsanfall nutzen, um die erforderlichen Pausen zu gewähren. Unzulässig ist es aber, wenn der Beschäftigte nicht spätestens zu Beginn seiner Schicht seine Pausenzeiten kennt. Pausen sind im Voraus feststehende Unterbrechungen der Arbeit, in denen der Beschäftigte weder Arbeit zu leisten hat, noch auf Abruf bereit stehen muss. Er kann über diese Zeit frei verfügen.4 Es ist nicht zulässig, dem Beschäftigten auf Zuruf die Pause zuzuteilen.

Irrtum Nr. 5: Arztbesuche zählen (nicht) als Arbeitszeit

Die Frage, ob Arztbesuche während der Arbeitszeit wie Arbeitszeit zu vergüten sind, gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. Grundsätzlich muss ein Beschäftigter seine Arztbesuche in seine Freizeit legen. Handelt es sich jedoch um eine akute Erkrankung, kann der Beschäftigte selbstverständlich einen Arzt aufsuchen und erhält nach Entgeltfortzahlungsgesetz für diese Zeit seine Vergütung weiter. Manchmal muss ein Arzt jedoch zu einer bestimmten Zeit aufgesucht werden ohne dass eine akute Erkrankung vorliegt. Beispielsweise, weil der Facharzt den Termin einfach vorgibt. Dann kommt – sofern ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung nichts anderes bestimmt – eine Vorschrift aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zur Anwendung (§ 616 BGB). Danach hat der Arbeitgeber das Entgelt für die Zeit des Arztbesuches weiter zu zahlen.

Irrtum Nr. 6: Bei Vertrauensarbeitszeit ist die Kontrolle der Einhaltung des ArbZG nicht möglich.

Unter Vertrauensarbeitszeit wird die Arbeitszeit verstanden, bei der sich der Beschäftigte die Arbeitszeit innerhalb der im Betrieb geltenden Regeln und der gesetzlichen Vorschriften frei einteilen kann. Vertrauensarbeitszeit bedeutet nicht, dass die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit oder die wöchentliche Arbeitszeit nach einem Tarifvertrag nicht mehr gilt. In der Praxis führt die Vertrauensarbeitszeit allerdings dazu, dass die Beschäftigten im Ergebnis mehr arbeiten als sie müssten. Ohne Wenn und Aber sind dabei die Grenzen des ArbZG einzuhalten. Dort ist in § 16 Abs. 2 ArbZG geregelt, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, alle Arbeitszeit, die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgeht, aufzuzeichnen.

Verschiedentlich wird die Ansicht vertreten, dass täglich lediglich das Volumen der Arbeitszeit, das über acht Stunden hinaus geht, notiert werden muss. Beginn und Ende der Arbeitszeit hingegen müssten nicht doVorherige Seite24Nachfolgende Seitekumentiert werden. Der Streit darüber kann aber offen bleiben. Denn der Betriebsrat hat jedenfalls das Recht und die Pflicht die Einhaltung des ArbZG zu überwachen. Deshalb sind ihm auf Verlangen Beginn und Ende der Arbeitszeit, so wie die Lage der Pausen für jeden einzelnen Arbeitnehmer mitzuteilen. Dies gilt auch für Arbeitnehmer in Vertrauensarbeitszeit. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass der Arbeitgeber diese Pflicht auch dann hat, wenn er versäumt hat, für Beschäftigte in Vertrauensarbeitszeit entsprechende Dokumentationen zu führen. Es ist schlicht seine Pflicht, diese Auskünfte zu beschaffen.5

Irrtum Nr. 7: Bei Nachtarbeit werden nur im Geltungsbereich eines Tarifvertrags Zuschläge bezahlt.

Tarifverträge regeln üblicherweise, dass für Arbeitsstunden, die nachts geleistet werden, Zuschläge zu zahlen sind. Nach dem ArbZG liegt die Nachtarbeit im Zeitraum von 23.00 Uhr bis 6 Uhr, für Bäckereien und Konditoreien von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr. Auch in Betrieben, in denen kein Tarifvertrag gilt, müssen Zuschläge bezahlt oder wahlweise ein angemessener Freizeitausgleich gewährt werden. Die ergibt sich aus § 6 Abs. 5 ArbZG. Das BAG hält einen Zuschlag in Höhe von 25 Prozent für angemessen. Bei Dauernachtarbeit erhöht sich dieser auf 30 Prozent.6

Irrtum Nr. 8: Überstunden sind immer mit einem Zuschlag zu bezahlen.

Immer mehr Berufstätige machen Überstunden. Viele arbeiten dabei bis zur völligen Erschöpfung. Sie schaden ihrer Gesundheit und bekommen die Überstunden oft noch nicht einmal vergütet. Zahlen belegen das. Im Jahr 2016 leisteten Beschäftigte in der Bundesrepublik 1,813 Milliarden Überstunden, davon wurde nur die Hälfte bezahlt.7 Trotz dieser hohen Zahl von Überstunden kennt das ArbZG keinen Rechtsanspruch auf Überstundenzuschläge. Es gibt nur eine Vorschrift für Nachtarbeitszuschläge. Der Arbeitgeber bekommt die Überstunde zum gleichen Preis wie jede andere Arbeitsstunde. Werden Überstundenzuschläge gezahlt, liegt der Zahlung meist ein Tarifvertrag zu Grunde oder der Arbeitgeber leistet diese freiwillig.

Irrtum Nr. 9: Arbeiten Teilzeitbeschäftigte mehr als die vereinbarte Arbeitszeit, erhalten sie dafür Überstundenzuschläge.

Tarifverträge regeln in den meisten Fällen, dass Überstundenzuschläge erst zu zahlen sind, wenn die Regelarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten überschritten wird.8 Das bedeutet, dass der Teilzeitbeschäftigte zwar Entgelt für die Stunden erhält, die er über seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus leistet. Überstundenzuschläge erhält er erst dann, wenn er auch über die regelmäßige Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten hinaus arbeitet. Darin liegt keine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten. Diese ist erst gegeben, wenn Teilzeitbeschäftigte schlechter bezahlt würden als ein Vollzeitbeschäftigter.9 Es muss deshalb der jeweils anzuwendende Tarifvertrag geprüft werden, um die Frage nach Mehrarbeitszuschlägen in Teilzeit zu beantworten.

Irrtum Nr. 10: Es gibt keinen Anspruch für Teilzeitbeschäftigte in die Vollzeit zurückzukehren.

In § 9 TzBfG ist geregelt, dass Teilzeitbeschäftigte bei der Besetzung einer Vollzeitarbeitsstelle bevorzugt zu berücksichtigen sind, wenn sie die entsprechende Eignung für die Stelle aufweisen. Zuvor müssen sie dem Arbeitgeber anzeigen, dass sie wieder in Vollzeit arbeiten möchten. Solange die zu besetzende Stelle noch frei ist, besteht durchaus ein Rechtsanspruch des Teilzeitbeschäftigten auf diese Stelle. Das BAG hat entschieden, dass dieser Rechtsanspruch mit der Besetzung der freien Stelle untergeht.10 Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber sich bewusst über den Rechtsanspruch nach § 9 TzBfG hinwegsetzt. Ab diesem Moment besteht nur noch ein Anspruch auf Schadensersatz. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Stelle zur Verfügung gestellt werden muss. Der Teilzeitbeschäftigte hat dann Anspruch auf die Differenz zwischen dem Vollzeit- und dem Teilzeitentgelt als Schadensersatzzahlung.11 Der Betriebsrat kann der Besetzung der Stelle nach § 99 BetrVG widersprechen, weil der Teilzeitbeschäftigte benachteiligt wird.

 

 

Der Artikel erschien zuerst in "Arbeitsrecht im Betrieb" –  2/2018 - Bund-Verlag 

GmbH, Heddernheimer Landstraße 144, 60439 Frankfurt am Main - www.aib-web.de 

und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt.

Bild: pixabay

 

 

Anmerkungen:

·       [1] ·       Spiegel online 12.11.2017.

 

·       [2] ·       Davon gibt es für Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen, Gaststätten, Hotels, Verkehrsbetriebe, Landwirtschaft und Rundfunk gesetzliche Ausnahmen.

 

·       [3] ·       EuGH 9.3.2003 – C-151/02 ( Jaeger).

 

·       [4] ·       BAG 16.12.20095 AZR 157/09.

 

·       [5] ·       BAG 6.5.20031 ABR 13/02.

 

·       [6] ·       BAG 9.12.201510 AZR 423/14, AiB 4/2016, S. 6263.

 

·       [7] ·       Zeit online 12.6.2016.

 

·       [8] ·       So z. B. der MTV Nahrung-Genuss-Gaststätten, BAG 10 AZR 589/15, auch der MTV Groß- und Außenhandel Nordrhein-Westfalen u.v.m.

 

·       [9] ·       BAG 16.6.20045 AZR 448/03.

 

·       [10] ·       BAG 18.7.20179 AZR 259/16.

 

·       [11] ·       BAG 16.9.20089 AZR 781/07, AiB 6/2009, S. 381385.